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"Der jüdische Messias"
Freche Abrechnung mit Idealisten

Arnon Grünberg ist wenig heilig. Mit seinen Romanen hat er sich einen Namen gemacht als Provokateur, der insbesondere das jüdische Leben gerne ironisch distanziert beschreibt, sich immer wieder lustig macht über Rituale und Vorurteile. In seinem neuen Roman treibt er unter anderem einen makaberen Spaß mit Hitlers "Mein Kampf".

Von Johannes Kaiser |
    Porträtbild von Arnon Grünberg mit Brille und Lockenkopf
    Der niederländische Schriftsteller Arnon Grünberg. (picture alliance / dpa/ Jan Woitas)
    Das kommt sicherlich nicht allzu oft vor, dass ein junger Schweizer aus Basel, christlich erzogen und aufgewachsen, alles daran setzt, zum Judentum überzutreten. Doch Xavier ist wild entschlossen, Jude zu werden, und dafür ist wohl indirekt sein längst verstorbener Großvater mütterlicherseits verantwortlich. Der hat als deutscher SS-Mann im KZ zahllose Juden erschlagen und sich in seinem Tagebuch auch noch über die schwere Aufgabe beschwert.
    Sein Enkel möchte nun mit seinem Übertritt das Leiden der Juden kennenlernen und sie trösten. Trost zu spenden wird zum großen selbsterklärten Ziel Xaviers. Doch dazu muss er erst einmal selbst Jude werden. Mit geradezu zwanghafter Besessenheit verfolgt er seinen Plan und schreckt auch nicht davor zurück, jüdische Vorfahren zu erfinden.
    Arnon Grünberg: "Ich habe dann öfter an Idealisten gedacht, die ich kannte, auch immer wieder an diese Naivität und ein gewisser Fanatismus, was ich in ihm spürte, eine gewisse Obsession, aber auch eine Verherrlichung. Für ihn war auch immer, hatte ich das Gefühl, die Juden waren nie wirklich Menschen, dass war irgendwo etwas ganz Besonderes. Das war für ihn so abstrakt und zur gleichen Zeit wollte er so gerne dazugehören, aber die Verherrlichung ist ja auch immer gefährlich, indem man aus Menschen auch etwas wieder Nichtmenschliches macht, was Übermenschliches, Über- und Untermenschlichkeit stehen ja miteinander in Verbindung. Es ist beides eine Verneinung des Individuellen und des Menschlichen, des Körperlichen."
    "Mein Kampf" ins Jiddische übertragen
    Und an dieser Stelle kommt dann Awrommele, der Sohn eines Rabbiners mit ins Spiel. Xavier, der regelmäßig in die Synagoge geht, wird von dem Geistlichen zu sich nach Hause eingeladen. Xavier verliebt sich auf der Stelle in den ältesten seiner Söhne, in Awrommele. Der soll ihn in das Judentum einführen und ihm Jiddisch beibringen. Gemeinsam beschließen sie, "Mein Kampf" von, wie er im Buch nur genannt wird, "Du weißt schon wer", ins Jiddische zu übertragen.
    Xavier glaubt, es sei gut, die Juden mit dessen Gedankengut bekanntzumachen. Awrommele sieht das Unternehmen eher als Möglichkeit, Geld zu verdienen, um es dann mit Huren zu verprassen. So seine Worte. Er drückt sich gerne drastisch aus, erzählt schmutzige Witze, denkt ständig an Sex, ist ziemlich offen schwul und verführt auch Xavier. Er ist in vielem das genaue Gegenteil seines Freundes, der eher schüchtern durchs Leben läuft, stets Angst hat, unangenehm aufzufallen. Ist für Xavier das Judentum die Erfüllung eines Traums, ist es für Awrommele eher eine lästige Tatsache denn Verpflichtung.
    Grünberg: "Für ihn ist es klar, dass er nicht wirklich ein gläubiger Mensch ist, dass man sich einfach nur so benimmt, weil man da aufgewachsen ist, aber für ihn ist Gott gar nicht seriös zu nehmen. Es sind die Rituale und die macht man, weil die Eltern das so machen, aber er hat eigentlich andere Interessen. Er interessiert sich für die Sexualität, für das Leben, für die Welt. Er ist irgendwie ein Junge und später ein Mann mit Lebensfreude, ein Hedonist, er ist ein Hedonist. Es geht um das Genießen, um die gesamte Menge Glück in der Welt zu vergrößern. 'Ich komme aus einer Familie mit viel Kindern und mit viel Brüdern und Schwestern. Da lernt man praktisch zu sein.'"
    Awrommele verschwendet keinen Gedanken daran, ob er irgendwelche jüdischen Gesetze verletzt und Sex ist für ihn gottgewollt. Selbst für die Tatsache, dass sein Vater, der fromme Rabbiner, zu Prostituierten geht, findet er dem schockierten Xavier gegenüber eine religiöse Begründung – eine typisch Grünbergsche übrigens:
    Romanzitat: "Ich weiß nicht, was für einen Gott du dir vorstellst, aber der Allmächtige will die Freude auf Erden vergrößern. Darum darf der Rabbiner zu den Huren, wenn das seine Freude vermehrt. Denn wenn die Freude des Rabbiners zunimmt, nimmt auch die Freude der Welt zu, ist doch logisch... Natürlich darf der Rabbiner .. nicht einfach nach Hause kommen und seiner Frau erzählen, wie er seine Freude vermehrt hat, denn auch unter dem Vermehren der eigenen Freude darf die der anderen nicht allzu sehr leiden. Darum will Gott, dass wir manche Dinge im Dunkeln tun und andere bei Tageslicht: Vermehrung der Freude."
    Politisch korrektes Verhalten auf den Kopf stellen
    Es ist nicht zuletzt diese Rabulistik, dieses Auf-den-Kopf-Stellen politisch korrekten Verhaltens, dass sich durch den ganzen Roman zieht und ein Kennzeichen Arnon Grünbergs ist. Er stellt damit ethische und moralische Allgemeinplätze immer wieder in Frage, macht sich über sie lustig. Das gilt insbesondere für die zahlreichen antisemitischen Bemerkungen, die zum Beispiel Xaviers Mutter ständig loslässt.
    Romanzitat: "Gibt man ihnen den kleinen Finger, nehmen sie gleich die ganze Hand und dann noch den Arm. Das sag ich nicht aus Rassismus, sie sind nun mal so."
    Grünberg setzt auf solche typisch antisemitischen Vorurteile stets noch eines drauf:
    Romanzitat: "Wie manche Frauen auf eine Vergewaltigung, so warteten manche Juden offenbar auf ein Pogrom."
    Bei solchen Bemerkungen kann einem zumindest als deutscher Leser schon mal die Luft wegbleiben. Arnon Grünberg liebt diese Provokationen, denn in der Übertreibung liegt ja auch stets ein Stück Wahrheit. So treibt er denn auch in seiner Geschichte von Xavier dessen Wunsch, Jude zu werden, auf die Spitze. Xavier hält sich zum Schluss für den "Jüdischen Messias" – eine weitere Blasphemie des Autors.
    Soweit sind wir allerdings noch nicht. Um richtiger Jude zu werden, muss sich Xavier beschneiden lassen. Da niemand mitbekommen soll, dass er nicht längst beschnitten ist, soll das Ganze heimlich stattfinden. Awrommele weiß Rat. Er kennt einen verschwiegenen Beschneider. Leider ist der bereits alt und halb blind. Xavier verliert nicht nur seine Vorhaut, sondern auch noch einen Hoden. Den trägt er fortan in einem Einmachglas in Spiritus eingelegt als eine Art Glücksbringer mit sich herum. "König David", so hat er den konservierten Hoden getauft, hilft ihm tatsächlich später bei seinem Aufstieg zu einem der wichtigsten israelischen Politiker.
    Doch vorher scheitert er erst einmal als Künstler. Als er nach dem Abitur mit Awrommele aus Basel nach Amsterdam zieht, um Kunst zu studieren und Maler zu werden, finden seine Bilder wenig Anerkennung.
    Tröster der Juden werden - koste es, was es wolle
    Das dürfte wohl keine von Arnon Grünberg zufällig gewählte Parallele zu "Du weißt schon wem" sein, so wie überhaupt vieles am Verhalten des jungen Mannes an Hitler und dessen gestörte Psyche, dessen verklemmte Sexualität erinnert. Auch hier sucht der gescheiterte Maler sein Heil in der Politik und bringt es im Prinzip als gefeierter Volkstribun genauso weit wie der schreckliche Vorgänger – nur diesmal in Israel. Dahin zieht es Xavier nach seinem Misserfolg als Künstler. Und er verfolgt mit manischer Besessenheit sein Ziel: Tröster der Juden zu werden, koste es, was er wolle.
    Grünberg: "Diese Idee bringt ihn sehr weit. Er ist ja auch intelligent, er ist charmant und er ist, ich will nicht sagen, böse, aber es ist in ihm auch etwas in vielleicht alle übertriebenen Idealismus, oder alle Idealismus, das er wirklich glaubt, dass die Welt völlig ändern können oder bessern können, gibt es immer so etwas Unmenschliches und das ist auch in ihm zu finden. Eine Gefühllosigkeit, getrieben von diese Idee, von diesem Wahn, obwohl er an sich nicht gefühllos war, wird er gefühllos."
    Arnon Grünberg nutzt Xaviers Einstieg in die israelische Politik zu einigen ziemlich zynischen Bemerkungen über Korruption und Vetternwirtschaft im jüdischen Staat. Erpressung, Bestechung, geschickte Medienarbeit und eine gehörige Portion Charisma verhelfen seinem Protagonisten ins höchste Staatsamt. Und dann steht nicht weniger auf dem Spiel als der Weltuntergang.
    Auch wenn Xavier der Ehrgeiz antreibt, ein verlorenes Volk zu trösten, so bezieht sich das Trösten für ihn auch auf Awrommele. Ihm gilt seine ganze Liebe, auch wenn sie sich beide geschworen haben, sich nie zu lieben. Küsse und Sex sind erlaubt, aber Liebe nicht. Also schweigt er und leidet still an Awrommeles ständiger Untreue. Der betrügt ihn ständig mit anderen Männern, treibt sich in Bars herum, bleibt ganze Nächte weg. Das ist für Xavier nur schwer auszuhalten. So ist die Politik für ihn auch eine Art Kompensation einer Liebe, die er nicht ausdrücken darf. Das verdankt er letztlich auch seiner Mutter:
    Grünberg: "Für mich kann man ihn nicht begreifen, verstehen und vielleicht auch lieben, insofern man ihn überhaupt lieben kann oder mögen, ohne die Mutter zu sehen, die Mutter ist der Schlüssel zu dieser Figur. Und der Mutter ist ja ein unfähiger Mensch, ein Mensch, der nicht klar geworden ist mit sich selber, nicht mit der Geschichte, mit nichts und der nach Liebe sehnt, aber völlig liebesunfähig ist, völlig."
    Um überhaupt etwas zu fühlen, ritzt sich die Mutter die Arme auf. Sie liebt den Schmerz, aber nur den eigenen. Fremden Schmerz kann und will sie nicht erkennen. Mitgefühl ist ihr fremd. So fehlt auch Xavier jegliche Empathie, obwohl er doch so gerne mitfühlen würde. Nur weiß er nicht, wie man das macht.
    Grünbergs Protagonisten sind alle psychisch angeschlagen
    Arnon Grünbergs Protagonisten sind alle auf irgendeine Weise psychisch angeschlagen, geschädigt, deformiert. Ihre Haltungen, ihr Verhalten, ihre Vorstellungen, ihre geistigen Einstellungen sind erschreckend einseitig, vorurteilsbeladen, oftmals rassistisch, heftig antisemitisch. Politisch korrekt verhält sich niemand und dem Autor scheint dieses Spiel mit Vorurteilen und Klischees gut zu gefallen. Sollte man seinen Roman als Satire verstehen? Durchaus meint Arnon Grünberg:
    "Es ist auch eine Satire, eine seriöse Satire. Ich meine damit, dass es mir nicht nur um das Lachen geht, obwohl ich selber oft gelacht habe. Es ist nicht nur eine Übertreibung um die Willen von Übertreibung, aber es ist eine Übertreibung, um etwas deutlich zu machen über unsere Welt und die Wirklichkeit, um da etwas drüber auszusagen und die Leser damit zu konfrontieren."
    Mit Hitler und dem Antisemitismus seinen Spaß zu treiben, auf die Idee kann wohl nur ein 42-jähriger, von Schuldgefühlen unbelasteter holländischer Schriftsteller mit jüdischen Wurzeln kommen. Auch wenn einem bisweilen beim Lesen der Atem stockt, so ist der Roman doch eine amüsante Groteske, eine freche Abrechnung mit Größenwahn, Idealismus und Fanatismus – kurzum ein sehr ungewöhnliches Lesevergnügen.
    Arnon Grünberg: "Der jüdische Messias", Übersetzung Rainer Kersten
    Diogenes Verlag Zürich 2013, 637 Seiten, 24,90 Euro