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Claire Keegan: „Kleine Dinge wie diese“
Der Kohlenhändler und Irlands Schande

In den irischen Magdalenen-Wäschereien wurden Tausende Frauen und Mädchen ausgebeutet, ihre Babys wurden ihnen weggenommen. Dieser Roman nähert sich dem Skandal aus ungewohnter Perspektive.

Von Julia Schröder |
Die Irische Schriftstellerin Claire Keegan und ihr Roman „Kleine Dinge wie diese“.
Die Irische Schriftstellerin Claire Keegan und ihr Roman „Kleine Dinge wie diese“. (Foto: (c) Murdo McLeod, Buchcover: Steidl Verlag)
Bill Furlong, der Kohlen- und Brennholzhändler im irischen Städtchen New Ross, ist ein glücklicher Mann. Glücklich verheiratet mit einer schönen und klugen Frau, glücklicher Vater von fünf liebenswerten Töchtern. Er ist arbeitsam, anständig und mitfühlend. Weil sein eigener Aufstieg vom Kind eines unbekannten Vaters und einer ledigen Haushaltshilfe zum angesehenen Geschäftsmann alles andere als selbstverständlich war, weiß Bill sein Glück zu schätzen. Er und die Seinen haben nicht viel, aber sie haben ein Auskommen, auch in schwierigen Zeiten für die Republik Irland, Mitte der Achtzigerjahre. Und doch:
 „Furlong wusste, dass es das Einfachste von der Welt war, alles zu verlieren.“
In Claire Keegans Kurzroman „Kleine Dinge wie diese“ dräut von Anfang an Unheil wie die schweren Regenwolken über dem Fluss Barrow, der sich bei Hochwasser färbt wie dunkles Bier. Noch herrscht die erwartungsvolle Betriebsamkeit der Adventszeit, Mince Pies und Weihnachtspudding werden gebacken, die städtische Festbeleuchtung wird bewundert, in der Kohlenhandlung kommen sie mit den Bestellungen kaum nach. Aber es ist ein „Dezember der Krähen“, wie Keegan schreibt – eine Autorin, in deren Erzählungen die Naturdinge die Handlung häufig nicht nur kommentieren, sondern vorwegnehmen. Und tatsächlich wird Bill Furlong in diesem eiskalten Winter geprüft werden. Sein Schicksal verknüpft sich mit der größten Schande in der irischen Geschichte: den Magdalenen-Wäschereien. Das waren Besserungsanstalten, getragen von katholischen Orden mit Wissen und Duldung des Staates. In den vorgeblichen Bildungseinrichtungen landeten unverheiratet schwanger gewordene junge Frauen und mussten bis zum Umfallen arbeiten, nachdem man ihnen die neugeborenen Kinder weggenommen hatte.

Die Mädchen müssen büßen

In New Ross, dessen Kloster auf der anderen Seite des Flusses in der Winterlandschaft ein postkartentaugliches Bild abgibt, genießt die von den Nonnen betriebene Wäscherei einen guten Ruf.
 „Allerdings machten auch noch andere Gerüchte die Runde. Einige sagten, die Lehrmädchen, wie man sie nannte, seien gar keine Schülerinnen, sondern Mädchen von zweifelhaftem Charakter, die ihre Tage damit verbrachten, sich umerziehen zu lassen und Buße zu tun, indem sie die Flecken aus dem schmutzigen Laken wuschen; von früh bis spät würden sie nur arbeiten. Die örtliche Krankenschwester hatte erzählt, sie sei einmal gerufen worden, um eine Fünfzehnjährige zu behandeln, die sich vom langen Stehen an den Waschzubern Krampfadern zugezogen habe.“
Bill Furlong hat auf diese Gerüchte nie etwas gegeben. Aber kurz vor Heiligabend entdeckt er bei einer Lieferung ans Kloster in dessen Kohlenschuppen ein junges Mädchen, das dort offenbar tagelang eingesperrt war und sich kaum auf den Beinen halten kann. Als die Oberin die verstörende Situation verharmlost und er nichts dagegen tun kann, droht das Leben des glücklichen Mannes aus den Fugen zu geraten. Soll er sich gegen die einflussreichen Nonnen stellen, deren angesehene Internatsschule seine eigenen Töchter besuchen, gegen die allmächtige katholische Kirche? Soll er seiner Frau und anderen Wohlmeinenden folgen, die ihm raten, die Sache auf sich beruhen zu lassen? Erneut wird die Natur zum Spiegel seines Innenlebens:
„Als sie den Fluss überquerten, fiel sein Blick wieder auf das tiefschwarze Wasser, das unter ihm im Dunkel dahinfloss – und ein Teil von ihm beneidete den Barrow darum, dass er seinen Kurs kannte, dass das Wasser unbeirrbar seinem Weg folgte, ungehindert bis ins offene Meer.“

Geprägt von Charles Dickens

Claire Keegans Kohlenhändler erinnert an die gutherzigen unter den Figuren von Charles Dickens. Das ist kein Zufall; Bill Furlong hat als Kind eine gebrauchte Ausgabe des „Weihnachtsmärchens“ wieder und wieder gelesen und wünscht sich nun, als bald Vierzigjähriger, „David Copperfield“ zu Weihnachten – zwei Bücher, in denen es um die Wechselfälle des Lebensglücks geht und darum, das Richtige zu tun. Dass die Autorin in „Kleine Dinge wie diese“ nicht das große Unrecht, sondern die nur scheinbar partikularen Gewissensnöte ihres anständigen Helden in den Mittelpunkt stellt, ermöglicht ihr eine undramatische Darstellung ohne jede Elendsfolklore. Eine weitere Stärke des Buchs ist die Verknappung, die Beschränkung auf vielsagende Blicke, Gesten und Sätze, das Erzählen entlang einer firnissdünnen Oberfläche, unter der die Folgen der individuellen wie der kollektiven Verdrängung sichtbar sind und zugleich unwandelbar scheinen wie Wasserpflanzen im winterlich zugefrorenen Teich. Claire Keegan hat in früheren Erzählungen und Romanen durchaus Gewalt und deren Konsequenzen für die Wehrlosen geschildert. Hier gibt sie der Hoffnung auf das Gute im Menschen Gestalt. Ob diese Hoffnung Bill Furlong auf den richtigen Kurs geführt hat oder ins Verhängnis, lässt sie mit Bedacht offen. Das macht diese Geschichte eines Mannes, der den Abgrund in seiner Welt nicht mehr ignorieren kann, umso überzeugender.
Claire Keegan: „Kleine Dinge wie diese“
Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser
Steidl Verlag, Göttingen
112 Seiten, 18 Euro.