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Der Karneval von Tarabuco

Eineinhalb Busstunden von der bolivianischen Hauptstadt Sucre entfernt liegt Tarabuco. Die Stadt ist berühmt für ihren Karneval. Am dritten Sonntag im März wird hier eine große Fieste gefeiert, deren Ursprünge mit dem deutschen Karneval allerdings nicht viel gemeinsam hat.

Von Judith Grümmer | 21.03.2010
    "Wutverzerrt seine Miene, blutverschmiert Mund und Hände. Die linke Faust umklammert ein menschliches Herz, das ganz offensichtlich eben noch im Brustkorb des spanischen Soldaten geschlagen hat, auf den ein Yampara-Krieger nun seinen Fuß gestellt hat."

    Der überlebensgroße Freiheitskämpfer steht am Rande der Plaza von Tarabuco.

    Dass er jedem, egal ob weiß oder indigen, auf den ersten Blick einen Schrecken einjagt, ist beabsichtigt.

    Schließlich sind die Einwohner von Tarabuco stolz darauf, dass es ihren Vorfahren damals, 1816, während des südamerikanischen Befreiungskrieges gelang, in der "Schlacht von Jumbate" eine Bataillon königlich-spanischer Soldaten vernichtend zu schlagen.

    "Damit gehen die Tarabucensen aber auch als äußerst brutale Krieger in die Geschichte ein. Denn es war ihr Brauch, dem getöteten Gegner das noch warme Herz aus dem Leib zu reißen und sich mit herzhaftem Bissen an seinem Blut und seiner Energie zu stärken."

    Vicente Vargas ist Musiker und Chef von "Canto Sur", einer Musikgruppe, die in Bolivien, aber auch in Europa immer wieder große Erfolge feiert – beispielsweise mit "Yamparas alegres" – in denen die die Freuden der große Fiesta besungen wird.

    An jedem dritten Sonntag im März treffen sich die Nachfahren eben jenes Yampara-Kriegers, um in Tarabuco gemeinsam die "Pujllay" zu tanzen.

    "Pujllay" heißt in der Sprache der Quechua-India so viel wie "Spiel" oder "Kampfspiel".

    Es ist noch früh am Morgen. Die Sonne brennt heiß durch die eiskalte, dünne Höhenluft und auf der Plaza sind schon jetzt hunderte, überwiegend junge Männern und Frauen versammelt.

    Viele Männer sind ebenso gekleidet wie der Yampara-Krieger, der als Denkmal über die Tänzer starrt: halblange weiße Leinenhose, ein dunkles Hemd über den in satten Rot-, Gelb– und Grün-Tönen gewebten Poncho gezogen. Auf dem Kopf tragen sie eine "montero", eine schwarze, federgeschmückte Mütze aus Ziegenleder, die an die Eisenhelme der spanischen Eroberer erinnert.

    "Diese Trachten stammen aus der Zeit nach der Spanischen Eroberung und sind oft eine auch satirisch interpretierte Übersteigerung der Gebräuche der Unterdrücker. So tanzen die Männer auf überhöhten Holzsandalen, die mit viel zu große geratenen Blech-Sporen ausgestattet sind. Und sie tragen lange Rohre am Rücken, die an die Langgewehre erinnern sollen, heute aber als Panflöten für die Begleitmusik dienen."

    Auch die Frauen sind mit aufwendig gewebten oder bestickten Stoffen gekleidet. Die Tarabuceños sind berühmt für ihr traditionelles Kunsthandwerk.

    "In den verarbeiteten Stoffen erkennt man die Motive der Tierwelt wie die zu jagenden Füchse, Eichhörnchen, Adler und Kondore - oder auch Pferd und Kuh, Schwein und Huhn als Motive der neu domestizierten Tiere."

    Jahrtausendealte, indigene Motive sind längst mit den kolonialen Einflüssen despanischen Eroberer zu einer eigenen Kultur verschmolzen, sowohl in der Handwerkskunst als auch in Musik und Tanz.

    Über sechzig Dörfer und Gemeinden aus der gesamten Provinz haben ihre Abordnungen zum Pujllay-Fest nach Tarabuco entsandt. Überall auf der Plaza versammeln sich die Gruppen und beginnen mit dem Eintanzen. Das kann mehrere Stunden dauern und bringt viele schon jetzt in einen tranceähnlichen Zustand. Die Musik monoton, die Schrittfolgen schnell und streng vorgegeben, die Blicke der Tänzer in sich gekehrt und abweisend.

    Immer wieder kreisen kleine Kalebassen mit Chicha, mit Maisbier, zwischen den Tänzerinnen und Tänzern. Den ersten Tropfen Chicha bekommt die Mutter der Erde, der nächste Schluck wird getrunken und dann wird das Gefäß an den nächsten weiter gereicht.

    Dazu kauen die Männer Koka. Ohne die heilige Pflanze der Inkas ist bis heute für die indigenen Ureinwohner Boliviens keine rituelle Handlung vorstellbar. Koka gibt Kraft und lässt kein Hungergefühl aufkommen. Die grünen lorbeerähnlichen Blätter sollen den Tänzern helfen, die Strapazen der kommenden Stunden zu überstehen.

    In den engen, schattenkalten Gassen rund um die Plaza wird währenddessen gefeilscht und gehandelt. Denn zeitgleich findet in Tarabuco der wöchentliche Sonntagsmarkt statt:

    Säckeweise stapeln sich Reis, Nudeln und getrocknete Kartoffeln. Speiseöl ist in Zehnliterplastikflaschen aufgetürmt. Mais, Maniok, Paprika, Rote Beete aus den tiefer gelegenen Tälern. Orangen, Papayas, Bananen, Ananas aus dem tropischen Tiefland liegen neben Gewürzen von Chili bis Zimt. Daneben Töpfe, Pfannen, Geschirr, fein gewebte Stoffe und farbenfrohe Garne.

    Der Sonntagsmarkt ist für viele Bewohner der ländlichen Berg-Provinz die einzige Gelegenheit, einzukaufen, zu verkaufen oder auch Waren in Tauschhandel zu erwerben. Auch heute – am Tage des Pujllay-Festes.

    Gegen Mittag ziehen die ersten Tänzer von der Plaza in Richtung "cancha", zum Fußballplatz. Der liegt etwas außerhalb des Dorfes und ist gleichzeitig der Festplatz.

    Hier ist die Pucara von Tarabuco aufgestellt: ein aufwendig geschmücktes, bestimmt zehn Meter hohes, leiterähnliches Gerüst.

    "Am Freitag vor dem Pujllay-Fest werden die Kreuze der Menschen, die im vergangenen Jahr ums Leben gekommen sind, meistens wegen Unfällen, am Fuße der Pucara aufgestellt."

    Dann bringen die Menschen, die heute tanzen, verschiedene Gaben aus Haus und Hof zur Pucara: Brote, Hefezöpfe, Früchte, Kartoffeln und Mais, aber auch alkoholische Getränke.

    Es sind Opfergaben an die Mutter der Erde. Im überwiegend katholischen Bolivien bitten die indigenen Bauern bis heute ihre Mutter der Erde, die Pachamama, um gute Ernten, um fruchtbare Böden, um Schutz vor Unwettern und anderen Gefahren.

    Indigenes Brauchtum gemischt mit christlicher Glaubenswelt ist in Bolivien – auch aus Sicht der katholischen Kirche – kein Widerspruch.

    Mindestens zehntausend Menschen haben sich in der Zwischenzeit draußen vor dem Dorf versammelt, um den Höhepunkt den "Pujllay-Tanz" rund um die Pucara zu sehen.
    Obwohl das Andendorf Tarabuco nur anderthalb Busstunden von der bolivianischen Hauptstadt Sucre entfernt liegt, fallen westliche Touristen in der Menge der einheimischen, indigenen Zuschauer kaum ins Gewicht.

    Als weiße Europäerin falle ich natürlich sofort auf, werde aber völlig in Ruhe gelassen. Niemand spricht mich an, niemand lächelt mir zu. Nur, wenn ich versuchen würde, meine Kamera zu zücken, würde ich böse Blicke ernten.

    Die Tarabuceños gelten als besonders verschlossen, stolz, kämpferisch und traditionsbewusst und haben Angst, dass mit einem Foto von ihnen, ein Stück ihrer Seelenenergie verlorengehen könnte.

    Selbstbewusst tragen sie ihre indigene Kleider nicht nur zu besonderen Festtagen, sondern auch im Alltag. Und Quechua, die Sprache der Inkas, wird hier wesentlich mehr gesprochen als in anderen Teilen Boliviens.

    Mittlerweile brennt die tropische Sonne senkrecht und heiß auf die staubige, schattenlose "cancha” von Tarabuco.

    Um die Pucara ist eine quadratische Freifläche abgesperrt. Nach einander wird jede Tanz-Gruppe zur Pucara vorgelassen. Immer und immer wieder umrunden die Tänzer den altarähnlichen Aufbau. Musikalisch werden sie dabei von zwei, drei Flötenspielern begleitet.

    "Die Musik erinnert in ihrer Monotonie an Aufmärsche zum Gefecht. Sie hat nichts fröhliches. Es geht um die Liebe zur Erde und zur Heimat, selten um die Liebe einer Frau,... Begleitet werden die männlichen Tänzer jeweils von zwei jungen Frauen mit weißer Fahne, die die jungfräuliche Unbeflecktheit symbolisieren."

    Bis heute – so Vicente Vargas – handeln die traditionellen Tänzen von kriegerischen Themen wie Leben und Tod, Sieg und Untergang, Ehre und Tapferkeit.

    Der kämpferische Geist der Yamparas hat in den traditionellen Kampfspielen der Pujllay überlebt – nicht nur als steinernes Kriegerdenkmal auf der Plaza von Tarabuco.

    Angst vor diesen kämpferischen Tönen braucht dennoch kein Fremder, kein Besucher zu haben, der als Tourist nach Tarabuco kommt. Vielleicht empfindet der eine oder andere fremdländische Besucher sogar Respekt davor, das die Nachfahren der Yamapars es geschafft haben, ihre kulturelle Identität bis heute zu bewahren.

    Vicente Vargas hat es sich mit seiner Musikgruppe "Canto Sur" deshalb zur Aufgabe gemacht, ihr Wissen und Können weiter zu geben: Mehr als siebzig Kinder, Jugendliche und Erwachsene aus den Armenvierteln von Sucre, haben in den vergangenen Jahren bei Vicente gelernt, die traditionellen Instrumente der Yamparas originalgetreu nachzubauen. Und zu spielen.

    Die kulturellen Wurzeln kennen, bewahren, pflegen – das ist für Vicente Vargas zum ganzjährigen Anliegen geworden. Damit die Pujllay von Tarabuco, die auf einer jahrhunderte alten Tradition beruht, auch in Zukunft noch genauso authentisch weiterlebt wie heute.