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Der Ketzer

Der historische Roman ist schon oft totgesagt worden oder zumindest hat man ihn - trotz der erzählerischen Höhen von Flauberts Salammbo^ oder Thomas Manns Josephs-Trilogie eher gering geschätzt. Auch der Spanier Miguel Delibes, dessen Werk sich zu einem Gebirge von Titeln auftürmt, ist nicht mit historischen Romanen bekannt geworden, sondern ist eher mit ländlichen Themen in Spanien ein viel gelesener Autor.

Hans-Jürgen Schmitt |
    Doch Delibes hat mit seinem neuen Roman "Der Ketzer" überrascht - nicht nur wegen der 350 000 Exemplare , die in Spanien verkauft wurden. Er bindet die Ingredienzien eines guten Romans in einem dichtgeknüpften Erzählteppich: packende Handlung, intensive Dialoge, bilderreiche, poetische wie dramatische Szenen; aufgerollt an einem historischen Thema mit der aufschlußreichen, fiktiven Biographie eines Mannes, der zum Ketzer werden mußte. Der Titel läßt es schon ahnen: auf die finsterste Seite Spaniens: die Inquisition richtet der Erzähler seinen Blick. Dargestellt an Ereignissen, die für das tiefgläubige, katholische Spanien gar keine Gefahr darstellten: die Aufdeckung und Vernichtung eines kleinen lutherischen Zirkels in Valladolid, Mitte des 16. Jahrhunderts, in Hofes Nähe. Dort residierten die kastilischen Könige seit Mitte des 15. Jahrhunderts. Miguel Delibes hat den Roman Der Ketzer seiner Stadt Valladolid gewidmet, wo er 1920 geboren wurde und wo er auch heute lebt. Nicht der Ort allein, wie sich zeigen wird, erklärt sein Interesse am Thema Häresie.

    Der spanischen Inquisition haftet nicht nur das Odium besonderer Verruchtheit an, sie hat auch am längsten in Europa gedauert- bis zum Tode des letzten Großinquisitors 1835. Es war nicht allein dieser Religions- und Staatsterror, dem die Menschen unterworfen wurden, sondern die Abschottung gegen die Moderne, die Spanien in die Isolation trieb. Karl V. und dann sein Sohn Philipp II. waren davon überzeugt, die Glaubenseinheit sei ebenso das Glück des Menschen wie das eherne Fundament des absolutistischen Staates. Sie begriffen nicht den grundsätzlichen Wandel der Welt und der Lebensverhältnisse, die mit der Reformation im 16. Jahrhundert, dem Versuch nach nationaler Staatenbildung und der Umwandlung des Wirtschaftslebens eingesetzt hatten. Ursprünglich hatte sich die Inquisition gegen die Conversos, die getauften Juden gewandt, die eine herausragende Rolle als Finanzleute im Wirtschaftsleben spielten. Ihr Eigentum wurde eingezogen, die für "unzulässig" Erklärten verbrannt. Die Historiker sprechen von Lynchjustiz. Danach galt die Verfolgung den getauften Muslimen, den sogenannten Moriscos. Als Conversos und Moriscos weithin ausgerottet waren, schien die Maschinerie der Inquisition ihr Werk erfüllt zu haben; ihre Geschichte konnte als abgeschlossen gelten. Doch der bei Auftreten des Luthertums geschickt inszenierte Schrecken durch den Großinquisitor Valdés, Erzbischof von Sevilla,dem bereits Ungnade und Verbannung durch Kaiser Karl drohten, konnte die Inquisition neue Geltung zurückgewinnen und ihre Macht stärken.

    Karl V. war an den Religionskriegen schließlich zerbrochen; sie hatten seine Politik durchkreuzt, ihn niedergeworfen und 1556 zur Abdankung gezwungen. Daraufhin hatte er sich ins Kloster nach San Yuste in Estreamdura zurückgezogen, und nun dieser "Aufruhr" in Valladolid ,in der Nähe des Hofes. Valdés erhielt Befehle: Karl verlangte:

    "Eile, Strenge und harte Strafen, daß diesem großen Übel ein Ende bereitet werde und man die Schuldigen ohne Ausnahme auf das härteste verurteile und bestrafe." Ein historisches Zitat, das in Delibes' Roman kursiv kenntlich gemacht ist.

    Wegen der Furcht vor Ketzerei, dem Einfluß fremder Ideen, dem Fortschitt in Wissenschaft und Kultur stellte sich die Inquisition, und somit das Land Spanien, wie ein Bollwerk der Neuzeit entgegen und befand sich so noch Mitte des 19. Jahrhunderts im Mittelalter. Daß die kleine protestantische Bewegung von ca. 60 Mitgliedern dies ausgelöst hatte, ist ihre eigentliche Bedeutung. Insofern hat Delibes' Thema nichts Zufälliges; an seiner Wahl exemplifiziert er, warum Spanien Begriffe wie "Aufklärung" und "Toleranz" nicht kannte, als im übrigen Europa darum gerungen wurde. Darauf spielt schon das Prologkapitel an. Eine Schiffahrt von Hamburg nach Laredo an der spanischen Atlantikküste dient Delibes, um den geistigen und historischen Hintergrund der Romanhandlung zu fokusieren. Kapitän Berger ist Lutheraner wie sein Passagier, der erfolgreiche Geschäftsmann und Pachtherr Cipriano Salcedo; dieser war von seiner verunsicherten Gemeinde in Valladolid nach Deutschland geschickt worden, um von Melanchthon Mut und Trost zu bekommmen - und Bücher gefährlichen Inhalts mitzubringen;Schriften von Luther, Melanchthon, Erasmus, zwei Bibeln. Beim Gespräch über die Zensur begründet Salcedo dem Kapitän seine Bücherfracht:

    "' Wußtet Ihr, daß aufgrund der Bibelzensur, die vor drei Jahren in Valladolid eingeführt wurde, über hundert verschiedene Ausgaben des Buchs der Bücher zurückgezogen werden mußten, meistenteils solche von protestantischen Autoren??' Kapitän Berger lächelte, und seine Zähne leuchteten im Dunklen. 'Wir Schiffskapitäne sind Experten auf diesem Gebiet. In den letzten zwanzig Jahren leben wir in ständiger Angst. Im Jahre 1528 habe ich zweihundert Exemplare einer dieser Bibeln , von denen Ihr sprecht, in zwei Fässer versteckt nach Santona gebracht. Es ist nichts geschehen. Damals waren Fässer noch unverdächtig. Heute kommt ein Buch in einem Faß einer Bombe gleich.' 'Und wann hat sich die Lage verändert?' 'Im Jahre 1530 gelangten zehn große Fässer mit Büchern an Bord dreier venezianischer Galeassen nach Valencia. Man fing sie ab, und der Fund erregte die Aufmerksamkeit der Inquisition. Unter den Schriften befanden sich Dutzende der schärfsten Werke Luthers, alles, was er auf der Wartburg geschrieben hat. Die Inquisition veranstaltete ein wahres Autodafé. Die Kapitäne der Galeassen wurden gefangengesetzt, und auf dem Marktplatz der Stadt gingen unter dem begeisterten Johlen des leseunkundigen Volkes Hunderte von Büchern auf einem gewaltigen Scheiterhaufen in Flammen auf. Die Inquisition ist stets auf große Schmuggelpartien aus, um daraus ein Volksschauspiel zu machen.' Die stille, sternklare Nacht lud ein zu vertrautem Gespräch. Salcedo rührte sich nicht. Er wartete darauf, daß Kapitän Berger weitersprach. Er war sich dessen gewiß und wartete ab, während er ihm in die Augen sah. 'Bücherverbrennungen sind in Spanien zur Normalität geworden'; sagt dieser schließlich.' Über jene von Salamanca spricht man heute noch. Die kultivierteste Stadt der Welt verbrennt die Mittler der Kultur - das ist und bleibt ein Widerspruch... Salcedo lächelte schwach. 'Die Inquisition', sagte er, 'wird immer unerbittlicher. Jetzt sollen die Priester die Gläubigen bei der Beichte dazu anhalten, jene zu denunzieren, die verbotene Bücher verstecken. Wer sich weigert, erhält die Absolution nicht. Weder die Bischöfe noch der König sind ausgenommen."

    Worauf hier und an anderer Stelle im Roman immer wieder angespielt wird bzw. was seinen spezieller politischer Hintergrund ausmacht, läßt sich auch nachprüfen in der bis heute unübertroffenen dreibändigen Geschichte der spanischen Inquisition des Amerikaners Henry Charles Lea, die erstmals 1908 auf deutsch herauskam. Sie ist eine Kriminalgeschichte sui generis. Die bei Lea namentlich genannten Mitglieder der lutherischen Sekte und wie sie aufgedeckt und hingerichtet wurden übernimmt Miguel Delibes.

    Die Historie steht fest. Doch Erzählen heißt ja auch immer wieder, exemplarisch von Schicksalen reden, von uns nahegebrachten Menschen. So eingebunden in den geschichtlichen Prozeß, unterscheidet sich der Roman vom einschlägigen Fachbuch oder der rein historischen Darstellung. Beides, Historie und Fiktion, vermag Delibes sehr gekonnt zu verschmelzen. Er dankt am Ende des Romans einer Reihe namentlich genannter Historiker, deren Bücher ihm geholfen haben, eine Epoche des 16. Jahrhunderts zu "rekonstruieren".

    Das in drei Teilen sich entwickelnde Geschehen trägt die Überschriften: "Erste Jahre", "Die Häresie", "Der Ketzer". Der Leser wird zunächst mit dem Leben in Valladolid vertraut gemacht am Beispiel der Familie Salcedo.

    Der Sohn Cipriano, der spätere Ketzer, wird erst nach zehnjähriger Ehe geboren, seine Mutter stirbt im Kindbett, weshalb der Vater Don Bernardo den Sohn "kleinen Muttermörder" nennt und ihn zeitlebens ablehnt. Daß Cipriano Sacedos Schicksal prädisponiert ist, deutet der Erzähler Delibes mit dem Geburtsdatum an: 31. Oktober 1517, der Tag, da Luther seine 95 Thesen am Tor der Schloßkirche zu Wittenberg anschlug.

    Eine Amme, die junge Minervina , die aus einem Dorf kommt, wo Schule und Glaubensunterweisung dasselbe sind, zieht Cipriano auf, und sie wird ihn auch in seiner letzten, schrecklichen Stunde zum Scheiterhaufen begleiten. Sie lehrt das Kind die religiösen Übungen, von denen die Kirche meint, sie seien das Glück des Menschen:

    "Für Minervina war Zwiesprache mit Gott und Lernen dasselbe. Diese Gleichsetzung war so tief in dem Mädchen verwurzelt, daß sie bereits vor Ciprianos siebtem Lebensjahr allmorgendlich eine Stunde der religiösen Formung des Kleinen widmete. Anfänglich sah der Junge in der Neuerung einen Zeitvertreib. Minervina unterwies ihn an dem kleinen Tisch unter der Dachluke des Kämmerchens, in dem Cipriano schlief. Zunächst brachte sie ihm bei, sich zu bekreuzigen, ein Zeichen des Glaubens, das Minervina vor zwanzig Jahren mühsam gelernt hatte, Cipriano jedoch keinerlei Schwierigkeiten bereitete."

    Hier wird bereits Ciprianos überdurchschnittliche Auffassungsgabe angedeutet. Die Findlingsschule, in die ihn der Vater zum Entsetzen der Verwandtschaft steckt, weckt sein soziales Gewissen: den Vater, den er als Kind fürchtete, haßt er jetzt auch wegen seines Reichtums. Seine Urängste lassen ihn keinen Seelenfrieden finden, darin auch deutet sich sein späteres Suche nach innerer Befreiung an. Aber er lernt auch schon den religiösen Kampf kennen, da die Zöglinge im Schulhof in zwei Parteien aufeinanderschlagen. Diese jungen Befürworter und Gegner des Erasmus von Rotterdam wissen nichts von ihm.

    Als der Vater an der Pest stirbt, wird der Onkel Ciprianos Vormund und nimmt ihn in sein Haus auf:

    "Anders als erwartet, war es nicht das protzige Domizil eines Großbürgers, sondern das behagliche, freundliche Heim eines gebildeten Mannes. Cipriano verbrachte Stunden in der Bibliothek, die mehr als fünfhundert Bände umfaßte, von denen einige in Valladolid gedruckt worden waren, volkssprachliche Übersetzungen von Juvenal, Sallust und der Ilias. Die lateinischen Dichter waren fast vollständig versammelt, und mit der Zeit entdeckte Cipriano die Lust am Lesen, an dem intimen, stillen Vorgang, ein Buch aufzublättern..."

    Der erste Teil des Romans schließt mit der Entdeckung der körperlichen Liebe des 14jährigen Cipriano zu seiner ehemaligen Amme Minervina, die ins Haus des Onkels als Dienstmagd geholt worden war.

    Die Irritation des herangewachsenen Jungen, die zarte Annäherung, die Mischung aus kindlicher Geborgenheit und Verlangen sind von Delibes subtil entwickelt. Die Liebesszenen enden in einer Schlüsselszene, die für den erwachsenen, sich bekennenden Lutheraner entscheidend sein sollte, seine Standhaftigkeit vor den später von ihm in Frage gestellten Sakramenten der Kirche:

    "Als sie ...allein waren, versanken Minervina und er ineinander, als sei dies die natürlichste Sache der Welt. Ohne es sich einzugestehen, hatten sie ungeduldig auf diesen Augenblick gewartet. Instiktiv gab sie ihm wieder die Brust, säugte ihn, und er klammerte sich an sie wie ein Gnadenbild. Sie lagen nackt auf Minervas schmalem Bett, und die ängstlichen Bedenken steigerten das Verlangen nach Vereinigung noch. Er liebte sie dreimal, und als es vorüber war, empfand er eine Art Ekel vor sich selbst bei dem Gedanken, daß er das Mädchen entehrte. Er gestand ihr seine Liebe, die Reinheit seiner Zuneigung zu ihr, doch er konnte nicht aufhören, hinter all dem das schmutzige Abenteuer des jungen Herrn zu sehen, der es mit dem Dienstmädchen trieb. Er suchte einen anderen, unbekannten Beichtvater in San Gregorio auf.

    'Ich bekenne mich schuldig, Pater meiner Amme beigewohnt zu haben, aber ich kann keine Reue empfinden. Meine Liebe ist stärker als mein Wille.' 'Liebst du sie, oder begehrst du sie?' 'Ich begehre sie, Pater, weil ich sie liebe. Ich habe noch nie jemanden so geliebt wie sie.'Aber du bist noch ein Knabe. Du wirst sie nicht heiraten können..' 'Ich bin vierzehn, Pater. Mein Vormund würde es nicht verstehen.' Der Prister zögerte. Schließlich sagte er: 'Aber wenn du nicht bereust, mein Sohn, kann ich dir nicht die Absolution erteilen.' 'Das verstehe ich, Pater. Ich werde ein andermal wiederkommen.'"

    Delibes Schilderungen des mittelalterlichen Alltagslebens in Valladolid, in dem er den Erfolgsweg des jungen Cipriano Salcedo vom Doktor der Rechte zum erfindnungsreichen Unternehmer einer Pelzwerkstatt erzählt, lesen sich als spannender Sittenspiegel.

    Es gelingt Salcedo gar, sich zum von Steuern befreiten Hidalgo wählen zu lassen. Gleichzeitig aber strebt er wirtschaftliche Reformen an, möchte die Löhne seiner Arbeiter erhöhen, schließlich an seinem Unternehmen die Mitarbeiter beteiligen. Der Onkel rät ihm zur Vorsicht.

    Ciprianos Unruhe und sein Schuldgefühl wegen seiner kinderlos bleibenden Ehe, -seine Frau stirbt schließlich in einer Anstalt in Umnachtung-, läßt ihn mit dem Kreis der Lutheraner in Berührung kommen.

    Die nun auftauchenden Personen ab dem 2. Teil sind alle historisch belegt, aber es ist die große Leistung Miguel Delibes', sie als lebendige Gestalten dem Leser nahezubringen. Hauptfigur ist Doktor Agustino Cazalla, Hofprediger und königlicher Kaplan, der ob seiner Predigten weit über Spanien hinaus bekannt war. Karl V. hatte ihn 1543 darum auf eine Deutschlandreise mitgenommen, wo bei den Streitigkeiten mit den Ketzern vielleicht zunächst unbewußt sein Glaube erschüttert wurde:

    "Er predigte freitags in der zum bersten gefüllten Jakobskirche, ein durchgeistigter, beseelter, feingliedriger Mann. Von schwacher , leidender Konstitution, hatte er Momente wirklicher Exstase, gefolgt von etwas unberechenbaren Gefühslausbrüchen. Cipriano lauschte ihm hingerissen, doch zu Hause beschlich ihn ein gewisses Unbehagen. Er erforschte seine Seele, ohne den Grund für seine Unruhe zu finden. Im allgemeinen konnte er Cazallas ruhig vorgetragenen, kurzen und gut aufgebauten Bibelpredigten leicht folgen, und zum Schluß blieb ein Grundgedanke, eine einzige aber klare Schlußfolgerung. Die Ursache für seine Unruhe lag also nicht in der Essenz seiner Predigten. Sie lag nicht in dem, was er sagte, sondern vielleicht, was er verschwieg, oder in mehr oder weniger ausschweifenden Nebensätzen andeutete."

    Der ganze II. Romanteil Häresie wird bei Delibes keine trockene Abhandlung; zum einen ist Ciprianos Leben überschattet von der Vergeblickeit des ehelichen Liebeslebens, das qualvoll und brutal endet. Zum anderen wird er vorsichtig in den Kreis der Häretiker geführt, z.B. auf einer spannenden Rebhuhn -Jagdpartie mit dem Bruder von Cazalla, der Dorfpfarrer ist.

    Delibes kennt sich auf dem Lande gut aus und hat in anderen Erzählungen und Berichten viel über das Jagdhandwerk geschrieben.

    Höhepunkt des Romans ist der letzte Teil, Der Ketzer. Und zwar hinsichtlich der Dramatik wie auch in der Darbietungsform.

    Einige einfachere Mitglieder der Konventikel, die im Hause der Schwester des Doktor Callaza stattfanden, verrieten sich , sei es durch unbedachte Äußerungen oder durch forcierten, unüberlegten Glaubeseifer. Die Bekehrten wurden in der Beichte gezwungen, ihre Verführer anzuzeigen. So flog die Gruppe im Jahre 1558 auf. Drei , darunter Cipriano Salcedo, suchten zu fliehen. Sie wurden wenige Tagesritte von Valladolid verhaftet und zurück ins Inquisitionsgefängnis gebracht; unterwegs waren sie dem Haß der Bevölkerung ausgesetzt, die sie lynchen wollte. Nun schlug die Stunde des Großinquisitor Valdés:

    " Wie Salcedo vorgesehen hatte, ließ es sich nicht vermeiden, die Gefangenen paarweise festzuhalten. Die Inquisitionskerker in der Calle Pedro Barrueco, die in normalen Zeiten ausreichten für die gelegentliche Unterbringung von festgenommenen Conversos, oder Moriskos, erwiesen sich als zu klein für den Zustrom der Protestanten. Bei der großen Anzahl von Festnahmen verfügte die Inquisition über ein Gefägnis mit lediglich fünfundzwanzig Zellen und einem Neubau im Viertel San Pedro, von dem gerade die Grundmauern standen. Valdés blieb nichts anderes übrig, als von einer Trennung der Gefangenen abzusehen und sie zu zweit oder zu dritt oder im Fall der Nonnen aus dem Belén Kloster gar zu fünft in einer Zelle unterzubringen."

    Ein schöner Trick des Erzählers macht den Fortgang der Ereignisse im Gefängnis noch dramatischer. Man hat Cipriano bei der Festnahme nur seine Waffe abgenommen, nicht sein Geld; mit dem besticht er einen empfänglichen Gefängniswärter, der ihm Auszüge aus den Verhörprotokollen der Inquisition besorgt und der auch Briefbotschaften zu einer jungen lutherischen Mitgefangen bringt, in die sich Cipriano verliebt hatte. So ist Cipriano Salcedo immer auf dem laufenden; aber es wird für ihn zur erschreckenden Erkenntnis, daß alle angesichts der ihnen angedrohten Folter ihrem neuen Glauben abschwören und die anderen anzeigen. Besonders demprimiert ist er über das erste Geständnis der Schwester des Doktors, Dona Beatritz:

    "Bestürzt blieb er reglos sitzen, während eine seltsame innere Kälte in ihm hochkroch. Sein Magen fühlte sich an,als wütete ein wildes Tier darin. Noch nie zuvor konnten so wenige Zeilen so großes Unheil angerichtet haben. Verzweiflung bemächtigte sich seiner. Mit allem hatte Cipriano Salcedo gerechnet, nur nicht mit Verrat innerhalb der Gemeinde. Die Brüderlichkeit, von der er geträumt hatte, bekam Risse, stellte sich als pure Illusion heraus, hatte nie existiert, konnte gar nicht existieren. Er dachte an die Konventikel, an den feierlichen Abschlußschwur der Versammlung, niemals in der Bedrängnis ihre Glaubensbrüder zu verraten. Stimmte es, was auf diesem Zettel stand? War es möglich, daß die sanfte Beatriz ohne Zögern so viele Personen verraten hatte, angefangen mit ihren eigenen Geschwistern."

    Cipriano selbst wird zweimal verhört. Das Verhör ist eine taktisch- intellektuelle des Autors Delibes,seinen Helden nicht lügen zu lassen, ohne daß er jedoch dem Inquisitior die Wahrheit sagt und sich und andere verrät:

    "Wer hat euch angestiftet Deutschland zu besuchen?' 'Ich bin Händler, Euer Hochwürden, der Schöpfer von Ciprianos Zamorros, von denen Ihr vielleicht gehört habt. Ich habe Freunde und Geschäftspartner im Ausland, zu denen ich in ständigem Kontakt stehe.' 'Gab es keine religiösen Gründe für diese Reise?' 'Mir scheint, als wollte Euer Ehren wissen, welchem Glauben ich anhänge, ist es nicht so? Wenn ich Euch sage, daß mich die Lehre von der Barmherzigkeit Christi fesselt, können wir uns einige Worte sparen. Und wenn man dieser Lehre folgt, muß man zwangsläufig auch andere Dinge akzeptieren, die aus ihr folgern.' 'Ihr gebt also zu, daß Ihr in den letzten Jahren im Irrtum gelebt habt?' 'Irrtum ist nicht das rechte Wort, Euer Ehren. Ich glaube aufrichtig an das, woran ich glaube.' 'Ihr versucht Euch meinen Fragen zu entziehen, doch vergeßt nicht, daß ich über wirksame Methoden verfüge, um Eure Zunge zu lösen. Habt Ihr schon einmal von der Folter gehört?' 'Unglücklicherweise Euer Ehren. 'Und vom Fegefeuer?' 'Ebenfalls Euer Ehren. Glaubt Ihr daran?' 'Wenn ich glaube und anerkenne, daß Christus für mich gelitten hat und gestorben ist, erübrigt sich jede zeitliche Strafe. Alles andere hieße an seinem Opfer zu zweifeln."

    Da Cipriano standhaft bleibt, wird er wenig später der Folter unterzogen. Der Flaschenzug renkt ihm nicht die Glieder aus, weil sein Körper leicht und klein ist. Dann wird das Streckbett angewandt.

    Erstaunlich wie Delibes solche und andere grausame Szenen gelingen,- die sich nun, da die Inquisitionsmaschinerie im Gange ist,bis zu Autodafé und Tod durch Scheiterhaufen häufen. Was dort Delibes schildert, erinnert an Kafkas Prosa In der Strafkolonie. Beschreibt dieser freilich aus der Sicht des Henkers, der sich ja dann selbst zum Opfer macht, so schildert Delibes die Auswirkung der Folter aus der Sicht des Opfers; er beschreibt sehr nuanciert dessen Gefühle und verhindert so billige Gruseleffekte:

    "Die ersten Umdrehungen empfand Cipriano beinahe als angenehm. Die Apparatur dehnte seine Gliedmaßen, die in den letzten Monaten steif geworden waren. Aber der Henker, dem nicht an seinem Wohlbefinden gelegen war, drehte so lange an dem Rad, bis die gestreckten Arme und Beine zu schmerzen begannen. Ab diesem Punkt unterbrach der Inquisitor die Folter. 'Zum letzten Mal', sagte er. 'Könnt Ihr mir sagen, wer Euch zu der verfluchten Luthersekte gebracht hat?' Cipriano schwieg. Der Inquisitor wiederholte seine Frage noch einmal, doch da der Gefangene hartnäckig schwieg, nickte er dem Henker verhalten zu. Der Mann im Talar trat zu dem Gefolterten, während der Henker an den Rädern drehte und die Glieder des Gefangenen streckte. Der einzige Vorteil dieser Foltermethode, dachte Cipriano, bestand darin, daß sie sich allmählich steigerte, so daß sich der Körper zwischen den einzelnen Umdrehungen des Rades ein wenig erholen und an den Zustand gewöhnen konnte. Doch als die Spannung sich erhöhte, fuhr Cipriano ein durchdringender Schmerz in Schulten und Fußgelenke. Es war, als versuchte eine gewaltige, sich langsam steigernde Kraft, ihm die Knochen auszurenken, sie auseinanderzureißen. Aber im Einklang mit seiner alten Lebensphilosophie ließ er sich plötzlich auf den Schmerz ein, nahm ihn an. Er glaubte, daß der Schmerz, so stark er auch sein mochte, ihn nicht mehr berühren und sanfter und erträglicher werden würde, wenn er sich ihm einmal ergeben hatte. Doch zu dem heftigen ersten Schmerz kamen weitere im Rückrat, in Ellbogen und Kniegelenken, in den Ansätzen von Muskeln und Sehnen. Er öffnete die Augen ein wenig, als der Henker die Folter unterbrach, um dem Inquisitor Gelegenheit zu geben, seine Fragen ein weiteres Mal zu stellen, aber angesichts seines verstockten Schweigens begann er erneut an den Rädern zudrehen, bis die Summe aller Schmerzen zu einem einzigen Schmerz wurde, der sein Rückgrat zerbarch und ihn in Stücke riß. Die angespannten Nerven, die in seinem Gehirn zusammenliefen, übermittelten einen furchtbaren bohrenden Schmerz, der immer intensiver wurde, bis er einen unerträglichen Punkt erreichte. Das war der Moment, in dem er sein Bewußtsein verlor, er stieß einen entsetzlichen Schrei aus, und sein Kopf sank auf die Brust."

    Der historisch verbürgte einzige Märtyrer hieß Bakkalaureus Herrezuelo, den man nur geknebelt vorführen konnte, weil er seine Schmähungen und Verachtungen allen ins Gesicht schleuderte. Er kommt auch bei Delibes vor; allerdings als durch die Folter wahsinnig Gewordener.

    Am 21. Mai 1559 fand das erste von drei Autodafés in Valladolid statt, auf dieses bezieht sich auch Delibes. 14 Tage vorher hatte man für das grausige Schauspiel Reklame gemacht und auf der Plaza Mayor eine Holzbühne mit 2000 Sitzplätzen errichtet. Dort im Angesicht des Königstellvetreters fand das Autodafé statt, die Scheiterhaufen befanden sich draußen vor der Puerta del Campo. Als die Verurteilten im Gefängnis zusammengeführt werden, um zum Richtplatz gebracht zu werden, hält Delibes den historischen Umstand des gegnseitigen Verrats fest:

    "Ein großer Teil der Anwesenden hatte einander verraten, hatte falsch geschworen und versucht, sich auf Kosten des anderen zu retten, und nun gingen sie Begegnungen, Blicken, Erklärungen aus dem Weg. Auch Pedro Cazalla wich Cipriano aus. Als er ihn entdeckte, zog er sich in eine dunkle Ecke des Vorraums zurück, wo er unbemerkt bleiben konnte. Pedros Aussage war, wie die seiner Schwester Beatriz, schonungslos gewesen. An die zehn Gefangene hatte sie denunziert. Dennoch trug auch Pedro Cazalla das Büßerhemd mit den aufgenähten Flammen und Teufeln, an dem man die zum Tode Verurteilten erkannte...Zweifelos waren er und sein Bruder Agustín, Anführer der Sekte, diejenigen, denen in dieser Hölle aus Voreingenommenheit und Verdächtigungen am meisten Verachtung entgegegenschlug.

    Die irren Augen des Bakkalaureus Herrezuelo sprangen mit grenzenloser Verachtung von dem einem zum anderen. Er konnte sie nicht anspucken oder ohrfeigen, aber sein wahnsinniger Blick sagte alles. Man hatte ihm die Hände auf den Rücken gefesselt, um zu verhindern, daß er sich den Knebel herausriß..."

    Es geht Miguel Delibes nicht darum, aus Cipriano einen Helden zu machen, indem die übrigen schwach und haltlos ihre Glaubensprinzipien abgeschworen und einander verraten haben. Die Stärke des Romans liegt nicht zuletzt darin, daß es dem Autor gelungen ist, die historischen Personen als Menschen mit allen Schwächen zu zeigen. Zum Helden und Märtyrer sind wenige geboren. Auch die Romanfigur Cipriano Salcedo, zwar glaubwürdig prädisponiert für ihr Schicksal,wird mit allen Begabungen und Besonderheiten, aber auch mit allen menschlichen Unzulänglichkeiten vorgeführt. Insofern ist Cipriano trotz seiner Standhaftigkeit, die ihn zum Märytyrer machte, eher ein "mittlerer Held", um einen Romanterminus von Georg Lukács zu gebrauchen. Mittlerer Held insofern, als er aufgrund seiner Eigenschaften, seiner Herkunft, seiner Tätigkeit mit den unterschiedlichsten Schichten der Gesellschaft in Beziehung treten kann. In der Tat spiegelt so Miguel Delibes' Roman Der Ketzer eine gesellschaftliche Totalität des finsteren mittelalterlichen Spaniens, dessen negative Auswirkungen bis in die Neuzeit nachwirkten. Allein die letzten 25 Seiten, die Schilderung von Autodafé und Scheiterhaufen, sind nicht nur dramatischer Höhepunkt, sondern beschämendes Zeugnis der despotischen Einheitsgewalt von Staat und Kirche.

    Die Spanier haben noch einmal unter Franco zu spüren bekommen, was diese unheilvolle Verschwisterung bedeutete. Bis heute hat die spanische Kirche für ihre Rolle damals nicht um Verzeihung gebeten.

    Wenn ein Romancier mit Ende siebzig noch ein Werk vorlegt, so spricht man gern, wenn das Buch im Rahmen der Erwartungen bleibt, etwas despektierlich von einem Alterswerk. Im Fall des Ketzers hat Delibes jedoch alle Register seines Könnens vereint und mit seinem Roman ein eindrucksvolles Sittengemälde geschrieben, das die Muster des historischen Romans virtuos transzendiert.