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"Der Humor ist der Zucker des Lebens"

"Man muss lachen, sonst ärgert man sich", sagt die französische Schriftstellerin Marie-Aude Murail. Trotz harter Themen, wie Krankheiten oder häuslicher Gewalt, spielt der Humor in ihren Romanen eine wichtige Rolle.

Marie-Aude Murail im Gespräch mit Tanya Lieske |
    Tanya Lieske: Madame Murail, herzlich willkommen im Büchermarkt!

    Marie-Aude Murail: Bonjour a tout le monde!

    Lieske:Frau Murail, Simpel hat Sie in Deutschland sehr berühmt gemacht, Sie haben dafür den Prix des Lyceens allemands bekommen und den Jugendliteraturpreis, und auf einmal war Ihr Name in aller Munde. In Frankreich hatten Sie da aber schon sehr viele Bücher veröffentlicht und waren eine sehr berühmte Schriftstellerin, wie erklären Sie sich diese Verzögerung?

    Murail: Der Durchbruch kam tatsächlich mit "Simpel", aber man hat meine Bücher auch schon davor in den Schulen gelesen, vor allem "Babysitter-Blues". Ich war 15 Jahre lang an deutschen Schulen zu Gast, und ich kenne die deutschen Schüler gut. Also, es hat Zeit gebraucht, und dann waren die Preise für mich eine schöne Anerkennung für viele Jahre intensiver Begegnung. Ich habe mich in Deutschland immer sehr willkommen und sehr schnell auch wohlgefühlt.

    Lieske: Sie schreiben in Frankreich für Kinder und für Erwachsene, welcher Bereich ist Ihnen wichtiger?

    Murail: Ich schreibe für die Erwachsenen, die noch Kind geblieben sind. So wie Antoine de Saint-Excupéry, der seinen kleinen Prinzen mit folgender Widmung versehen hat: "Für Léon Werth, als er noch ein kleiner Junge war." Ich schreibe also für alle, die sich erinnern, und die in sich das Herz eines Jugendlichen tragen. Ich mache keine Unterschiede zwischen meinen Lesern! Mittlerweile gibt es auch Erwachsene, die mit meinen Büchern groß geworden sind. Früher habe ich, wenn ich in Paris auf der Buchmesse gelesen habe, zu meinen Lesern hinabgeschaut, heute muss ich aufblicken. Manchmal haben die Erwachsenen noch eine kleine Schwester oder einen Bruder mit im Schlepptau, manchmal sind es auch junge Eltern oder Lehrer, die mich früher gelesen haben. Das ist für mich eine echte Offenbarung! Da habe ich bei mir zuhause auf dem Boden gesessen und meine Bücher in ein Heft geschrieben, und heute kommen die Leute zu mir und sagen: Das hat mir geholfen, erwachsen zu werden!

    Lieske: Das ist eigentlich das schönste Kompliment, das man bekommen kann als Autorin für Kinder und Jugendliche!

    Murail: Ja, ich bin mit anderen Menschen herangewachsen, und die haben mich nicht vergessen! Manchmal werde ich gefragt, warum ich für Kinder schreibe, jetzt habe ich die Antwort. Das soll jetzt nicht anmaßend klingen! Aber ich weiß genau, ich habe den Kindern von damals etwas gegeben, was sie nicht vergessen werden. Sie waren noch ganz unbelastet, und mein Buch hat einen sehr starken Eindruck hinterlassen.

    Lieske: Simpel ist ein Buch, in dem ein geistig behinderter Mensch die Hauptfigur ist, sein jüngerer Bruder kümmert sich um ihn, die beiden ziehen in eine Wohngemeinschaft. Ein Buch, in dem es um Gemeinschaft geht, um den Respekt vor Behinderung. Sie ergreifen auch in ihren übrigen Romanen gerne das Wort für Außenseiter, für Kinder, Kranke und Alte, für Homosexuelle, und Menschen, die nicht so gut wegkommen, warum ist Ihnen das wichtig?

    Murail: Das Schreiben strengt mich sehr an. Und ich brauche eine große Motivation, um mich an die Arbeit zu machen. Deshalb will ich mich mit einer Person beschäftigen, die mir ähnlich ist, mit einem Menschen, der am Rand steht. Das heißt nicht, dass er ausgeschlossen ist, ich fühle mich ja auch ganz als Teil dieser Welt und dieser Gesellschaft. Man kann sich das vorstellen wie die Seite eines Buchs: Ich stehe am Rand, aber ich gehöre doch auf die Seite. Für meine Bücher brauche ich diese Randfiguren. Manchmal schreibe ich sogar aus ihrer Warte, um mich ganz und gar zu identifizieren. Bei Simpel zum Beispiel bin ich der Idiot, ich habe ihm sogar meinen Familiennamen gegeben, "Maluri", das sind die gleichen Buchstaben wie "Murail". In "Halb und halb für drei" bin ich der Homosexuelle, in "Über kurz oder lang" bin ich der Junge, der in der Schule versagt, in meinem neuen Buch "So oder so ist das Leben" bin ich das Mädchen, das abtreiben wird. Ich bin all diese verschiedenen Figuren mit ihrem Leiden, und mit ihnen finde ich meinen Platz in der Welt.

    Lieske: Steht dahinter nicht auch eine Haltung, die in Deutschland etwas schief angesehen wird, nämlich die des engagierten Schriftstellers, der écrivaine engagée?

    Murail: Also, ich würde sogar noch eins draufsetzen und behaupten, dass ich eine Moralistin bin! Und ich brauche ausschließlich meinen Humor, um meine Werte zu vermitteln.

    Lieske: Das sieht man auch ganz gut in den beiden Romanen, die in Deutschland zuletzt erschienen sind, "Über kurz oder lang" und ganz frisch: "So oder so ist das Leben." In beiden Romanen findet man viel Typisches. Es geht turbulent zu, viel Komik, etwas Tragik. Hier ist es der 14-jährige Louis, der entgegen der Vorstellungen seines großbürgerlichen Vaters eine Lehre als Friseur beginnen will, dort ist es Violaine, die mit 17 schwanger wird, die Verantwortung übernehmen muss. Ich denke, beide Male kam es Ihnen darauf an, zu zeigen, wie wichtig es ist, dass die jungen Menschen ihren eigenen Weg ins Leben finden?

    Murail: Für mich ist in der Essenz jeder Roman für Junge Menschen ein Entwicklungsroman. Man hat zu Beginn eine Figur mit ihren Schwächen und Fehlern, mit ihrer Unreife. Und dann lässt man sie mit einer Reihe von Prüfungen heranwachsen, und wenn man sie wieder loslässt, ist sie bereit, sich dem Leben zu stellen. Das ist die Erziehungsarbeit von Eltern und Lehrern, aber das ist auch die Arbeit eines Schriftstellers mit und an seinen Figuren. Diese Bewegung ist in mir so verankert, dass sie sich auch in meinen Büchern für Erwachsene wieder findet. Auch dort gebe ich meinen Figuren noch die Möglichkeit, sich zu entwickeln. Nur weil man 50 oder 70 Jahre alt ist, heißt das ja nicht, dass man keinen Spielraum mehr hat! Und so mache ich es auch mit den Erwachsenen in meinen Jugendromanen. Der Vater von Louis zum Beispiel, oder auch der alte grummelige Nachbar in "Simpel", der sich Schritt für Schritt den Jugendlichen annähert und der zuletzt einem jungen Mann bei seinen Herzensangelegenheiten hilft. Mir tut das sehr gut! Das Prinzip des Entwicklungsromans gilt auch noch für die Erwachsenen und für alte Menschen. Ich will mich ja auch noch weiter entwickeln!

    Lieske: Auch die Erwachsenen in Ihren Büchern dürfen was lernen, wie sich das anhört, das hören wir jetzt bei einer Lesung aus Ihrem jüngsten Buch: "So oder so ist das Leben":

    Murail: Jeden Abend unter der Woche erlebte Doktor Baudoin einen –allerdings recht kurzen – Glücksmoment, wenn er den Fahrstuhl nahm. Während die kleine verglaste Kabine zu seiner luxuriösen Wohnung emporschwebte, gab er zusammen mit seinem Lederköfferchen einen tiefen Seufzer von sich. So, wieder ein Arbeitstag beendet.
    An diesem Abend kam er früh nach Hause. Er würde mit der Familie zu Abend essen können, mit seiner Frau Stéphanie und den drei Kindern, seinem eigen Fleisch und Blut, seinen Augensternen Violaine, siebzehn, Paul-Louise, fünfzehn, und Mirabelle, acht. Fünfter Stock, bitte alles aussteigen.
    "Ach, hallo Papa! Sixtus lädt mich zu einer Nobel-Party nächsten Monat ein."Paul-Louis fuchtelte mit seinem Handy vor ihm herum, um ihm klarzumachen, dass er gerade telefonierte.
    Doktor Baudoin sah seinen Sohn an, und ihm fiel nicht die geringste Antwort ein, nicht einmal das klassische: Wie schön, so begrüßt zu werden. Er betrat das Wohnzimmer, in dem die Jungs von Miami Vice gerade unter Sirenengeheul aufs Sofa feuerten.
    "Bist du taub?", brüllte Doktor Baudoin seiner ältesten Tochter zu.
    Violaine hielt sich ein Kissen als kugelsichere Weste vor die Brust, machte "Hä?" und begnügte sich damit, weiterzuzappen, ohne den Fernseher leiser zu drehen.
    "Geht das klar mit dem Anzug?", erkundigte sich Paul-Louise von hinten.
    "Ist eure Mutter da?", fragte Doktor Baudoin.
    Da er wusste, dass er keine Antwort bekommen würde, begab er sich auf die Suche nach Stéphanie und stieß im Flur mit seiner Jüngsten zusammen.
    "Oh, Papa!", rief Mirabelle. "ich weiß, das ist nicht echt, und es gibt im Leben andere Gründe zum Heulen, aber gerade hatte ich endlich zwei Schweine gewonnen, und die waren außerdem kurz davor, ein Baby zu kriegen! Aber irgendjemand ist bei mir rein und hat einen Wolf da ausgesetzt, der meine Schweinefrau gefressen hat. Und jetzt hat mein armes Schwein keine Freude mehr am Leben."
    Sie war den Tränen nahe.
    "Sag mal, wovon redest du?", rief ihr Vater entsetzt.
    "Von Schweinchenland", erklärte die Kleine schniefend. "Im Internet."
    "Papa", jammerte Paul-Louis, "was sag ich jetzt Sixtus?"
    Doktor Baudoin verdrehte die Augen. Kaum zu glauben, dass er diesen Jungen vergöttert hatte, als er drei war und sie ihn Pilou nannten!
    Auch seine Frau hatte er vergöttert. Als er sie geheiratet hatte, war sie zehn Jahre jünger gewesen als er. Na, inzwischen war sie immer noch zehn Jahre jünger als er, aber seit ihrem kleinen Problem in der Brust hatte sie auch zehn Kilo zugenommen. Ihr Mann küsste sie auf die Wange.
    "Heilige Supernanny, bete für uns!", sagt er in jenem weltmännischen Ton, der ihm so gut stand. "Was habe ich dem lieben Gott nur getan, dass er mir eine am Sofa klebende Schnecke, ein Modejunkie und eine virtuelle Schweinehirtin anhängt?"

    (Aus: Marie-Aude Murail, So oder so ist das Leben. Aus dem Französischen von Tobias Scheffel. Fischer Schatzinsel, 2011)

    Lieske: Frau Murail, eine turbulente Familienszene, durchaus typisch für Sie. Sie kommen aus einer Künstlerfamilie, Ihr Vater war Lyriker, Ihre Mutter Journalistin, zwei Schwestern schreiben, ein Bruder komponiert. Sie haben selbst auch drei erwachsene Kinder, was bedeutet Ihnen Familie?

    Murail: Meine Mutter hatte einen kleinen Aschenbecher, auf dem standgeschrieben: Die Familie ist das Leben. Ich glaube, damals habe ich verstanden, was im Leben zählt. Es gab auch ein großes Wort, das dazugehörte, die Liebe. Das hat mich manchmal aufgeregt, weil sie es ständig im Mund führte, und weil man auch verpflichtet war, sich gern zu haben. Vielleicht hat mich das Leben später gelehrt, dass die Dinge nicht immer so einfach liegen. Wir waren vier Geschwister, wir hatten eine sehr enge Beziehung, aber wir standen auch in Rivalität zueinander. Ein Musiker, drei Schriftstellerinnen an der gleichen Startlinie, das war nicht immer so einfach, wie es sich anhört! Doch wir sind immer noch sehr verbunden, meine Eltern sind in der Zwischenzeit verstorben, und jetzt wissen wir, dass ihre wahre Hinterlassenschaft an uns die Geschwisterliebe war.

    Lieske: Wenn man sich die Entwicklungslinie in Ihren Büchern anschaut, dann fällt auf, dass die Erwachsenen sich manchmal schwer damit tun, Verantwortung zu übernehmen. Entsprechend wichtig werden die Geschwisterbeziehungen, und ich denke, dass es Ihnen darauf ankam, zu zeigen, dass die Herzensfamilie manchmal wichtiger ist als die Blutsverwandtschaft.

    Murail: Da stecken jetzt mehrere Beobachtungen drin. Manchmal drehe ich tatsächlich die Verantwortlichkeiten um, ein Bisschen nach dem Prinzip der Märchen, dem Däumling zum Beispiel – also, es ist der Kleinste, der sich um die Geschwisterschar kümmert. Es ist Colbert, der sich um Simpel kümmert, und oft sind die Kleinsten auch diejenigen, die die Wahrheit aussprechen und die den Großen helfen, ihre Verantwortung zu begreifen. In "So oder so ist das Leben" ist es die kleine Schwester, die es auf den Punkt bringt, als die Große sich zur Abtreibung entschließt: "Wenn Mama mich nicht gewollt hätte, wäre ich sehr traurig gewesen." Und in diesem Moment versteht Violaine erst die Tragweite ihres Vorhabens, und das ist fast schon auf der Schmerzgrenze. Also, die Kleinsten sagen die Wahrheit, das, was keiner hören will.

    Darüber hinaus gibt es in meinen Büchern wirklich auch die Herzensfamilie, das gilt vor allem für "Halb und halb für Drei", wo ich mir schon auf den ersten beiden Seiten die Eltern vom Hals schaffe, damit ich mich um die Beziehung der Geschwister untereinander kümmern kann. Diese Geschwister beschaffen sich dann neue Eltern, man hat am Ende also wieder eine ideale Familienkonstellation. Und das geschieht in einem Bild, man sieht die drei Fäuste der Geschwister in einem Schwur aufeinander getürmt, dazu kommt die Faust des großen Halbbruders, und noch darüber wie ein Dach die Hände eines Arztes. Dieser Mann, der auch ein Homosexueller ist, beschützt diese imaginäre Familie. Man kann sich den Halbbruder als Mutter dazudenken. Das ist dann eine Herzensfamilie mit zwei Männern als Eltern. Ich wollte den Leser mit diesem Bild entlassen, die Familie ist geschützt durch das Dach zweier Hände.

    Lieske: Das Stichwort der Wahrheit ist gefallen. Sie haben an der Sorbonne in Paris Literatur und Philosophie studiert, und ich frage mich, inwieweit ist auch die Philosophin mit am Werk, wenn Sie schreiben?

    Murail: Vielleicht ist es auch das kleine Mädchen. Ich glaube, dass die Kinder ganz große Metaphysiker sind!

    Lieske: Ich möchte mit Ihnen noch über den Roman "Über kurz oder lang" reden, ein Roman, der ein sehr ungewöhnliches Setting hat, er spielt fastauschließlich in einem Friseurladen. Dort entdeckt der 14-jährige Louis während eines einwöchigen Berufspraktikums seine Liebe zum Friseurberuf. Sie widmen dieses Buch "All jenen, die aus mir einen Kurzhaarschnitt mit hellen Strähnchen über dunklerem Grundton gemacht haben – woher rührt Ihre Faszination mit dem Handwerk des Friseurs?

    Murail: Das hängt mit all meinen Vorurteilen zusammen, die in sich zusammengefallen sind, als ich mich mit Friseusen beschäftigt habe. Im Universum einer Intellektuellen ist eine Friseuse normalerweise eine dumme Gans. Aber als ich mich mit diesen Mädchen und jungen Frauen einmal wirklich unterhalten habe, wurde mir klar, wie viel Stil und Feingefühl und Menschenkenntnis sie haben. Außerdem haben sie eine Bildung, eine war weit gereist, eine andere hatte Maupassant gelesen, und ich wagte gar nicht zu fragen, warum sie Friseuse geworden ist! Sie hätte etwas viel Tolleres werden können! Sie hat mir dann gesagt, wenn ich nicht mit meinen Händen arbeite, habe ich das Gefühl, dass ich nichts zustande gebracht habe. Und ich habe mich dann im stillen Kämmerlein gefragt, was es auf sich hat mit dieser Trennung der Handarbeit und der Kopfarbeit? Womit arbeitet ein Pianist, ein Bildhauer, ein Chirurg? Ich musste auch anmeine Großmutter denken, sie war Schneiderin, mein Großvater war Kunsttischler. Den letzten Denkanstoß bekam ich dann auf meinen Lesungen. Die Französischlehrer laden mich oft in die Berufsschulen ein, denn die Auszubildenden dort können mit der klassischen Literatur nicht so viel anfangen. Und dort habe ich viele schöne Begegnungen gehabt mit jungen Menschen, für die das Buch der Inbegriff einer frühen Niederlage ist. Durch das Buch haben sie sehr früh Schaden genommen in ihrem Selbstwertgefühl. Und dann komme ich daher als Schriftstellerin! Und ich habe festgestellt, dass diese jungen Leute meine Vorurteile teilen, allerdings in umgekehrter Richtung! Diese Begegnung hat beiden Seiten sehr gut getan. All diese Gedanken und Begegnungen wollte ich in meinem Buch unterbringen, und auch den Tod meiner eigenen Vorurteile.

    Lieske: Mit der Lektüre fallen auch Vorurteile, die wir als Leser möglicherweise gehabt haben. In diesem Buch taucht auch ein Thema auf, das Sie seit Jüngstem sehr beschäftigt, schwere Krankheiten, Krebs, Leukämie; Ihre Figuren erkranken, sterben oder werden auch wieder gesund. Woher kommt diese Häufung?

    Murail: Wohl von dem, was ich erlebt habe. Ich habe beide Elternteile verloren, ich habe meine Mutter über zwei Jahre hinweg durch ihre Krankheit begleitet. Ich habe wissentlich und willentlich zwei Jahre meines Lebens gegeben, weil ich mir gesagt habe, dass das zählt, auch für mein künftiges Leben. Und davon zehre ich in meinen Romanen. Die Leukämie von Siméon hat mich die Krankheit meiner Mutter noch einmal erleben lassen. Ich habe ihn auch in das gleiche Krankenhaus gelegt, in das Hôpital Saint-Antoine. Es geht da auch um einen Hoffnungsschimmer, es lohnt sich zu leben, auch mit der Krankheit. Und ich gönne ich mir ein Glück, das ich im Leben nicht gehabt habe, nämlich meine Figur zu retten, sie zu heilen. Ein kleines Mädchen hat mal zu mir gesagt, dass ich mich am Leben räche, und das stimmt! Außerdem ist es wichtig, zu wissen, dass in der Krankheit selbst auch Leben steckt. Es ist bis zum Ende hin möglich, sich zu lieben, und kleine Momente des Glücks zu erleben, in Klammern sozusagen. Meine Mutter hatte einen sehr starken Charakter, und eines Abends, bevor sie in den Todeskampf eingetreten ist, hat sie mich angerufen und wir haben 20 Minuten miteinander geredet. Und sie hat mir gesagt: Siehst du, immer noch habe ich kleine Glücksmomente.

    Lieske: Trotz der Problemdichte, der Krankheiten, der häuslichen Gewalt, der Tatsache, dass Erwachsene ihre Verantwortung nicht immer tragen, darf in Ihren Romanen gelacht werden. Die Schwere wird durch Humor gemildert. Ich muss dabei an ein Sprichwort von Erich Kästner denken, Humor ist der Regenschirm der Weisen. Was bedeutet Ihnen der Humor, das Lachen?

    Murail: Manchmal schreibe ich als Widmung in ein Buch: Der Humor ist der Zucker des Lebens, und er macht nicht dick! Der Humor ist wie ein Kompass, und das Lachen ist eine Kraft! Wenn man über sich selbst lacht, wird man unverwundbar. Ich glaube sogar, dass man Menschen zum Humor erziehen sollte. Nicht jeder hat von Natur aus Humor, das ist auch eine Errungenschaft, eine Arbeit an sich selbst. Es gibt übrigens wirklich humorlose Familien und humorlose Menschen, und das ist für mich wie eine schwere Behinderung. Eine noch größere Behinderung, als ein Idiot zu sein! Simpel hat ja Humor. Daran muss man arbeiten, denn manchmal verwechselt man den Humor mit dem Spott, mit dem Auslachen, mit dem Lächerlichmachen einer Person. Aber da gibt es einen großen Unterschied, der Humor ist viel zärtlicher, er ist komplizenhaft und auf Augenhöhe. Daran arbeite ich in meinen Büchern. Auch als Familienmutter wäre ich ohne Humor nicht auszuhalten. Wenn man seine eigenen Kinder ertragen will, gibt es nur dieses Rezept. Man muss lachen, sonst ärgert man sich.

    Lieske: Der Humor funktioniert in Ihren Büchern auf verschiedenen Ebenen, es gibt lustige Szenen, den Slapstick, rasche Perspektivwechsel, trockene Erzählkommentare, das Ganze kommt so wunderbar leicht und französisch daher, ich glaube aber, dass es doch auch harte Arbeit ist.

    Murail: Es ist ein Ringen um jedes Wort. Es ist immer wieder ein Wunder, wenn man durch Verschiebung eines einzigen Kommas ein Gelächter hervorruft. Aber man muss sich auch die Zeit nehmen, das Komma zu verschieben. Ach hier ist der Humor eine Errungenschaft, eine harte Arbeit. Manchmal werde ich gefragt, ob ich beim Schreiben lache, aber öfter runzele ich die Stirn. Ich suche dann den richtigen Platz für ein Wort. Ich lache hinterher, wenn ich meine Geschichte noch einmal lese.

    Lieske: Madame Murail, Sie sind Mitglied der Französischen Ehrenlegion, Chevalier de la Legion d'Honneur, was muss ich mir darunter vorstellen?

    Murail: Das ist in Frankreich die Auszeichnung für einen Dienst, den man dem Land erwiesen hat. In meinem Fall ein Dienst, den ich der Jugend erwiesen habe. Das ist eine sehr große Ehre. Ich nehme auch das nicht so ganz ernst, trotzdem hat mich diese Auszeichnung sehr berührt. Außerdem war ich in meinem Kopf immer schon ein Ritter. Als Kind hatte ich beschlossen, dass ich einem geheimen Ritterorden angehöre, ich habe mich Chevalier Mireil-Audienne genannt. Also das hat mich ungeheuer erstaunt, dass man später erkannt hat, dass ich zu diesem Orden gehöre.

    Lieske: Madame Murail, ich wünsche Ihnen und uns noch viele Bücher, die das Recht der Schwachen ritterlich verteidigen.