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Der Junge

"Der Junge. Eine afrikanische Kindheit" lautet der deutsche Titel der Erinnerung des weißen südafrikanischen Autors J.M. Coetzee. Doch auf den ersten achtzig Seiten sucht der Leser vergebens nach afrikanischem Kolorit. Weder werden prägende Naturerlebnisse zwischen Elefanten und Gazellen geschildert, noch die romantisch verklärte Ursprünglichkeit afrikanischer Dörfer.

Fokke Joel |
    Statt dessen eine Kindheit in dem öden Vorort einer Kleinstadt, die so auch in den USA oder in Australien zu finden gewesen wäre. Die weißen Mittelstandsfamilien, die dort Ende der vierziger, Anfang der fünfziger Jahre leben, können sich keine schwarzen Bediensteten leisten und sind deshalb ganz unter sich. Bis in die Schulzeit hinein prägen J.M. Coetzee deshalb die familiäre Situation und die Schule sehr viel stärker als die Besonderheiten einer weißen Kindheit auf dem "schwarzen Kontinent". Da sein Vater ein schwächlicher Mensch ist, dominiert die Mutter das Leben in der Familie.

    "In einem normalen Haushalt ist der Vater das Oberhaupt, das gibt er gern zu - das Haus gehört ihm, Frau und Kinder leben unter seinem Regiment. Doch in ihrem Fall, und das trifft auch auf den Haushalt der beiden Schwestern seiner Mutter zu, bilden die Mutter und die Kinder das Zentrum, während der Mann nicht mehr als ein Anhängsel ist, einer, der zur Haushaltskasse beiträgt wie zum Beispiel ein zahlender Mieter."

    Mit zunehmendem Alter beginnt Coetzee seinen Vater zu verachten. Eine Verachtung, die er auf alles überträgt, was Autorität, insbesondere männliche Autorität, repräsentiert. Darunter fallen auch seine Lehrer, die mit einer Mischung aus Sadismus und Pflichtübung regelmäßig ihre Schüler verprügeln.

    Aufgrund seiner guten Leistungen entgeht Coetzee den Schlägen der Lehrer, aber er wird dadurch zum Außenseiter. Eine Rolle, in der er sich zunächst unwohl fühlt. Auch er will "normal" sein und wünscht sich, so wie seine Klassenkameraden geschlagen zu werden. Dann könnte er sich endlich an ihren Gesprächen über die unterschiedliche Wirkung der Schlagstöcke beteiligen. Doch letztlich stößt ihn die Faszination der Mitschüler für die Gewalt und den Sadismus der Lehrer ab.

    Coetzee macht sich zum ersten Mal bewußt zum Außenseiter, als er den Antisemitismus und die Diskriminierung der katholischen Klassenkameraden durch die protestantische Mehrheit beobachtet. Obwohl er als Bure Protestant sein mußte, in Wirklichkeit aber an keinen Gott glaubt, gibt er in der Schule vor, Katholik zu sein. Um nicht der Lüge überführt zu werden, versucht er dem Religionsunterricht durch immer neue Ausreden zu entgehen.

    Die Außenseiterrolle bleibt für Coetzee ein innerer Konflikt. Aber er vertritt sie nach außen immer selbstbewußter. Das gilt auch für die Kritik an der Apartheid. Zunächst ist es hier ebenfalls sein Gefühl, das den alltäglichen Rassismus in Frage stellt. Auf der Farm seines Onkels, die er regelmäßig während der Ferien besucht, schämt sich der etwa zehnjährige, als "Herr" wahrgenommen zu werden: "Es gefällt ihm nicht, wenn er an Lientjie im Korridor vorbeigeht und sie so tun muß, als sei sie unsichtbar, und er so tun muß, als sei sie Luft. Es gefällt ihm nicht, wenn er Tryn auf den Knien vor dem Waschzuber antrifft, wie sie seine Sachen wäscht. Er weiß nicht, wie er ihr antworten soll, wenn sie ihn in der dritten Person anspricht und ihn kleinhaas nennt, den kleinen Herrn, als wäre er nicht selbst anwesend. Das alles ist äußerst peinlich."

    Auch hier irritieren Coetzee zunächst wieder die eigenen Gefühle, weil die Familie des Onkels, aber auch seine Mutter, Schwarze ganz selbstverständlich als Untergebene behandeln. Er hält seine Gefühle für unnormal, weil er der einzige ist, der so empfindet. Erst langsam wird ihm bewußt, daß es objektiv peinlich ist, Schwarze nicht als gleichberechtigt zu behandeln.

    Doch obwohl er den Rassismus seiner Umgebung nicht versteht, obwohl er ihn innerlich ablehnt, spürt J.M. Coetzee, das ihn nicht nur das Verhalten des Onkels und der Mutter, sondern auch das der Opfer, der Schwarzen, zum Herrn macht. Als der gleichaltrige schwarze "Houseboy" Eddie brutal verprügelt und nach Hause geschickt worden ist, versucht sich Coetzee, in seine Lage zu versetzen. Für Eddie, wird ihm klar, wird er immer der kleine Herr bleiben: "In diesem Augenblick weiß er, daß Eddie in dem undichten Haus in Idals Valley, zusammengerollt unter einer stinkenden Decke, immer noch in seinem Blazer, an ihn denkt. Im Dunkeln sind Eddies Augen zwei gelbe Schlitze. Eins weiß er sicher: Eddie wird kein Mitleid mit ihm haben."