Mexikos Gräber haben sich geöffnet und eine Schar goldschimmernder Aztekenhäuptlinge ausgespuckt, alle eher gesetzteren Alters, und ein kleines Bäuchlein haben sie auch. Ihnen auf dem Fuß folgen Clowns mit sechs Köpfen, zwei rosa-geblümte Lampenschirme und bunte, menschliche Torten mit dreistöckigem Aufbau – zum wiederholten Mal fragt man sich, wie die Träger ihre gewagten Kreationen wohl technisch realisiert haben.
Mondäne Zwanzigerjahre-Schönheiten mit Federboa und Perlenketten werden hofiert von kugelförmigen Kannibalen, während ein paar große Jungs, sehr große Jungs, sich laut plärrend in ihrem Laufstall durch die Straße schieben. Grinsende Schrumpfköpfe, kreischende Fischweiber, Rokokokokotten mit Schönheitsfleck - es ist, als hätten sich die Protagonisten fröhlicher Comics, uralter Märchen und grausiger Hollywood-Alpträume zu einem Bilderbogen menschlicher Sehnsüchte und Ängste formiert. Dazu, nicht zuletzt, so viele feurige Señoritas, die in Wirklichkeit alle Señores sind...
Der Karneval ist die größte Party des Jahres
Die Parade am Freitagabend eröffnet traditionell den Karneval von St. Cruz und gibt schon mal einen Vorgeschmack auf die kommende Woche. 220.000 Einwohner hat die Hauptstadt von Teneriffa. Mindestens ein Drittel davon muss heute Abend unterwegs sein.
Ancor Robina, Reiseführer, der auch Deutsch studiert hat, nahm mit fünf Jahren zum ersten Mal daran teil.
"Als ich Kind war: Es war ziemlich beeindruckend für mich, so viele Menschen, alle mit komischen Kostümen. Ich fand besonders toll die Attraktionen, die im Karneval stattfinden. Weil: Teneriffa und Santa Cruz ist relativ klein. Normalerweise wir haben nicht so große Events. Ohne Zweifel Karneval ist die größte Party. Und ich trage ein Kostüm als Supermann. Ich fühlte mich so kräftig. In den 80er-Jahren war Supermann noch superbekannt."
Aber der Karneval auf der Insel ist viel älter. Er geht bis ins 18. Jahrhundert zurück, die Umzüge finden seit etwa 1900 statt. Seine Hochzeit waren die 1930er-Jahre, als viele ausgewanderte Tinerfeños, wie die Bewohner korrekt heißen, aus Südamerika zurückkehrten, mit Feuer im Blut und Temperament in den Beinen.
Luis Cortez, pensionierter Zollbeamter und einer der unzähligen Organisatoren, kennt diese Zeiten noch aus Erzählungen der älteren Generation.
Erst seit Ende der Franco-Diktatur wieder offiziell erlaubt
"Hier in Spanien hat der Karneval immer überlebt. Auch in Santa Cruz hat man ihn immer am Leben erhalten. In den 1940er-, 1950er-Jahren war er verboten. Aber auch da gab es eine Gruppe von Leuten, die wurden morgens von der Polizei ins Gefängnis gesteckt, weil sie gefeiert hatten. Dann zahlten sie ihre 25 Peseten Strafe – und nachmittags waren sie wieder auf der Straße."
Und das in Zeiten, in denen es verboten war, dass sich mehr als fünf Personen öffentlich trafen. Zwischendurch wurde das Verkleiden dann vorübergehend wieder gestattet – jetzt aber unter dem Namen "Fiestas de invierno" – Winterfest. Erst 1977, nach dem Ende der Franco-Diktatur, wurden die tollen Tage offiziell wieder erlaubt.
Heute ist der Karneval von Teneriffa einer der größten und glanzvollsten der Welt und zieht jedes Jahr Zehntausende von Touristen an.
Am Sonntag ist Familientag. Wieder bevölkern ganze Heerscharen die Straßen und Gässchen. Purpurne Seesterne, weißblaue Husaren und Clowns mit Blumenwiesen auf dem Kopf posieren für Fotos.
Themen, die den Leuten vor Ort unter den Nägeln brennen
Drei Gruppen von Menschen gestalten und bestimmen den Karneval. Die Comparsas, die südamerikanisch angehauchten Tanzgruppen. Die Rondallas, die in eher klassischen Kostümen unterwegs sind und schon auch mal Arien aus "Tosca" schmettern. Und die wichtigsten, die Murgas.
Luis Cortez ist Schatzmeister der Murga Nifú Nifá – was übersetzt so viel heißt wie "Mir doch egal".
"Die Murga greift Themen auf, die den Leuten vor Ort unter den Nägeln brennen - aus dem Rathaus, aus der Verwaltung, aus der Gemeindepolitik. Da geht es um Baugenehmigungen, um schlechte Straßen, um ein Schwimmbad, das nicht genutzt werden kann – alles das, was nicht so läuft, wie es sollte, alles, was die Verwaltung verbockt, spießt die Murga in ihren Liedern satirisch auf."
Seine Vereinigung hat derzeit 50 Mitglieder und kann auf eine beeindruckende Geschichte zurückblicken.
"Die Murga Nifú Nifá gibt es seit 1971. Sie ist eine der ältesten und wichtigsten Murgas in Santa Cruz. Hervorgegangen ist sie aus einer anderen Gruppe, die um 1954/55 aufgetreten ist, als der Karneval noch "Winterfest" hieß." Aber uns als Gruppe gibt es seit 1971."
Es schlägt die Stunde der Comparsas
Aus allen Richtungen bimmelt und wummert es, irgendwo in den Gassen tritt immer eine der 25 Murgas auf. Oft geht es in ihren Liedern um den Schlendrian in der Verwaltung oder bestechliche Politiker. Manchmal aber auch nur um Zeitloses, wie etwa das beklagenswerte Los als Ehemann.
"In Superstimmung habe ich mein Haus verlassen, aber leider habe ich schon all mein Geld ausgegeben – so habe ich kein Geld mehr, um zu trinken und muss leider zurück nach Hause."
Beim Corso am Dienstagnachmittag, dem großen Umzug über die Uferstraße, schlägt dann die Stunde der Comparsas, der Tanzgruppen. Alles wippt, alles tänzelt, alles wirbelt - Tausende von Pfauen, Straußen und Fasanen mussten Federn lassen für die glitzernden Kostüme, die knappen Tangas und die strassbesetzten BHs. It´s showtime now - ein Jahr disziplinierter Arbeit liegt hinter den Salsa- und Samba-Amateuren. Und jetzt scheint alles so leicht und gekonnt.
Früher war allerdings noch mehr Lametta, behauptet Arcon.
"Während der 90er-Jahre gab es mehr Geld. Die Regierung gab mehr Geld aus im Karneval. Jetzt ist das Szenario vielleicht ein bisschen kleiner, weil wir natürlich dieses Geld brauchen, um unser Krankenhaus zu verbessern und so weiter. Aber jedes Mal gibt es mehr und mehr Menschen an der Straße. Vor zwei Tagen haben wir fast 200.000 Menschen gleichzeitig gehabt. Es gibt nicht viele Orte in der Welt, wo man das genießen kann in fast totaler Sicherheit. Wir sind die bevölkerungsreichste Insel Spaniens – und man kann auf der Straße laufen ohne Risiko, ohne Gefahr."
Höhepunkt ist die Wahl der Karnevalskönigin
Schon rückt der Zug wieder vor und bietet neue Bilder: Asiatische Tempeltänzerinnen, gelb-gehörnte Widder in rosa Plüschröckchen, Meeresgetier mit grün schillernden Schuppen.
Gegliedert wird der Zug von den Wagen mit den weiß-silbernen Aufbauten, die dem Strahlenkranz einer Monstranz ähneln. Auf ihnen posieren die Kandidatinnen für die Wahl zur Karnevalskönigin, ätherische Wesen in Kristallhöhlen und Eiswolken, Traumfeen in Tüll und Taft, die sich die Arme aus dem Leib winken.
14 Kandidatinnen haben sich um das Amt der Königin beworben. Gewählt wurde [im vergangenen Jahr; Anmerkung der Redaktion] schließlich die 25-jährige Cecilia Navarro Ortega:
"Die Designer, die die Kostüme entwerfen veranstalten ein Casting und suchen sich die passende Kandidatin heraus. Bei mir war es so, dass der Designer das Kostüm extra für mich entworfen hat. Dann wählt ein Komitee von zehn Leuten die Königin. Am wichtigsten dabei ist das Kostüm, aber es zählt auch das Auftreten, also wie natürlich und selbstbewusst man sich bewegt. Ich arbeite sonst im Büro. Jetzt habe ich seit Tagen nicht geschlafen, aber mir macht das alles einen Riesenspaß."
Kostüm und Wagen kosten zwischen 18.000 und 22.000 Euro
Der wichtigste Mann hinter jeder Kandidatin ist also der Designer ihres Kostüms. Ihrer heißt Daniel Pajes, ist 35 und kommt aus La Palma. So eine Ausstattung, sagt er, ist nicht ganz billig.
"Kostüm und Wagen kosten zwischen 18.000 und 22.000 Euro – die Arbeit daran nicht gerechnet. Aber wenn die Kandidatin dann Königin wird, ist das unbezahlbar. Mit der direkten Arbeit am Wagen geht es Anfang September los, aber vorher entwickelt man natürlich das Design und besorgt die Materialien. Ich bin jetzt fünf Jahre dabei und habe noch Ideen für mindestens weitere 20 Jahre. Eigentlich arbeite ich als Grafikdesigner, bin aber inzwischen so bekannt, dass ich mich ab September nur noch um den Karneval kümmere."
Erst vier Stunden später zerstreuen sich Zuschauer und Teilnehmer, füllen die Bars und diskutieren Flops und Highlights. Ein bisschen bange ist den meisten. Vier Tage dauert der Karneval noch. Dann kommt die Fastenzeit. Und, Madre de Dios, 51 Wochen ohne, ein ganzes, schreckliches Jahr, ehe sie wieder beginnt, diese eine tolle Woche.