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Ethik und Verantwortung
Der Klimawandel: Eine Ungerechtigkeit

Dass der Klimawandel menschengemacht ist, sagt uns die Wissenschaft. Die Philosophie sagt außerdem, dass er ethische Probleme aufwirft. Aber was heißt das genau? Sind wir alle an ihm Schuld? Tragen wir eine Verantwortung für zukünftige Generationen?

Von Hannes Bajohr |
Luftaufnahme der Verwüstungen durch das Hochwasser in dem Eifel-Ort Schuld im Ahrtal
Passive Ungerechtigkeit kann neben zu langsamer oder fehlerhafter Reaktion im Katastrophenfall auch in unzureichender Vorsorge bestehen wie beispielsweise hier im Ahrtal (imago images / Reichwein / Christoph Reichwein (crei) via www.imago-images.de)
Als der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts am 24. März 2021 sein sogenanntes Klimaurteil verkündete, erregte das höchste deutsche Gericht Aufsehen mit seiner Entscheidung. „Zum ersten Mal“, schrieb das Wissenschaftsmagazin "Nature", hatte „ein Gericht bestätigt, dass eine Regierung die Fürsorgepflicht für seine Bürger verletzt, wenn es zu wenig gegen Emissionen unternimmt“.
Das Urteil war wegweisend, weil es mit ihm und vielen ähnlichen Beschlüssen nun möglich wird, künftige Gesetzesvorhaben ebenfalls auf ihre Vereinbarkeit mit den Zielen der Emissionsreduktion hin zu überprüfen. Damit öffnet sich dem Klimaschutz der Rechtsweg. In der Tat wurden weltweit bereits knapp zweitausend solcher Prozesse angestrengt. Climate litigation nennt sich die Strategie, die Klimagerechtigkeit juristisch durchsetzen will.
Der Klimawandel ist kein bloßes Unglück - er ist eine Ungerechtigkeit. Der Erste Senat urteilte, dass damit vor allem die Angehörigen der jüngeren Generationen in ihren Freiheitsrechten bedroht seien: Man bürde ihnen die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Lasten der nach 2030 noch ausstehenden Emissionsminderung auf, die dann aller Voraussicht nach so radikal und kurzfristig erbracht werden müssten, dass sie in der Ausübung ihrer grundrechtlich geschützten Freiheitsrechte stark eingeschränkt würden.
Hannes Bajohrs Essay macht sich den methodischen Ansatz der politischen Theoretikerin Judith Shklar zunutze, um mit ihrer Studie „Über Ungerechtigkeit“ und den von ihr geprägten Begriff der „passiven Ungerechtigkeit“, zu beschreiben, was die Protagonisten von Climate litigation umtreibt.
Hannes Bajohr, geboren 1984, ist Philosoph, Essayist und Literaturwissenschaftler, promovierte an der Columbia University. Derzeit ist er Junior Fellow am Collegium Helveticum in Zürich. Er arbeitet über die Philosophiegeschichte des 20. Jahrhunderts, Liberalismustheorie sowie Theorien des Digitalen und ist Herausgeber der Werke Judith N. Shklars in Deutschland. Im November 2022 erschien sein zusammen mit Rieke Trimçev verfasstes Buch „ad Judith Shklar. Leben - Werk - Gegenwart“.

Der Klimawandel ist eine Realität. Die vergangenen acht Jahre waren die in Folge wärmsten seit Beginn der Wetteraufzeichnungen, mit neuen Hitzerekorden im Sommer 2022. António Guterres, Generalsekretär der Vereinten Nationen, brachte die Situation auf der letzten UN-Klimakonferenz drastisch auf den Punkt:
„Wir befinden uns auf dem Highway zur Klimahölle und haben den Fuß noch auf dem Gaspedal.“
Dass der Klimawandel menschengemacht ist, sagt uns die Wissenschaft. Die Philosophie sagt außerdem, dass er moralische und politische Probleme aufwirft. Aber was heißt das genau? Wer ist verantwortlich für ihn – und wem gegenüber?
Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts gab im Jahr 2021 zumindest auf die letzte Frage eine Antwort, als er das sogenannte Klimaschutzgesetz kippte. Dieses schrieb zwar Emissionsminderungen vor – bis 2030 sollte Deutschland mehr als halb so viel CO2 ausstoßen wie 1990. Was nach diesem Datum zu geschehen habe, ließ das Gesetz aber offen. Doch um die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen, wie es das Pariser Klimaschutzabkommen festlegt, müssten dann ab 2030 in nur 15 Jahren auf alle weiteren Emissionen verzichtet werden. Und damit, so urteilte das höchste deutsche Gericht, würden vor allem die Angehörigen der jüngerenGenerationen in ihren Rechten beschnitten: Man bürde ihnen die Lasten der dann noch ausstehenden CO2-Minderung auf – die so radikal und kurzfristig erbracht werden müsste, dass grundrechtlich geschützten Freiheitsrechte bedroht wären.
Das Urteil war wegweisend: Mit ihm wurde möglich, künftige Gesetzesvorhaben ebenfalls auf ihre Vereinbarkeit mit den Zielen der Emissionsreduktion hin zu überprüfen. Das Besondere an diesem und inzwischen weltweit über 2000 ähnlichen Urteilen ist, dass sie Regierungen für etwas in die Verantwortung nehmen, was sie nicht tun.
Beanstandet wurde kein Regelbruch – sei es ein explizites Gesetz oder auch nur ein implizites moralisches Verbot – sondern ein Unterlassen und dessen Folgen für die Opfer, die es in Mitleidenschaft zieht.
Um die philosophischen Implikationen dieses Nichttuns zu verstehen, sind Einsichten der 1992 verstorbenen politischen Theoretikerin Judith N. Shklar hilfreich. In ihrer Studie Über Ungerechtigkeit findet sich der Begriff der „passiven Ungerechtigkeit“, der recht präzise die Frage zu beantworten erlaubt: Wem gegenüber sind Politik und Gesellschaft eigentlich verantwortlich, wenn es um den Klimawandel geht?
Shklars Begriff „passive Ungerechtigkeit“ trägt dem Umstand Rechnung, dass Ungerechtigkeit nicht immer die Folge einer aktiven Handlung sein muss, sondern auch durch Unterlassen in die Welt kommen kann: Wer nichts tut, obwohl er oder sie etwas tun könnte, um Ungerechtigkeit zu verhindern oder das Ausmaß ihrer Folgen zu mindern, verhält sich passiv ungerecht. Was jeweils als Ungerechtigkeit gilt, ist dabei freilich wandelbar.
Die Erfahrung von passiver Ungerechtigkeit hängt nämlich von den Erwartungen ab, die man in einer liberalen Demokratie plausiblerweise an staatliche Akteure und die eigenen Mitbürgerinnen stellen kann – etwa vor Katastrophen geschützt zu werden oder Hilfe zu bekommen, wenn sie eintreten. Shklar versteht passive Ungerechtigkeit nicht so sehr als moralische Kategorie, sondern vor allem politisch – als Form enttäuschter demokratischer Erwartungen.
Solche Erwartungen betreffen privates Verhalten, denn wir erwarten, dass unsere Mitbürger nicht wegsehen, wenn uns Unrecht geschieht. Sie betreffen ebenso staatliche Vertreterinnen, denn auch sie können passiv ungerecht sein, wenn sie säumig sind und ihre Dienstpflichten vernachlässigen, Maßnahmen verschleppen oder Missmanagement betreiben.
Das Ziel, passive Ungerechtigkeit zu verhindern, erschöpft sich dabei für Shklar nicht in der Suche nach den Schuldigen. Statt zu viele Ressourcen darauf zu verschwenden, die Verantwortlichen ausfindig zu machen, müsse es vor allem darum gehen, dem Leid der Opfer abzuhelfen. Sie leiden auch dann, wenn nicht das Tun, sondern das Nichtstun katastrophale Auswirkungen hat und Grausamkeit und Unfreiheit hervorbringt – und dazu zählt auch, wie das Verfassungsgericht feststellte, ein nicht eingehegter Klimawandel.
Die Karlsruher Richterinnen und Richter gingen allerdings nicht so weit, wie es die Ungerechtigkeitstheorie der Harvard-Professorin Shklar zuließe. Sie stellten explizit keinen Gesetzesverstoß fest. Das wäre nur dann der Fall gewesen, so das Urteil, wenn gar kein Konzept zur Klimaneutralität vorgelegen hätte. Statt um eine bereits begangene Ungerechtigkeit zielte der Beschluss also auf die Verhinderung einer zukünftigen.
Folgt man Shklar, war das nicht genug: Jenseits des Rechts, aber mit einem Blick auf die demokratischen Erwartungen einer Gesellschaft, wäre eine weitergehende Forderung abzulesen. Man könnte sie ein Recht auf Zukunft nennen. Es wäre das Recht, die Veränderungen in den Lebensbedingungen kommender Generationen nicht größer werden zu lassen als unbedingt nötig.
In der Tat drehen sich die meisten Debatten um den Klimawandel genau um dieses Wort: nötig. Denn viel zu leicht schneidet der Verweis auf „Notwendigkeit“ alle Diskussion und alle Politik ab und ersetzt sie durch wirtschaftliche oder naturwissenschaftliche Zwänge.
Für die eine Seite ist dann das, was gegen die Erderwärmung unternommen werden kann, genau eingegrenzt durch die ökonomische Wünschbarkeit für die Gegenwart. Nicht selten ist diese Haltung noch an ein besonders individualistisches Freiheitsverständnis gekoppelt. Damit wird jedes Tempolimit bereits zur Vorwegnahme der drohenden Ökodiktatur.
Schon 1957, in ihrem ersten Buch After Utopia, klagte die Ideengeschichtlerin Judith Shklar über jenen „konservativen Liberalismus“, der sich jeglicher kollektiven politischen Veränderung im Namen einer rein individuellen Freiheit entgegenstellte, und den „Weg zur Knechtschaft“ des Totalitarismus mit Akten staatlicher Regulierung gepflastert sah.
So unsinnig das damals war und heute noch ist, so naiv ist die mitunter von Wissenschaftlerinnen und manchen Klimaaktivisten geäußerte Hoffnung, der Hinweis auf die wissenschaftlichen Fakten reiche bereits aus, um mit der Einsicht auch die Bereitschaft zum Handeln hervorzubringen. Mit Blick auf die bescheidenen Ergebnisse der letzten Klimakonferenz wird klar, dass das nicht der Fall ist.
Beide Positionen – die konservativ-liberale wie die bloß faktengläubige – wirken auf ihre jeweilige Weise depolitisierend. Sie entziehen bestimmte Themen von vornherein der politischen Aushandlung, indem sie Notwendigkeiten verkünden.
Ein Shklarsches Recht auf Zukunft dagegen wäre sich der Unausweichlichkeit des Politischen bewusst – der Tatsache also, dass eben nichts notwendig ist, bis es nicht politisch durchgesetzt wurde. Um ein solches Recht zu begründen, ist ein weniger kategorischer Begriff von „Notwendigkeit“ gefragt, der gerade nicht das Ende von Aushandlungen bezeichnet, sondern das je Hinnehmbare zum ständigen, allererst zu debattierenden Thema macht. Das Notwendige kann dann nur eine Sache von Diskussionen, nicht von Setzungen sein.
Der Rhetorik der Notwendigkeit nicht unähnlich ist die Rhetorik des Natürlichen. In unserem alltäglichen Sprachgebrauch kann das, was natürlich ist, keine Ungerechtigkeit sein, sondern höchstens ein Unglück, denn es gibt hier keine Verantwortlichen. Eine Strategie, einschneidende politische Veränderungen angesichts des Klimawandels zu verschleppen, mag nicht nur darin bestehen, ihn zu leugnen; oder Gegenmaßnahmen in die Zukunft zu verschieben unter Hinweis auf die zu großen Lasten für die Gegenwärtigen; oder den Klimawandel als beklagenswertes, aber letztlich natürliches Phänomen zu rationalisieren.
Selbst, wenn er als menschengemachtes Ereignis anerkannt wird, kann sein Ausmaß derart gravierend erscheinen, dass der Eindruck entsteht, es sei nichts oder nur wenig gegen ihn zu tun.
Aus dieser Perspektive wird der Klimawandel zu einer Naturgewalt – ein Unglück, bedauerlich für jene, die es trifft, aber nicht zu ändern.
Judith Shklar fragt daher zu Beginn ihres Buches Über Ungerechtigkeit, wann eine Katastrophe ein Unglück sei und wann eine Ungerechtigkeit:
„Sind äußere Naturgewalten Ursache des furchtbaren Ereignisses, handelt es sich um ein Unglück, und wir müssen uns in unsere Leiden fügen. Sollte es jedoch ein menschliches oder übernatürliches Wesen mit üblen Absichten herbeigeführt haben, dann handelt es sich um eine Ungerechtigkeit und wir dürfen unsere Empörung und unseren Zorn zum Ausdruck bringen.“
Dass diese auf den ersten Blick einleuchtende Unterscheidung bei genauerer Betrachtung nicht trägt, zeigt Shklar am Beispiel eines Erdbebens, einer offensichtlich nicht von Menschen verursachten Katastrophe: Dass sie geschah, mag niemandes Schuld gewesen sein; aber wie sie sich auswirkte, wie für diesen Fall vorgesorgt oder auf sein Eintreten reagiert wurde, wird von politischen Entscheidungen beeinflusst. Gibt es technische Lösungen für Prävention oder Rettung – und kann man in einer demokratischen Gesellschaft plausibel erwarten, dass der Staat über sie verfügt und einsetzen sollte –, dann ist das Unterbleiben von Hilfe eine passive Ungerechtigkeit.
Flutkatastrophen wie die im Ahrtal, an der Erft und Teilen Belgiens, die im Sommer 2021 über 220 Menschen das Leben kosteten und Schäden in Höhe von fast sechs Milliarden Euro anrichteten, sind so betrachtet keine Unglücksfälle, mit denen man eben rechnen und in deren Folgen man sich fügen muss. Vielmehr zeugen die dort angerichteten Verheerungen von zwei Arten passiver Ungerechtigkeit:
Die erste ist unmittelbar menschlicher Art und betrifft die Vorbereitung auf und das Verhalten während und nach der Flut. Die zweite ist Ausdruck einer „menschlich‑natürlichen“, einer, wie man sie nennen könnte, anthropozänischen Ungerechtigkeit – einer Ungerechtigkeit im Anthropozän, dem geologischen Zeitalter, in dem der Mensch massiv die Erde verändert. Eine solche Ungerechtigkeit wurde von niemandem direkt herbeigeführt, aber durch eine komplexe Verkettung von direkten und indirekten Folgen des Klimawandels wahrscheinlicher gemacht.
Ein Jahr nach dem Hochwasser im Ahrtal berichtete Der Spiegel von einer ganzen Reihe Verfehlungen, die jenen ähnelte, die Shklar im fiktiven Fall des Erdbebens beschrieb. Ein Betroffener beklagt, „so viel laufe schief, die schleppende Aufklärung, der bürokratische Umgang mit den Opfern, der mangelhafte Katastrophenschutz“ – und benennt damit Aspekte, die auch bei Shklar eine Rolle spielen: Passive Ungerechtigkeit kann neben zu langsamer oder fehlerhafter Reaktion im Katastrophenfall auch in unzureichender Vorsorge bestehen oder sich darin zeigen, dass man sich nach dem Ereignis nicht oder nur unzureichend um die Opfer kümmert. So auch hier.
Im Nachhinein wurde klar, dass die Vorsorge für eine derartige Katastrophe völlig mangelhaft war, weil man einen Pegelstand von bis zu zehn Metern für unwahrscheinlich gehalten hatte. Am 14. Juli 2021, dem Tag der Flut, waren zudem die Behörden schlecht miteinander vernetzt und Bezirksregierungen gaben wichtige Informationen nicht an die Landkreise weiter. Auch blieben die Pläne, die vorlagen, ungenutzt, und die Evakuierung begann vielerorts viel zu spät. Vor allem der rheinland-pfälzische Innenminister Roger Lewentz stand in der Kritik: Warum wurden die Dörfer flussabwärts nicht gewarnt, als weiter oben das Ausmaß der Katastrophe schon bekannt war?
Besonders für die Schwächsten war die ungenügende Vorbereitung katastrophal, wie im Fall eines Lebenshilfeheims. Man hatte „die Bewohner in dem Heim für geistig und körperlich behinderte Menschen schlafen lassen, anstatt sie in Sicherheit zu bringen“. Als die Feuerwehr darauf drängte, das Gebäude zu evakuieren, soll das Heim abgelehnt haben; als Angehörige versuchten, selbst eine Bewohnerin in Sicherheit zu bringen, war es bereits zu spät. Zwölf Menschen starben.
Und auch nach der Flut gab es eine Reihe passiver Ungerechtigkeiten zu beklagen. Die Opfer blieben zu einem großen Teil allein. Nicht nur kam das versprochene Fluthilfegeld nicht an oder wurde verweigert, auch erfuhren sie nicht, warum ihnen nicht geholfen worden war – zur materiellen kam noch eine Anerkennungsungerechtigkeit, die ihre Stellung als Bürgerinnen verletzte.
Schlechte Vorbereitung, mangelnde Hilfe, kaum Aufklärung und immer wieder die Aussage, man sei nicht zuständig oder habe nichts gewusst – all das sind Arten passiver Ungerechtigkeit, begangen von staatlichen Behörden, Institutionen und deren Vertretern. Als Ungerechtigkeit empfindet man außerdem, wenn nach einer Katastrophe niemand für die festgestellten Versäumnisse oder Unterlassungen zur Rechenschaft gezogen wird: Die zuständige Staatsanwaltschaft konnte bei der Landesregierung und den Behörden „kein strafbares Versäumnis erkennen“.
Ein Betroffener empörte sich darüber, beim Hochwasserschutz habe keiner seine Hausaufgaben gemacht und dass jetzt niemand die Verantwortung übernähme. Hier zeigt sich wieder der Unterschied zwischen der legalen und der politischen Dimension von Ungerechtigkeit: Waren die Behörden rechtlich nicht zu belangen, sind sie doch ihrer politischen Verantwortung nicht gerecht geworden, weil sie eben jene „Bereitschaft zu handeln“ vermissen ließen, die man Shklar zufolge von den Bürgerinnen – und insbesondere den Vertretern – einer liberalen Demokratie erwarten kann.
Aber selbst in der nachträglichen Aufarbeitung eines fehlerhaften Katastrophenmanagements wird sich die Grenze zwischen einem dem menschlichen Handeln unverfügbaren Unglück und einer vermeidbaren Ungerechtigkeit nie eindeutig ziehen lassen. Denn die Grenze zwischen dem Menschlichen und dem Natürlichen ist, wie Shklar schreibt, beweglich und einem historischen Wandel unterworfen.
Wie nie zeigt sich das im Anthropozän – jener vorgeschlagenen Erdepoche, für die der Klimawandel steht und in der der Einfluss des Menschen auf den Planeten in dessen Erdmantel geologisch nachweisbar geworden ist. Der Historiker und Vordenker der Anthropozäntheorie Dipesh Chakrabarty schreibt, dass mit dem Anthropozän der Unterschied zwischen Erd- und Menschheitsgeschichte hinfällig geworden sei: Der Mensch wirkt in das Erdsystem hinein und hat – nicht nur durch CO2-Ausstoß, sondern auch durch Meeresübersäuerung, die Reduktion von Artenvielfalt und die Rückstände von Atomtests – „geologische Handlungsmacht“ erlangt.
Die Grenze zwischen dem Menschlichen und dem Natürlichen hat sich nicht nur verschoben, so wie es infolge technologischen Fortschritts oder aufgrund des Wandels kultureller Zuschreibungen geschieht, sondern ist auf viel radikalere Weise verschwommen. Damit wird auch der Graubereich zwischen Unglück und Ungerechtigkeit größer und undurchsichtiger: Da Menschen heutzutage Natur ,machen‘, kann selbst ,Natürliches‘ inzwischen eine Ungerechtigkeit, weil von Menschen beeinflusst, sein.
So wäre anthropozänische Ungerechtigkeit ein neuer Typ von Ungerechtigkeit, den die Harvard-Professorin Shklar zwar nicht voraussah, der sich aber mit dem Instrumentarium ihrer Theorie identifizieren und beschreiben lässt. Diese Art von Ungerechtigkeit steigert die dem Begriff der Ungerechtigkeit eigene Verlegenheit, kein objektiv bestimmbarer, sondern ein politischer Begriff zu sein, der nur durch Diskussion und Urteilskraft geschärft werden kann.
Und wenn die vorgeschlagene Erweiterung des Shklarschen Ansatzes plausibel ist, dann erfährt auch der Radius der passiven Ungerechtigkeit eine bedeutende Erweiterung. Passiv ungerecht ist demnach auch, wer sich weigert, den Opfern möglicher anthropozänischer Ungerechtigkeit Gehör zu schenken und mit ihnen in eine Debatte darüber einzutreten, was ihre Erfahrung für die Gestaltung politscher Freiheitsräume bedeutet.
Auch diese Art von Ungerechtigkeit lässt sich an den Ereignissen von 2021 illustrieren. Seinerzeit kamen verschiedene Faktoren zusammen. So machten die geologischen Bedingungen an der Ahr ein Hochwasser wahrscheinlicher: Das Flusstal ist eng, hat steilabfallende Hänge und Böden aus festem Vulkangestein. Hinzu kam die Lage von Gebäuden und Campingplätzen nahe am Wasser, die Versiegelung von Oberflächen und die Kanalisierung von Gewässerläufen. Das trug gemeinsam mit der Tatsache, dass die Regenfälle auf bereits gesättigte Böden trafen und deshalb nicht einfach abfließen konnten, wesentlich zur Flut bei.
Man könnte meinen, es ließe sich hier klar unterscheiden, was menschengemacht ist – die Lage der Siedlungen – und was natürlich – die Gesteinsstruktur. Aber wie steht es um den bereits andauernden Regen, dessen Menge weit über dem Jahresdurchschnitt lag? Er wäre ein drittes, ein menschlich-natürliches, eben ein anthropozänisches Phänomen. Eine Studie der World Weather Attribution Initiative kam zu dem Schluss, dass die Flutkatastrophe mittelbar und unmittelbar mit der zunehmenden Erderwärmung zusammenhing. Die Wahrscheinlichkeit für extreme Regenfälle habe sich durch die menschengemachte Erderwärmung um das 1,2 bis 9-fache erhöht, auch habe deren Intensität um drei Prozent bis 19 Prozent zugenommen; damit würde sich ein solches Hochwasser, das statistisch gesehen bisher nur alle 400 Jahre vorkam, im Mittel nun eher alle 300 Jahre ereignen – in anderen Weltregionen, wie man es im letzten Jahr in Pakistan beobachten konnte, ist diese Frequenz noch einmal um ein Vielfaches höher. Und das ist nur der heutige Stand. Bei einer fortschreitenden Klimaveränderung würde die Wahrscheinlichkeit solcher Extremwetterereignisse weiter zunehmen.
Die Hinterbliebenen der Opfer, die geschädigten und in ihren Erwartungen enttäuschten Bürgerinnen können bei natürlichen Katastrophen, die auf menschliche Verfehlungen zurückgehen, mit dem Finger auf Verantwortliche zeigen, Verbesserungen einfordern und ihren Sinn für Ungerechtigkeit artikulieren. Immer geht es in den politischen Debatten, die auf solche Anklagen folgen, um den Grenzverlauf zwischen Unglück und Ungerechtigkeit.
Auch bei der anthropozänischen Ungerechtigkeit würde man, wie die Kläger vor dem Bundesverfassungsgericht, darauf drängen festzustellen, dass mehr hätte getan werden müssen, um dem menschengemachten Klimawandel Einhalt zu gebieten, mit seinen Folgen zu planen oder sie für die am meisten Betroffenen abzumildern. Wer aber ist für eine solche Ungerechtigkeit zur Verantwortung zu ziehen? Was tun, wenn sich vielleicht überhaupt keine Verantwortlichen mehr ausmachen lassen, weil wir alle die Schuld tragen?
Der Begriff der „anthropozänischen Ungerechtigkeit“ zeigt, welche neuen Probleme die verschwimmende Grenze zwischen Unglück und Ungerechtigkeit mit sich bringt. Die Frage nach passiver Ungerechtigkeit ist nicht dieselbe wie die nach eindeutiger Schuld. Natürlich wäre es gut, wenn sich die Verursacher einer Katastrophe ausfindig machen ließen, aber Shklar weist darauf hin, dass man dazu nicht immer in der Lage ist. Komplexe Kausalketten und das Problem der „vielen Hände“ machen es oft unmöglich, Schuld eindeutig zu lokalisieren.
Auch im Fall der Klimakrise lässt sich das beobachten. Die Frage, bei wem die Schuld für die Erderwärmung zu suchen ist, ist Gegenstand zahlreicher Debatten. Die überwältigende Mehrheit seriöser Forscherinnen hält sie für menschengemacht. Was aber heißt das genau? Ist damit „der Mensch“ an sich gemeint, als Spezies homo sapiens oder als Kollektivsubjekt „Menschheit“?
Keine abstrakte Idee kann an irgendetwas schuld sein, lautet hier ein geläufiger Einwand. Häufig folgt ihm der Hinweis, dass bestimmte Menschengruppen die Klimaerwärmung weitaus stärker vorangetrieben haben als andere, vor allem die westlichen Industriegesellschaften: Historisch haben Europa und die USA am meisten Treibhausgase ausgestoßen. Sind damit aber nicht andere Emissionsproduzenten wie China, das heute insgesamt (wenn auch nicht pro Kopf) mehr CO2 in die Atmosphäre produziert als die USA, fein raus?
Aber selbst, wenn dem so wäre: Geht denn die Verschmutzung von diesen Gesellschaften in ihrer Gesamtheit aus? Oder liegt die Schuld am Ende nicht doch immer bei bestimmten Schichten oder Individuen – bei Ihnen und mir?
Hannah Arendt hat einmal zwischen Schuld und Verantwortung unterschieden. Schuld ist immer eine Sache von Einzelnen, Gruppen dagegen könnten nur Verantwortung übernehmen. Aber diese Unterscheidung, die Arendt im Kontext des Holocaust entwickelt hat, greift bei anthropozänischer Ungerechtigkeit nicht mehr. Ein ethisches Problem des Klimawandels besteht gerade darin, dass man Schuld und Verantwortung nicht mehr ohne Weiteres trennen kann, weil sich die Skalen des Individuellen und des Kollektiven kreuzen.
Der Anthropozän-Philosoph Timothy Morton schreibt dazu:
„Jedes Mal, wenn ich mein Auto anlasse, habe ich nicht vor, der Erde Schaden zuzufügen. […] Und ich schade der Erde ja auch nicht: Meine einzelne Schlüsseldrehung ist statistisch gesehen bedeutungslos.“
Diese individuelle Bedeutungslosigkeit löst sich jedoch auf, sobald ich als Mitglied einer Gruppe handele, die im Extremfall alle anderen Menschen umfasst:
„Wenn ich diese Akte auf Milliarden von Schlüsseldrehungen […] ausdehne, erleidet die Erde aber ohne Frage einen Schaden. […] Ich bin ein Mensch. Ich bin aber auch Teil einer Entität, die jetzt eine geophysische Kraft auf planetarischer Ebene ist.“
Ich bin also doppelt involviert: Als Individuum bin ich kaum für den Klimawandel als ganzen verantwortlich zu machen, kann mich aber nur als solches auch zu ihm verhalten; als Mitglied der Spezies Mensch (oder auch als Mitglied westlicher Industriegesellschaften) bin ich dagegen ohne Frage mitverantwortlich, kann aber nicht ohne Weiteres als diese Kollektivität handeln, sondern höchstens als ein (sehr kleiner) Teil von ihr.
Man sieht, dass die Elemente einer klassischen Individualethik im Anthropozän zu versagen drohen. Das heißt nicht, dass die Kategorie der „Schuld“ nicht weiterhin eine sinnvolle Rolle in der politischen Diskussion spielen sollte. Gerade wenn es darum geht zu bestimmen, welche Nationen verhältnismäßig mehr zur Bekämpfung der Erderwärmung beitragen sollten, kommt man um eine Identifizierung relativer Schuld nicht herum. Aber hier liefe man Gefahr, nach bloßen Regelbrüchen zu suchen – etwa, wenn Staaten ihre eingegangenen Verpflichtungen zur Einhaltung bestimmter Emissionsobergrenzen verletzen –, statt nach allen Formen von Ungerechtigkeit, auch solchen, die sich aus den enttäuschten Erwartungen von Bürgerinnen ergeben, die nirgends niedergelegt sind, aber dennoch unser politisches Verhalten bestimmen.
Gerade hier also hilft der Begriff der „passiven Ungerechtigkeit“. Mit ihm eröffnet Shklar zumindest die Möglichkeit, individuelle und institutionelle Ebenen miteinander zu verbinden: Bin ich auch als Individuum allein kausal nicht schuldig, stehe ich als Bürger doch ebenfalls für die Verantwortung des Staates ein, der in meinem Namen handelt – oder eben nicht.
Die Suche nach Schuldigen hat in einer Demokratie ihre Berechtigung und erfüllt eine wichtige Funktion. Sie ist eine Suche nach gesellschaftlicher Rechenschaft – jedenfalls zum Teil. Shklar findet diesen Impuls psychologisch zutiefst verständlich, auch wenn er immer mit dem Risiko behaftet ist, in Rache umzuschlagen. Aber die Suche nach (kausaler) Schuld ist eben auch ein Weg, (politische) Verantwortung einzufordern: Bei den Mächtigen, die nichts taten, aber auch bei den einzelnen, die etwas tun könnten.
Zugleich sieht Shklar aber auch die Gefahr, die bei der Suche nach Schuldigen droht: dass die Opfer darüber zu kurz kommen. Wenn man sich wirklich um die Opfer kümmern will, wird man ihnen immer eher helfen müssen, als zu bestrafende Schuldige auszumachen. Es ist gut möglich, dass sich mit der neuen Situation, die uns der Klimawandel beschert hat, ganz andere Arten von Verantwortlichkeit auftun, die sich im bloßen Fahnden nach Schuldigen als aktiven, kausalen Verursachenden nicht erschöpfen. Hier legt Shklars Ansatz eine Perspektivverschiebung nahe. Denn für die Betrachtung anthropozänischer Ungerechtigkeit ist die Herkunft der aktiven Ungerechtigkeit zunächst einmal egal:
„Nicht der Ursprung des Schadens, sondern die Möglichkeit, ihn zu verhindern oder die Kosten zu verringern, erlaubt uns, darüber zu urteilen, ob eine ungerechtfertigte Passivität angesichts einer Katastrophe vorlag oder nicht.“
Ist der Klimawandel erst einmal als unbestreitbare Tatsache anerkannt – auch das ist letztlich eine politische Angelegenheit, um die stets aufs Neue gekämpft werden muss –, stellt sich die Frage, welche Ansprüche man im Namen der Opfer an das Kollektiv stellen kann, um ihr Recht auf Zukunft zu sichern.
Das Verfassungsgericht nannte bereits zwei Aufgaben: Es muss darum gehen, vorzusorgen, um die Freiheitsrechte der möglichen Opfer zu sichern, und ihnen Nachsorge zu bieten, wenn die Folgen des Klimawandels sie tatsächlich treffen. Dass beides, Vor- und Nachsorge, schwerer ist als gedacht, wissen wir. Nimmt man die Perspektive der Opfer in den Blick, lässt sich aber vielleicht eine Urteilskraft entwickeln, die stets auch die Folgen des Klimawandels für die Schwächsten im Sinn behält.
Konzentriert man sich also nicht allein darauf, Schuldige auszumachen, sondern ebenfalls darauf, den Opfern zu helfen, dann wird man die Aufmerksamkeit verschieben und verstärkt auch passive Ungerechtigkeiten in den Blick nehmen. Sie sind nicht nur komplexer als bloße Regelverstöße, die durch Gesetze geahndet werden, sondern haben auch eine repolitisierende Wirkung. Sie erlauben uns die stete Neuverhandlung dessen, was jeweils gerechtfertigt eingeklagt werden kann, und machen es schwerer, Ungerechtigkeiten zu Unglücken umzudeuten. Shklars Ansatz geht es vor allem um die Sichtbarmachung von Problemen, nicht um Patentrezepte für deren Lösung. Eben deshalb scheint er gut geeignet, Zurechenbarkeit, Verantwortung und vor allem die Opfer in die Debatten einzubeziehen, statt sie aus dem Diskurs auszuschließen. Der Klimawandel ist eine Realität – mit der Theoretikerin des Liberalismus Judith N. Shklar betrachtet ist er auch eine Ungerechtigkeit.