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Der katholische Intellektuelle Hans Maier
Orgel, Campus, Kabinett

Was sein Beruf war oder auch ist – das ist schwer zu beantworten. Sein Werdegang ist ungewöhnlich: Organist, Professor, Minister, Publizist und oberster Laien-Katholik, der die Auseinandersetzung zwischen katholischer Kirche und moderner Demokratie zu seinem Lebensthema gemacht hat.

Von Burkhard Schäfers |
Hans Maier sitzt am Klavier, im Hintergrund eine Bücherwand.
Der Publizist Hans Maier in seiner "Komponierstube" (Deutschlandradio / Burkhard Schäfers)
Orgelspiel: Jean Langlais: Incantation pour un jour saint (Lumen christi)
"Das ist ja das Lumen Christi, bei dem die Osterkerze entzündet wird. Dadadadam. Und das kommt dann höher: Dadadadam. Dadadambam. Das kommt dann dreimal hintereinander."
"Die Tätigkeit als Organist ist eigentlich mein ältester Beruf. Ich war damals Schüler und habe von 1942 bis 49, also nach dem Krieg, fast alle Gottesdienste gespielt, das waren manchmal fünf am Sonntag. Ich war nie festgelegt auf einen bestimmten Berufsweg. Zunächst einmal habe ich ganz früh für Jugendzeitschriften geschrieben, für den Fährmann, der in Freiburg erschien. Man sollte nicht nur zum Wissenschaftler, nur zum Politiker, nur zum Künstler werden, sondern man sollte sich die Gesprächsfähigkeit nach allen Seiten aufrecht erhalten."
Hans Maier war Professor, war Minister, war katholischer Verbandspräsident – und ist bis heute Organist in seiner Münchner Pfarrgemeinde.
"Ich habe immer versucht, mir sowohl in der Wissenschaft wie später in der Politik und auch sogar in den Künsten einen festen Stand zu erwerben."
Hans Maier ist Pensionär, aber was sein Beruf war oder auch ist – das ist schwer zu beantworten. Sein Werdegang ist ungewöhnlich, er gilt als einer der großen, lebenden Denker des Katholizismus. Einer, der Politik und seine Kirche in den vergangenen Jahrzehnten maßgeblich geprägt hat.
Aus einfachen Verhältnissen an die Uni
Geboren wird Maier am 18. Juni 1931 in Freiburg im Breisgau:
"Vom Balkon sah man die Schwarzwaldberge. Blau in der Ferne, grün in der Nähe füllten sie den ganzen Horizont. Als Kind hing ich an diesem Blick. Nach links fiel der Blick auf die Rebhänge, die sich am Schlossberg entlang zogen – Freiburg war ja eine Weinstadt."
Blick über den Schwarzwald
Blick über den Schwarzwald (imago)
Schreibt Hans Maier in seiner Autobiografie ‚Böse Jahre, gute Jahre‘. Darin skizziert er seinen Weg aus einfachen Verhältnissen, Kindheit im Zweiten Weltkrieg, erst zum Politikwissenschaftler und dann zum bayerischen Kultusminister, unter anderem im Kabinett von Franz Josef Strauß. Später zum Professor für christliche Weltanschauung im Fachbereich Philosophie.
"Mein Vater starb schon im frühen Mannesalter. Meine Mutter entstammte einer mit zehn Kindern gesegneten Bauernfamilie. Der Vater war Bürgermeister von Hausen."
"Ich hab in meiner weiten bäuerlichen und anderen Verwandtschaft keinen einzigen Akademiker. Dann hatte ich das Glücks, aufs Berthold-Gymnasium zu gehen, ein humanistisches Gymnasium, wir hatten also hauptsächlich alte Sprachen. Nach dem Krieg kamen die Franzosen. Als Besatzungsmacht setzten sie uns Französisch an erste Stelle. Das alles hat dazu beigetragen, dass ich mir verschiedene Wege in den Beruf vorstellen konnte."
Hans Maier studiert Geschichte, Romanistik, Germanistik und Philosophie in Freiburg und München. Er engagiert sich in der katholischen Jugendarbeit, ist freier Mitarbeiter für verschiedene Zeitungen und beim Südwestfunk.
"In Diskussionen sprachen und stritten wir über Gott und die Welt, lösten alte Welträtsel und erfanden neue. Zu unserem eigenen Staunen galt dieser verbale Gedankenaustausch als Arbeit und wurde am Schalter bar bezahlt."
An der Freiburger Universität promoviert Maier bei Arnold Bergstraesser, einem der Gründungsväter der Nachkriegs-Politikwissenschaft.
Das Thema seiner Dissertation: ‚Revolution und Kirche‘. Mit 31 Jahren – 1962 -– folgt er dem Ruf als Professor für politische Wissenschaft an die Ludwig-Maximilians-Universität München.
Ein Mann von stattlicher Statur, mit weichen Gesichtszügen und einem ausgeprägten Faible für die Feinheiten der Sprache.
"Ich bin kein Augenmensch, eher ein Ohrenmensch. In Freiburg gab das Alemannische den Ton an, ein ins Beamtenbadische erweichtes Alemannisch mit fallenden Kadenzen. Das Bayerische, das ich auf Münchens Straßen hörte, wirkte demgegenüber energievoller, kräftiger, es wurde rascher gesprochen, die Töne fielen nicht ab, sondern stiegen auf. Aber das Ohrenfälligste war die tiefere Lautung: durchgehend o-Töne statt a-Töne, so, als hätte man ein Lied in eine tiefere Tonart transponiert."
"Staat und Kirche - mein Thema, mein Leben lang"
"Ich hab 1964 begonnen mit dem Studium der Politikwissenschaft; und Hans Maier hat eine Vorlesung angeboten: ‚Hobbes, Rousseau und Hegel – drei Denker des modernen Staates.‘ Ich war mit Begeisterung dabei, weil Maier einen faszinierte, wie er vorgetragen hat."
Ursula Männle frühere Landtags- und Bundestagsabgeordnete der CSU, heute Vorsitzende der Hanns-Seidel-Stiftung – und über Jahrzehnte Wegbegleiterin von Hans Maier
Ursula Männle, Wegbegleiterin von Hans Maier (Hans Seidel Stiftung)
Sagt Ursula Männle, frühere Landtags- und Bundestagsabgeordnete der CSU, heute Vorsitzende der Hanns-Seidel-Stiftung – und über Jahrzehnte Wegbegleiterin von Hans Maier.
Der entdeckt als Wissenschaftler bald sein Interesse für die Auseinandersetzung zwischen katholischer Kirche und moderner Demokratie. Er gilt als einer der wenigen Politologen, die früh über das Verhältnis von Staat und Kirche nachdenken.
"Das war dann mein Thema, mein Leben lang, wie sich die Kirche im 20. Jahrhundert ausgesöhnt hat mit der Tradition der Menschenrechte, mit der Tradition der Demokratie. Und gewissermaßen wieder auf ihre Ursprünge zurückgegangen ist. Denn es war ja in den Anfängen der Kirche, bei den Kirchenvätern, völlig klar: Im Bereich der Religion darf man nicht zwingen."
Maiers Worte haben Gewicht, nicht nur an der Hochschule, auch bei den deutschen Bischöfen. Zwölf Jahre lang ist er Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, also eine Art oberster Laien-Katholik.
"Er war schon jemand, der versucht hat, auszugleichen und zu argumentieren. Der dann aber sich nicht unterbuttern ließ, sondern seine eigene Position hatte. Und das finde ich etwas, das wirklich großartig an ihm war."
Die Wegbegleiterin Ursula Männle ist damals Vorsitzende der Katholischen Frauengemeinschaft.
Hätte Hans Maier, der im Klerus hohes Ansehen genoss, als ZdK-Präsident in Sachen innerkirchliche Reformen mehr erreichen können?
"In einem Punkt hätte ich nachdrücklicher sein können: Das ist die kirchliche Verwaltungsgerichtsbarkeit. Da mangelt es bis heute. Und die große Schwierigkeit der Kirche auch im Umgang mit den Missbrauchsfällen liegt auch daran, dass sie keine entsprechende verwaltungsgerichtliche Tradition hat."
Engagement für die Schwangerschaftskonfliktberatung
Und dann tobt da noch vor rund 20 Jahren der heftige Streit zwischen Deutschland und Rom um die Schwangerschaftskonfliktberatung von Frauen, die eine Abtreibung erwägen.
Hans Maier engagiert sich für den kirchenunabhängigen Beratungsverein ‚Donum Vitae‘. Dieser stellt weiterhin die seitens des Vatikans unerwünschten Beratungsscheine aus.
Und so zieht Maier, der Amtskirche eigentlich gewogen, den anhaltenden Zorn einzelner Bischöfe auf sich.
Eine besondere Beziehung pflegt Hans Maier zu Joseph Ratzinger. Anfang der 70er Jahre veröffentlichen die beiden das Buch ‚Demokratie in der Kirche‘, übersetzt in mehrere Sprachen. Sie gründen aus Sorge um neu aufbrechende kirchliche Konflikte nach dem Konzil mit anderen die ‚Internationale Katholische Zeitschrift Communio‘. Später, im Streit um die Schwangerschaftskonfliktberatung wendet sich Maier an Ratzinger, den damaligen Präfekten der Glaubenskongregation. Doch sie gehen, so schreibt er wörtlich, "unverrichteter Dinge auseinander – in der Sache unversöhnt".
Was beide verbindet, ist die Wissenschaft – und die gemeinsamen Wurzeln in Liturgie und kirchlicher Tradition.
"Das Kirchenjahr ist gewissermaßen unabhängig von den politischen Zeitläuften. Es geht durch die Zeiten hindurch. Und einen solchen Orientierungspunkt, finde ich, muss man haben, wenn man nicht untergehen will im täglichen Getriebe. Das ist ein wichtiges Element in meinem Leben."
Hans Maier ist ein politischer Denker und zugleich verwurzelt in der katholischen Volksfrömmigkeit. Der Glaube ist sein Fundament, die Kirche der Ort des Engagements, die Universität seine berufliche Wirkungsstätte.
1970 bringt eine Wende: Der Hochschulprofessor wird, wie er selbst sagt, "Wissenschaftler in politischer Verantwortung" – als Bayerischer Staatsminister für Unterricht und Kultus.
"Ein solches Amt zu übernehmen, war zweifellos riskant. Die Kulturpolitik steckte damals in allen Ländern in einer Krise – selbst hartgesottene Profis schreckten vor einem solchen ‚Schleudersitz‘ zurück. Wie sollte ich, als Parteiloser, als Außenseiter, ohne Landtagsmandat, ohne Hausmacht, ohne politische Erfahrung, in einer so schwierigen Situation Erfolg haben?"
"Ungeduld ist eine typische Eigenschaft der Wissenschaftler, die sich der Politik zuwenden. Ich habe lernen müssen – und hab’s zum Glück rasch gelernt – Recht haben nützt in der Politik noch gar nichts. Man muss Recht bekommen."
Ein politischer Intellektueller und ein intellektueller Politiker
Schnell gewinnt der neue Kultusminister Fraktion und Partei für seine Politik. In seinem Ressort reformiert er die Hochschulen, Schulen und Kindergärten. Neue Universitäten werden gegründet, der Denkmalschutz maßgeblich gestärkt.
"Maier konnte im Landtag geschliffenst, druckreif eingehen auf Argumente. Er war das intellektuelle Gewissen der CSU. Er hat mit Argumenten brilliert und war von daher in den Anfangsjahren wirklich der Star. Man hat sich mit Maier geschmückt. Man war stolz darauf, ihn gewonnen zu haben", sagt Ursula Männle.
16 Jahre lang verantwortet Hans Maier die bayerische Kulturpolitik. Auf dieser Bühne ist er eine Ausnahmeerscheinung, ein politischer Intellektueller und ein intellektueller Politiker. Der nicht in Twitter-Sätzen spricht, sondern einen differenzierten, leisen Stil pflegt.
Heute gilt Maier in der CSU als Liberaler. 1970 indes baut er als Mitbegründer des ‚Bundes Freiheit der Wissenschaft‘ eine Gegenposition zu den 68ern auf, gemeinsam etwa mit Roman Herzog und Ernst Nolte. Die Vereinigung ist zwar auch für eine Hochschulreform, lehnt jedoch die Radikalität der 68er vehement ab. Und so erhält Maier das Label ‚Der Konservative‘.
Eine Schublade, in der er sich zu Unrecht sieht. Sein Argument: 1968 habe die Begründungspflicht auf den Kopf gestellt.
"Vorher war das Neue begründungspflichtig. Jetzt war das Festhalten am Alten plötzlich begründungspflichtig. Das war eine einseitige Verschiebung, die man regulieren musste. Heute scheint mir die Balance nach der anderen Seite wieder verloren zu gehen. Vieles bewegt sich nach rechts, was ich scharf kritisiere. Insofern gibt es in mir auch eine linke Position, die sich eigentlich immer durchgehalten hat."
"Er war immer eher der Intellektuelle, der mit dem Florett gefochten hat und einfach nicht draufgehauen hat. Ich glaube schon, dass ihm der Stil, der manchmal herrschte, zuwider war. Ich kann mir schlecht vorstellen, dass er sich immer wohlgefühlt hat", so Ursula Männle.
"Die letzten Jahre, die ich im Kabinett Strauß II verbrachte, waren schwierig. Es kam zu Auseinandersetzungen, zu Zuspitzungen bis ins Persönliche hinein. Die Luft wurde dünner."
Das Aus als Kultusminister kommt im Oktober 1986: Ministerpräsident Franz Josef Strauß macht aus dem einen Ministerium zwei Geschäftsbereiche. Er bietet Maier das Ressort Wissenschaft und Kunst an, der aber lehnt ab.
Publizist über Fächergrenzen hinweg
1988 geht der Wissenschaftler zurück an die Hochschule. Allerdings nicht zurück an sein früheres politikwissenschaftliches Institut. Sondern Maier folgt zwei der wichtigsten katholischen Theologen des 20. Jahrhunderts nach. Er übernimmt in der Philosophischen Fakultät der LMU München den Guardini-Lehrstuhl für christliche Weltanschauung, Religions- und Kulturtheorie. Als Nachfolger von Eugen Biser und Karl Rahner.
"Es war zwar nicht sehr schön, wie meine politische Laufbahn beendet wurde. Aber ich hab das rasch überwunden. Und ich wäre heute nicht vergleichsweise lebendig und aktiv, wenn ich nicht die Pferde gewechselt hätte."
Nun widmet er sich den neueren Diktaturen, dem Thema Totalitarismus und Politische Religionen.
Maier publiziert über Fächergrenzen hinweg: Er verfasst Werke über ‚Das Freiheitsproblem in der deutschen Geschichte‘, ein andermal ein ‚Lob des Schwätzens – Beruhigungen für Eilige‘ oder ‚Von Orgeln, Chören und Kantoren‘.
Der Politikwissenschaftler und frühere Politiker Hans Maier.
Hans Maier kommt auf bis zu 70 Veröffentlichungen im Jahr (Deutschlandradio / Burkhard Schäfers)
Überhaupt das Reden und Schreiben: Hans Maier ist Mitglied der ‚Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung‘. Er fungiert als Herausgeber der Wochenzeitung ‚Rheinischer Merkur‘.
In Spitzenzeiten kommt der Publizist auf 70 Veröffentlichungen im Jahr – Bücher, Aufsätze, Rezensionen, Zeitungstexte. Und Radiobeiträge, auch für den Deutschlandfunk:
Juni 2001: ‚Politisches Feuilleton: Europas Zukunft – die postchristliche Gesellschaft‘:
"Gäbe es das Christentum in Europa nicht mehr, was wäre dann in unserem Alltag anders? Wahrscheinlich gäbe es keine 7-Tage-Woche mehr. An ihre Stelle, an die Stelle des jüdischen Schabbat, des christlichen Sonntags, wäre die Dekade getreten, eine 10-Tage-Woche, wie sie bereits in der französischen Revolution und später im Leninismus und Stalinismus als Alternative zum überlieferten Kalender erprobt wurde."
"Musik, eine Ruhepause im täglichen Betrieb"
"Musik war für mich immer eine Ruhepause im täglichen beruflichen Betrieb. Sowohl in der Wissenschaft wie in der Politik. Ein Kamin, durch den viel Rauch abzieht, so hab ich das einmal genannt."
Hans Maier ist nicht nur groß gewachsen. Er hat auch jene Größe, die es erlaubt, über vielem zu stehen.
Das mag an seinem Sinn für Kunst liegen. Statt sich in eine Sache zu verbeißen, kann er sich den schönen Seiten des Lebens widmen. Das Arbeitszimmer in seiner Münchner Wohnung ist voll mit Büchern - bis unter die Decke; aber am Fenster ist Platz fürs Klavier. In seiner Pfarrei spielt er sonntags Orgel.
"Der Priester am Altar singt manchmal gut, manchmal schlecht. Er detoniert, der verlässt die Höhe. Dann muss der Organist transponieren."
Sein Handwerk lernt Maier schon als Schüler, denn der eigentliche Organist ist damals im Krieg. In der Musikschule lernt er die zugehörige Theorie:
"Kurt Boßler, ein kleiner verwachsener Mann, Komponist und Improvisator, ein begnadeter Lehrer, brachte uns Musikschülern Harmonielehre bei, ließ uns Melodien mehrstimmig aussetzen, spielte uns Akkorde und Tonfolgen vor, die wir auf Notenpapier festhalten mussten. Durch solche ‚Gehörsdiktate‘ lernte ich Musik nicht nur hören, sobald sie erklang, sondern schon, wenn sie in Noten vor mir lag – ein Gewinn fürs ganze Leben."
Heute sitzt Hans Maier in seiner "Komponierstube", so nennt er sein Arbeitszimmer, und verfasst Texte und Reden – wie seit mehr als 70 Jahren. Der Wissensdurst, das Interesse an Politik, Religion, Philosophie und Kunst, die Freude, mit Sprache zu arbeiten, ziehen sich wie ein roter Faden durch die Biografie des katholischen Intellektuellen.
"Ich bin sehr dankbar, dass ich mitbekommen habe eine ständige Neugier. Mir sagen oft Leute: ‚Du kümmerst dich um viel zu viele Dinge, lass das doch mal sein, genieße einfach das Leben.‘ Aber für mich ist das der Genuss des Lebens, immer wieder neue Dinge erschließen zu können. Und ich hoffe, dass mir diese Fähigkeit auch erhalten bleibt."