"Wir haben hier mehr Stahl verbaut als im Eiffelturm in Paris."
"Weltweit das komplizierteste Objekt, das ich kenne. Und ich schließe sämtliche Programme der Nasa dabei mit ein."
Der Koloss von Genf
Startschuss für den größten Beschleuniger der Welt
Von Frank Grotelüschen.
"Die Kombination 100 Meter tief, 2000 Tonnen – das hat noch kein Mensch auf der Welt gemacht!"
"Die Stimmung ist durchwachsen. Die Last und die Verantwortung, die auf jedem liegt, um es wirklich zu schaffen, sind immens."
Michael Eppard und Frank Hartmann sind Physiker. Die beiden haben sich der aufwändigsten Wissenschaftsmaschine aller Zeiten verschrieben – zusammen mit 5000 anderen Physikern aus aller Welt. Der Riese liegt in Genf, am Europäischen Teilchenforschungszentrum Cern, eingebaut in einen 27 Kilometer langen unterirdischen Ringtunnel. Seine Mission: neue Elementarteilchen aufspüren und den Physikern verraten, aus was Materie im Innersten besteht. Sein Name: Large Hadron Collider, kurz LHC. Der stärkste und teuerste Teilchenbeschleuniger aller Zeiten.
Eppard, Hartmann und ihre 5000 Kollegen arbeiten unter Hochdruck. Die Vorbereitung hat Jahrzehnte gedauert. Nun, im Sommer 2008, soll der Superbeschleuniger endlich in Betrieb gehen.
1983: In Genf beginnen die Bauarbeiten für einen gewaltigen Tunnel. Mit dabei: der deutsche Physiker Hans Hoffmann.
"Cern-Angestellter bin ich seit 35 Jahren."
Wie Riesenmaulwürfe graben sich die Bohrmaschinen durch den Untergrund. In 100 Metern Tiefe treiben sie einen Ringtunnel durchs Gestein – Umfang: 27 Kilometer. Als der Tunnel fertig ist, bauen die Physiker einen Beschleuniger ein: Er schießt Elektronen auf ihre Antiteilchen, die Positronen. LEP, so heißt die Maschine – Large-Electron-Positron-Collider. Damals der stärkste Beschleuniger seiner Zeit. Doch Hoffmann und seine Leute denken schon einen Schritt weiter.
"Wenn wir so eine Infrastruktur bauen mit einem 30 Kilometer langen Tunnel, dann werden wir den so bauen, dass man da noch eine andere Maschine rein tun kann. Als wir mit LEP anfingen, war es immer klar, dass wir da mal einen LHC reinbauen. Völlig klar."
In einem Beschleuniger kreisen winzige Materieteilchen in einer luftleeren Stahlröhre. In jeder Runde werden sie von starken Radiowellen angeschoben – bis fast auf Lichtgeschwindigkeit, knapp 300.000 Kilometer pro Sekunde. Damit die Partikel nicht aus der Kurve fliegen, werden sie von wuchtigen Magneten auf der Bahn gehalten. Dann lässt man die Teilchen frontal aufeinander prallen, wie Geschosse. Ein Energieblitz flammt auf. Neue Teilchen entstehen und zerstieben in Dutzende von Bruchstücken – ein Feuerwerk im Mikrokosmos, beobachtet von haushohen Detektoren. In diesem Feuerwerk suchen die Physiker nach neuen, unbekannten Partikeln – nach den Urteilchen der Materie, den Grundbausteinen unserer Welt.
Je größer ein Beschleuniger ist, umso stärker kann er Teilchen beschleunigen. Desto stärker ist die Wucht des Aufpralls, und umso größer die Chance, neue Teilchen zu erzeugen. Die Maßzahl für einen Beschleuniger ist das Elektronenvolt. Das ist die Energie, auf die er ein Teilchen bringen kann. Eine Fernsehbildröhre bringt es auf 20.000 Elektronenvolt. Der alte LEP-Beschleuniger am CERN schaffte 200 Milliarden Elektronenvolt. Der heutige Rekordhalter, das Tevatron bei Chicago, hat zwei Billionen Elektronenvolt. Der LHC soll 14 Billionen Elektronenvolt erreichen – Weltrekord.
1985: Der LEP-Beschleuniger ist noch gar nicht in Betrieb, da überlegt man am Cern bereits, wie sein Nachfolger aussehen soll: Statt der leichten Elektronen soll er schwere Wasserstoffkerne aufeinander feuern, die Protonen. Damit wäre die Wucht des Zusammenpralls größer, der Beschleuniger wäre leistungsfähiger. Bald hat das Projekt seinen Namen: Large Hadron Collider, LHC. Doch die Zeit drängt. Die Amerikaner wollen einen ähnlichen Beschleuniger bauen. Hoffmann:
"Da begann ein Wettrennen. Die Amerikaner sind hingegangen und haben gesagt: Diese verdammten Kerle im Cern – was für eine Maschine können die nicht bauen? Da haben sie gesagt: OK, wir machen eine Maschine, die 80 Kilometer Umfang hat. Das passt nicht ins Genfer Becken! Zwischen See und Jura geht das nicht!"
Was erhoffen sich die Forscher vom LHC? Was soll er finden? Vor allem eines – den letzten Baustein, der im heutigen Weltbild der Physik noch fehlt. Standardmodell, so heißt dieses Weltbild. Es geht davon aus, dass es zwölf Urbausteine gibt. Sie heißen Quarks, Elektronen und Neutrinos, und es gibt sie in verschiedenen Sorten. Zusammengehalten werden diese Urbausteine durch drei Naturkräfte: die elektromagnetische Kraft, die starke Kraft und die schwache Kraft. Doch damit ist das Standardmodell noch nicht komplett. Ein Baustein fehlt noch. Dass er existieren muss, hatte bereits in den 60er Jahren ein Physikprofessor aus dem schottischen Edinburgh vorausgesagt.
"Peter Higgs, Professor of Theoretical Physics at Edinburgh University.”"
Peter Higgs, Jahrgang 1929. Freundlich, bescheiden, beinahe schüchtern:
"”Das geht zurück auf das Jahr 1960. Damals stieß ich auf die Arbeiten des Japaners Yoichiro Nambu. Nambu wollte eine neue Theorie über Elementarteilchen aufstellen. Und zwar war seine Theorie inspiriert durch die Theorie der Supraleitung. Bei der Supraleitung tun sich die Elektronen in einem Metall zu Paaren zusammen und bilden quasi ein neues Teilchen. Dadurch können sie dann ohne jeden Widerstand durch das Metall fließen, es wird supraleitend. Nambu versuchte dieses Modell auf die Welt der Elementarteilchen zu übertragen. Das Problem: Er musste bei seiner Theorie von der Existenz bestimmter masseloser Teilchen ausgehen. Doch solche Teilchen gab es offenbar nicht, sonst hätte man sie damals längst entdeckt. Also suchte ich nach einer Idee, wie man diesen masselosen Teilchen irgendwie Masse verleihen konnte."
Jahrelang blieb das Problem ungelöst, erzählt Peter Higgs. Dann endlich stieß er auf die Lösung. Higgs:
"”Ich schrieb einen kurzen Fachartikel, der einen Ausweg aus dem Problem skizzierte. Und zwar musste man das Problem innerhalb bestimmter Theorien angehen, so genannter Eich-Theorien. Dann ging ich einen Schritt weiter und verband die Eich-Theorien mit der Theorie der Supraleitung. Dabei kam dann ein Teilchen heraus, das zwar den Photonen ähneln, also den Lichtteilchen, das aber dennoch eine Masse besitzt. Und das war es – das war die Lösung!""
Peter Higgs hatte ein Teilchen postuliert, das allen anderen Teilchen Masse verleiht. Genauer gesagt legt Higgs dem Universum ein alles durchdringendes Feld zu Grunde. Durch dieses Feld bewegen sich die Teilchen wie durch einen zähen Sirup. Dabei verspüren sie einen Widerstand, ähnlich dem Widerstand, den der Sirup dem Kochlöffel beim Umrühren bietet. Ebendieser Widerstand ist es, der den Teilchen Masse verleiht. Das Higgs-Partikel ist das meiste gesuchte Teilchen in der Physik. Wenn es der LHC entdeckt, wäre endlich das Rätsel gelöst, warum Elementarteilchen überhaupt Masse besitzen. Die letzte Lücke im Standardmodell – sie wäre geschlossen.
1988: Die Amerikaner fällen eine Entscheidung: Ihr Beschleuniger soll in Texas stehen. Der Name: Superconducting Supercollider, kurz SSC. Damals verantwortlich für den Bau: der Deutsche Rainer Meinke.
"Der SSC ist ein Beschleunigerprojekt, der größte Beschleuniger, der jemals bisher geplant worden ist. Er hat ungefähr 87 Kilometer Umfang. Es sind also ungewöhnliche Ausmaße."
Meinke und seine Leute geben Gas. Ihr Zeitplan ist eng.
"Am 29. September 1999 soll es die ersten Wechselwirkungen in den Detektoren geben."
Die Physiker am Cern sind unter Druck. Sie können keine 87-Kilometer-Maschine bauen, sondern sind auf ihren 27-Kilometer-Tunnel angewiesen. Um das Manko auszugleichen, entscheidet sich das Cern für eine riskante Strategie: Hans Hoffmann und seine Kollegen wollen Magneten einbauen, die fast doppelt so stark sind wie die der Amerikaner. Und: Im LHC sollen viel mehr Wasserstoffkerne kreisen als im SSC – fast zehnmal soviel. Hoffmann:
"Dann konnten wir mit 27 Kilometern Umfang eine Maschine bauen mit demselben physikalischen Potenzial wie die 80-Kilometer-Maschine, die die Amerikaner in Texas machen wollten."
100 Meter fährt der Fahrstuhl in die Tiefe, dann öffnet sich die Tür. Der Weg führt durch Gänge und Hallen. An einer der Wände lehnen Fahrräder.
"Der Tunnel ist 27 Kilometer lang, und es gibt acht Zugangsstellen."
Michael Eppard, Physiker am Cern in Genf.
"Unter Umständen müssen Sie viele Kilometer zurücklegen, um zu Ihrem Arbeitsplatz zu kommen. Da ist die einfachste Möglichkeit, ein Fahrrad zu nehmen."
Ein paar Schritte noch, dann steht man im Beschleuniger-Tunnel. Er ähnelt einem U-Bahn-Tunnel. Nur: Statt Schienen reihen sich unzählige Stahlröhren aneinander – meterdick und blau lackiert. Eppard:
"Das sind die blauen, 15 Meter langen Magnete. Davon gibt es 1232 Stück. Die sind supraleitend. Das heißt: Wir haben die ganzen 27 Kilometer supraleitende Magnete verbaut. Wir müssen also auf 27 Kilometern diese Magneten auf die Temperatur von Flüssighelium runterkühlen – auf 1,9 Kelvin."
Die supraleitenden Magneten bilden das Herz des LHC. Sie können extrem hohe Magnetfelder erzeugen – und das ist nötig, um die energiereichen Wasserstoffkerne auf ihrer Kreisbahn zu halten. Der Haken: Man muss die Magneten auf minus 270 Grad Celsius kühlen – knapp zwei Grad über dem absoluten Temperaturnullpunkt. Die blaue, meterdicke Röhre ist eine Art Thermosflasche, damit das Flüssighelium innen kalt bleibt. In der dicken Röhre stecken zwei dünne, armdick und luftleer gepumpt. Durch sie kreisen die Protonen, die Wasserstoffkerne – in der einen Röhre im Uhrzeigersinn, in der anderen entgegen. Jeweils 100 Milliarden Protonen sind zu streichholzgroßen Paketen gebündelt. 4000 dieser Pakete kreisen im Ring. Zusammen haben sie soviel Bewegungsenergie wie eine Herde galoppierender Elefanten. Dann – an zwei Stellen des Rings – treffen die Protonenwolken mit voller Wucht aufeinander.
1993: Die Cern-Physiker stecken noch in den Planungen. Die Amerikaner bauen schon. Dann die Nachricht: Der US-Kongress stoppt den SSC. Die Kosten sind explodiert, von ursprünglich 4,4 Milliarden auf 12 Milliarden Dollar. Die amerikanischen Forscher sind fassungslos, wie James Pilcher, Physiker aus Chicago.
"”Das war ein enormer Schock. Wir hätten das nie für möglich gehalten – nach den gewaltigen Investitionen, die schon in den SSC geflossen waren. Viele Physiker hatten ihm Jahre ihrer wissenschaftlichen Laufbahn geopfert. Die Enttäuschung war so groß, dass die meisten von uns Monate brauchten, um sich vom Schock zu erholen – wie nach einem Todesfall in der Familie.""
Hoffmann:
"Die Amerikaner haben eine Sache total unterschätzt. Die haben gesagt: Irgendwo auf der grünen Wiese können wir ein Labor aus dem Boden stampfen, und es funktioniert sofort. Das geht nicht. Sie müssen Leute haben, die wissen, worüber sie reden. Sie können nicht einfach ein paar Leute zusammentrommeln und sagen, das geht dann. Dafür sind viel zu viele Details, die gelöst werden müssen. Und das geht da nicht."
Der Druck auf das Cern lässt nach – der Entscheidungswille der Politiker auch. Das OK für den LHC kommt nicht wie erhofft Ende 1993. Die Entscheidung wird vertagt.
Der LHC soll das Higgs-Teilchen finden, den letzten Baustein des Standardmodells. Aber die Physiker erhoffen sich noch mehr. Manche glauben, dass der LHC winzige schwarze Löcher erzeugt, aus denen sich vielleicht sogar Energie gewinnen lässt. Und zwei russische Theoretiker meinen, dass der Genfer Beschleuniger ein Wurmloch öffnen wird – eine Art Tor in die Zukunft, mit dem Zeitreisen möglich werden. Aber das sind Außenseiter-Theorien, die meisten Physiker halten sie für reine Sciencefiction. Als viel wahrscheinlicher gilt, dass der LHC eine andere Theorie überprüfen wird – eine Theorie, die weit über das Standardmodell hinausgeht. Supersymmetrie, so heißt sie, kurz Susy.
"Wir haben 1974, ausgehend von diesen zweidimensionalen Modellen, darauf geschlossen, dass da eine Symmetrie dahinter stecken muss und haben versucht, diese Symmetrie zu finden."
Julius Wess, damals am Max-Planck-Institut für Physik in München. In den 70er Jahren arbeitete er gemeinsam mit dem Italiener Bruno Zumino an einem abstrakten mathematischen Problem. Wess:
"Wir wussten ja nicht, wozu es führt."
Bald dämmerte es Wess und Zumino: Vielleicht ließen sich ihre abstrakten Spekulationen auf ein reales Problem anwenden – die Kluft zwischen Materie und Kräften. Im Standardmodell nämlich stehen Materie und Kräfte unverwandt nebeneinander – ein Makel. Wess:
"Gibt es da eine Symmetrie zwischen den beiden oder nicht? Und Supersymmetrie ist der Versuch, zwischen denen eine Symmetrie herzustellen. Diese Symmetrie ist eine Verallgemeinerung des normalen Symmetriebegriffes, wie wir ihn in der anschaulichen Physik kennen. Das wäre ein großer Fortschritt im Verständnis der Natur!"
Symmetrien sind in der Physik allgegenwärtig. Zum Beispiel die Symmetrie zwischen Elektrizität und Magnetismus: Sie bilden zwei Seiten ein- und derselben Medaille – dem Elektronmagnetismus. Auf ähnlichen Symmetrien basiert auch die Teilchenphysik. So kennt das Standardmodell ebenso viele Sorten von Quarks wie Sorten von Elektronen. SUSY, die Supersymmetrie, verspricht nun erstmals einen Zusammenhang zwischen Teilchen und Kräften. Doch die Sache ging erst auf, als Wess und Zumino neue Partikel postulierten. Demnach hätte jedes bekannte Teilchen einen schweren Superpartner – Partner mit merkwürdigen Namen. Wess:
"Squark, oder Smyon oder Wino und Zino."
Der LHC soll diese Superpartner erstmals aufspüren. Das wäre die bedeutendste Entdeckung in der Teilchenphysik seit Jahrzehnten – und sicher einen Nobelpreis wert. Julius Wess aber wird sie nicht mehr erleben. Völlig unerwartet starb er im August 2007 in Hamburg.
1994: Im Dezember fällt die Entscheidung. Der LHC wird gebaut. Rund zwei Milliarden Euro soll er kosten, 2005 soll er fertig sein. An maßstabsgetreuen Modellen üben Physiker wie Jörg Wotschak schon mal, wie sie die riesigen Detektoren zusammensetzen und tonnenschwere Komponenten mit Millimeter-Genauigkeit auf Position bringen.
"Ganz ehrlich gesagt: Wir haben da schon unsere Schmerzen dabei. Denn normalerweise sagt man: Man kann um einen Faktor 3 gegenüber dem, was man kennt, extrapolieren, und das wird schon arbeiten. Dieses Mal versuchen wir, einen Faktor 10 bis 100 auf einmal zu machen. Das heißt wir müssen enorm innovativ sein, um dieser Herausforderung überhaupt begegnen zu können."
"Die Subdetektoren heißen Tip, Top und Tec. Ich bin immer noch auf der Suche nach Tok. Aber das werden wir noch finden."
Frank Hartmann von der Universität Karlsruhe arbeitet an einem der Detektoren mit. Insgesamt gibt es vier, verteilt über den ganzen Ring. Einer von ihnen heißt CMS. Hartmann gehört zu den mehr als 2000 Physikern aus aller Welt, die bei CMS mitmachen. Eine gigantische Kamera für Elementarteilchen.
"Im Prinzip sehen Sie jetzt das Herzstück des Detektors. Das ist der Spurendetektor. Sie sehen eine zylindrische Hülle mit jeder Menge Kabeln, die dort abgehen."
CMS ist ein Klotz aus bunt lackierten Metallteilen und hat die Ausmaße eines Bürohauses: 16 Meter hoch, 16 Meter breit, 25 Meter lang. Er steht in einer Halle groß wie eine Kathedrale – und zwar dort, wo die Wasserstoffkerne kollidieren, 100 Meter tief unter der Erde. Entsteht beim Zusammenstoß zweier Protonen ein neues Teilchen, etwa ein Higgs, zerfällt dieses Higgs gleich wieder in Bruchstücke. Diese Bruchstücke fliegen durch den Detektor hindurch und hinterlassen dort ihre Spuren. Wie eine Zwiebel besteht der Detektor aus mehreren Schalen. Einige Schalen messen die Energie, andere die Flugbahnen der herausrasenden Teilchen. Die innerste Zwiebelschale ist der Spurendetektor – ein Zylinder von der Größe eines Lastwagens. Er besteht aus hochempfindlichen Siliziumstreifen und soll die Flugbahnen der Teilchen vermessen – und zwar bis auf ein paar Mikrometer genau. Hartmann:
"Hier haben Sie jetzt einen sehr seltenen Blick, nämlich nur ungefähr zwei Wochen lang während der Konstruktion, genau jetzt. Sie sehen hier die inneren Lagen des Detektors offen. Genau in der Mitte von diesem Teil werden die Kollisionen stattfinden. Sie sind hier mittendrin, das ist das Herzstück des Detektors. Sie können näher ran gehen, das ist nicht gefährlich. Nur sobald Sie in einen Abstand von einem halben Meter kommen, müsste man einen Mundschutz benutzen, weil die Sensoren sensitiv auf Spucke sind. Sie haben einen gewissen Säureanteil, der das Ganze zerstören kann."
Noch steht der Spurendetektor halbfertig in einer Halle auf dem Cern-Gelände. Dutzende von Forschern sind dabei, ihn aus zigtausenden von Einzelteilen zusammenzumontieren. Einige ziehen Kabel, andere schrauben, andere hängen konzentriert vor dem Computer. Hartmann:
"Arbeitszeiten von 60, 70 Stunden die Woche sind keine Seltenheit. Ein Beispiel ist dieser Detektor: Die Techniker haben tagsüber in zwei Schichten verkabelt. Und die Physiker haben die Nachtschicht genutzt, um die einzelnen Elemente nachzukontrollieren. Und das über Monate hinweg. Die Endphase in einem Projekt dieser Größe ist einfach stressig und bedarf viel Körperschweiß und Blut. Es ist mein persönliches Interesse, dass dieser Detektor funktionieren wird. Ich kann mir nichts anderes vorstellen, das muss so passieren. Wenn das schief läuft, haben wir keine Chance, den Detektor noch einmal in der Zeit zu bauen. Da darf auch etwas Nervosität aufkommen."
Michael Eppard:
"Unter uns ist der Beschleunigertunnel, 27 Kilometer Umfang. An vier Stellen werden die Protonen zur Kollision gebracht. Und das hier ist eine Stelle. Das ist ein Wechselwirkungspunkt, und um diesen Wechselwirkungspunkt herum bauen wir das Experiment CMS."
Im Laufe von Monaten senkt ein Spezialkran die einzelnen Teile durch einen Schacht nach unten. Dort bauen Michael Eppard und seine Leute den CMS-Detektor zusammen. Der komplette Detektor wiegt 14.000 Tonnen. Eppard zeigt auf einen haushohes Gebilde aus Messing. Es gehört zum Kalorimeter. Das ist jene Schale in der Detektorzwiebel, die die Energie der herausstiebenden Teilchen misst. Eppard:
"Dieses Messing ist von russischen Artillerie-Granatenhülsen. Wenn ein russisches Kriegsschiff eine Artilleriegranate abfeuert, bleibt eine Hülse übrig. Die besteht aus purem Messing. Wir haben sehr viele Russen in unserer Kollaboration. Die haben chronisch kein Geld, aber immer gute Ideen. Die sind auf die Idee gekommen, dass dieses Messing absolut ausreichende Qualität hat. Man hat dann diese Granatenhülsen eingeschmolzen, zu Platten gegossen und zu unserem Kalorimeter zusammengebaut. Das ist also ‚Schwerter zu Pflugscharen’ – ein echtes Beispiel für Konversion."
CMS ist der eine der beiden großen Detektoren am LHC. Der zweite heißt Atlas und sieht deutlich anders aus als CMS, sagt Thomas Müller, Physikprofessor aus Karlsruhe.
"Der Atlas-Detektor ist größer als CMS. Er hat ein völlig anderes Konzept. Was sehr wichtig ist, weil wir sehr seltene Phänomene suchen und hoffentlich auch entdecken werden, die durchaus durch Falschmessungen vorgetäuscht werden können. Und bei völlig unterschiedlichen Detektor-Konzepten kann man das leichter überprüfen."
Zwei Detektoren an einem Beschleuniger. Hinter jedem steckt ein Team aus 2000 Forschern. Und jedes Team hofft inständig, das erste zu sein, das das Higgs entdeckt, oder ein Susy-Teilchen. Müller:
"Wir haben gute und enge freundschaftliche Beziehungen. Jetzt aber handelt es sich um zwei Teams, die miteinander in Konkurrenz sind. Ich betrachte das als sportliche Konkurrenz. Wenn es um die Datenanalyse geht, werden wir weitestgehend versuchen, Stillschweigen zu bewahren."
Das Jahr 2000: Die Vorbereitungen laufen nach Plan. Die ersten Magneten sind fertig. Doch dann rückt Generaldirektor Luciano Maiano mit einer unangenehmen Wahrheit heraus. Die Forscher sind perplex. auch Hans Hoffmann.
"Im Jahr 2000, anderthalb Jahre, nachdem er Generaldirektor war, hat er gesagt: Uns fehlt Geld! Damals gab es einen großen Aufschrei – ein Abgrund von Schulden am Cern. Da haben wir eine Milliarde Schulden entdeckt. Letztendlich eine Kostenüberschreitung von etwa dreißig Prozent."
Der LHC wird knapp drei Milliarden Euro kosten, und nicht zwei wie ursprünglich vorgesehen. Um den Beschleuniger zu retten, muss das CERN andere Projekte, die nichts mit dem LHC zu tun haben, herunterfahren. Es muss zusätzliche Kredite aufnehmen und muss den Zeitplan strecken. Der Start wird um zweieinhalb Jahre verschoben – von Frühjahr 2005 auf Herbst 2007.
Als die Physiker den LHC planen, stoßen sie auf ein Problem: Die Detektoren werden eine enorme Datenflut erzeugen.
"Jedes der Experimente erzeugt etwa eine Million Gigabyte pro Sekunde."
Wolfgang von Rüden, er leitet die IT-Abteilung am Cern.
"Und wenn man alles aufsummiert, was pro Jahr zusammenkommt, sprechen wir von 15 Petabyte. Das sind 15 Millionen Gigabyte pro Jahr. Wenn man das alles auf CDs speichern würde, macht das einen Turm von ungefähr 20 Kilometern Höhe. Das entspricht etwa einem Prozent der gesamten Information, die weltweit produziert wird. Wenn Sie alle Filme, Zeitungen, Bücher, Fotos, alles was man sich vorstellen kann, zusammenzählen, entspricht das, was wir produzieren, etwa einem Prozent davon."
Um mit dieser Datenflut fertig zu werden, braucht es die Rechenleistung von 100.000 modernsten PCs. Das Rechenzentrum am Cern wäre damit völlig überfordert. Die Cern-Informatiker müssen also neue Wege gehen. In den frühern 90ern haben sie das World Wide Web erfunden. Nun basteln sie am Nachfolger, dem World Wide Grid. Rüden:
´"Das Grid ist ein verteiltes Rechnen. Einfach gesehen ist es ein riesiges Rechenzentrum, das man auf viele Städte und Länder verteilt. Beim Web können Sie Informationen, Fotos, Dokumente abrufen – egal, wo sie sitzen. Was beim Grid dazu kommt ist, dass man Rechenkapazität und Speicherkapazität, die verteilt existiert, mitbenutzen kann."
Die Computer aus mehreren Rechenzentren sind miteinander vernetzt, und das Grid lässt immer dort rechnen, wo die Computer gerade nichts zu tun haben. Egal, wo auf der Welt ein Physiker die Daten auswerten will – am Ende bekommt er sein Ergebnis, ohne zu ahnen, wo es ausgerechnet wurde – ob in Berlin, Peking oder New York. Erst diese weltweite Vernetzung von Rechenpower macht es möglich, die Messdaten des LHC auszuwerten und nach den Spuren von Higgs und SUSY zu durchforsten. Und wird das Grid dann ebenso die Welt erobern wie einst das Web? Rüden:
"Das erwarte ich schon. Es ist ziemlich klar, dass diese Entwicklung, die von der Wissenschaft nach vorne gepusht wird, auch in anderen Bereichen benutzt wird."
2007: Eigentlich läuft alles nach Plan. Die Magneten, mehr als 1600, sind im Tunnel eingebaut. Doch Ende März testen die Physiker einen der Spezialmagneten – eine 50 Tonnen schwere Magnetlinse, die die Protonenwolken unmittelbar vor der Kollision zusammenpresst. Plötzlich ein lauter Knall; Rauch quillt aus dem Magneten. Die Feuerwehr kommt, der Tunnel wird evakuiert. Bald ist der Grund gefunden: Der Magnet ist geplatzt, er hat dem Druck nicht standgehalten – ein Konstruktionsfehler. Insgesamt gibt es neun Magnetlinsen am LHC. Sie müssen überarbeitet werden – eine Rückrufaktion mit Folgen. Das Cern muss den Start ein weiteres Mal verschieben – vom Herbst 2007 auf den Sommer 2008.
Die Forscher sind nervös. Wird die Maschine so laufen wie geplant? Oder wird noch eines der unzähligen Glieder in der Kette versagen und das Projekt erneut um Monate zurückwerfen, wenn nicht um Jahre? Die Folgen könnten fatal sein: Je mehr sich der Start verzögert, desto größer werden die Chancen für einen anderen Beschleuniger, das Higgs-Teilchen zu finden – das Tevatron bei Chicago.
"”Wir werden intensiv nach dem Higgs suchen. Das ist schließlich die wichtigste Frage der Teilchenphysik, der Physik überhaupt. Wir haben Hinweise darauf, dass das Higgs relativ leicht sein könnte – was bedeutet, dass es möglicherweise in der Reichweite des Tevatrons liegt. Und wir werden uns bemühen, die Gelegenheit zu nutzen, bevor der LHC eingeschaltet wird","
sagt Terry Wyatt aus Manchester, er ist an einem der Tevatron-Experimente beteiligt. Je länger der US-Beschleuniger ohne Konkurrenz messen kann, desto größer ist die Chance, dass er dem LHC eine wichtige Entdeckung vor der Nase wegschnappt. Wyatt:
"”Ich sehe eine reelle Chance, dass wir zumindest Spuren vom Higgs sehen. Zwar dürfen wir mit dem Tevatron allenfalls eine Handvoll von Higgs-Teilchen erzeugen. Und es gibt jede Menge anderer Prozesse, die bei der Datenauswertung ganz ähnlich aussehen, die das Higgs vortäuschen könnten. Dennoch: Hinweise auf das Higgs könnten wir durchaus finden – auch wenn der endgültige Beweis wohl dem LHC vorbehalten bleibt.""
Sommer 2008: Der Countdown läuft. Bald wird sich Hans Hoffmann mit seinen Kollegen im Kontrollraum drängen. Dort nämlich wird er gedrückt – der Startknopf für den größten Beschleuniger aller Zeiten.
"Wenn man so eine Maschine das erste Mal anschaltet und man sieht die ersten Analysen, die aus den Daten rauskommen, und man arbeitet an etwas, wo man absolutes Neuland betritt – das ist spannend. Das ist toll."
Der LHC soll eine Durststrecke in der Teilchenphysik beenden. Seit fast 15 Jahren sind keine neuen Elementarpartikel mehr entdeckt worden. Das soll der LHC ändern. Er soll das Higgs finden und die Susy-Teilchen – und Europa nach Jahrzehnten der amerikanischen Dominanz zur Pole Position in der Physik verhelfen. Hans Hoffmann:
"Mit diesem Projekt, wenn alles gut geht, sind wir an der Spitze. Ein schönes Gefühl, wenn man erster ist. Und ich glaube, Europa sollte sich das Gefühl auf viel mehr Gebieten gönnen. Denn die Qualität der Wissenschaft in Europa ist mit jedem anderen Kontinent mindestens vergleichbar, wahrscheinlich besser."
"Weltweit das komplizierteste Objekt, das ich kenne. Und ich schließe sämtliche Programme der Nasa dabei mit ein."
Der Koloss von Genf
Startschuss für den größten Beschleuniger der Welt
Von Frank Grotelüschen.
"Die Kombination 100 Meter tief, 2000 Tonnen – das hat noch kein Mensch auf der Welt gemacht!"
"Die Stimmung ist durchwachsen. Die Last und die Verantwortung, die auf jedem liegt, um es wirklich zu schaffen, sind immens."
Michael Eppard und Frank Hartmann sind Physiker. Die beiden haben sich der aufwändigsten Wissenschaftsmaschine aller Zeiten verschrieben – zusammen mit 5000 anderen Physikern aus aller Welt. Der Riese liegt in Genf, am Europäischen Teilchenforschungszentrum Cern, eingebaut in einen 27 Kilometer langen unterirdischen Ringtunnel. Seine Mission: neue Elementarteilchen aufspüren und den Physikern verraten, aus was Materie im Innersten besteht. Sein Name: Large Hadron Collider, kurz LHC. Der stärkste und teuerste Teilchenbeschleuniger aller Zeiten.
Eppard, Hartmann und ihre 5000 Kollegen arbeiten unter Hochdruck. Die Vorbereitung hat Jahrzehnte gedauert. Nun, im Sommer 2008, soll der Superbeschleuniger endlich in Betrieb gehen.
1983: In Genf beginnen die Bauarbeiten für einen gewaltigen Tunnel. Mit dabei: der deutsche Physiker Hans Hoffmann.
"Cern-Angestellter bin ich seit 35 Jahren."
Wie Riesenmaulwürfe graben sich die Bohrmaschinen durch den Untergrund. In 100 Metern Tiefe treiben sie einen Ringtunnel durchs Gestein – Umfang: 27 Kilometer. Als der Tunnel fertig ist, bauen die Physiker einen Beschleuniger ein: Er schießt Elektronen auf ihre Antiteilchen, die Positronen. LEP, so heißt die Maschine – Large-Electron-Positron-Collider. Damals der stärkste Beschleuniger seiner Zeit. Doch Hoffmann und seine Leute denken schon einen Schritt weiter.
"Wenn wir so eine Infrastruktur bauen mit einem 30 Kilometer langen Tunnel, dann werden wir den so bauen, dass man da noch eine andere Maschine rein tun kann. Als wir mit LEP anfingen, war es immer klar, dass wir da mal einen LHC reinbauen. Völlig klar."
In einem Beschleuniger kreisen winzige Materieteilchen in einer luftleeren Stahlröhre. In jeder Runde werden sie von starken Radiowellen angeschoben – bis fast auf Lichtgeschwindigkeit, knapp 300.000 Kilometer pro Sekunde. Damit die Partikel nicht aus der Kurve fliegen, werden sie von wuchtigen Magneten auf der Bahn gehalten. Dann lässt man die Teilchen frontal aufeinander prallen, wie Geschosse. Ein Energieblitz flammt auf. Neue Teilchen entstehen und zerstieben in Dutzende von Bruchstücken – ein Feuerwerk im Mikrokosmos, beobachtet von haushohen Detektoren. In diesem Feuerwerk suchen die Physiker nach neuen, unbekannten Partikeln – nach den Urteilchen der Materie, den Grundbausteinen unserer Welt.
Je größer ein Beschleuniger ist, umso stärker kann er Teilchen beschleunigen. Desto stärker ist die Wucht des Aufpralls, und umso größer die Chance, neue Teilchen zu erzeugen. Die Maßzahl für einen Beschleuniger ist das Elektronenvolt. Das ist die Energie, auf die er ein Teilchen bringen kann. Eine Fernsehbildröhre bringt es auf 20.000 Elektronenvolt. Der alte LEP-Beschleuniger am CERN schaffte 200 Milliarden Elektronenvolt. Der heutige Rekordhalter, das Tevatron bei Chicago, hat zwei Billionen Elektronenvolt. Der LHC soll 14 Billionen Elektronenvolt erreichen – Weltrekord.
1985: Der LEP-Beschleuniger ist noch gar nicht in Betrieb, da überlegt man am Cern bereits, wie sein Nachfolger aussehen soll: Statt der leichten Elektronen soll er schwere Wasserstoffkerne aufeinander feuern, die Protonen. Damit wäre die Wucht des Zusammenpralls größer, der Beschleuniger wäre leistungsfähiger. Bald hat das Projekt seinen Namen: Large Hadron Collider, LHC. Doch die Zeit drängt. Die Amerikaner wollen einen ähnlichen Beschleuniger bauen. Hoffmann:
"Da begann ein Wettrennen. Die Amerikaner sind hingegangen und haben gesagt: Diese verdammten Kerle im Cern – was für eine Maschine können die nicht bauen? Da haben sie gesagt: OK, wir machen eine Maschine, die 80 Kilometer Umfang hat. Das passt nicht ins Genfer Becken! Zwischen See und Jura geht das nicht!"
Was erhoffen sich die Forscher vom LHC? Was soll er finden? Vor allem eines – den letzten Baustein, der im heutigen Weltbild der Physik noch fehlt. Standardmodell, so heißt dieses Weltbild. Es geht davon aus, dass es zwölf Urbausteine gibt. Sie heißen Quarks, Elektronen und Neutrinos, und es gibt sie in verschiedenen Sorten. Zusammengehalten werden diese Urbausteine durch drei Naturkräfte: die elektromagnetische Kraft, die starke Kraft und die schwache Kraft. Doch damit ist das Standardmodell noch nicht komplett. Ein Baustein fehlt noch. Dass er existieren muss, hatte bereits in den 60er Jahren ein Physikprofessor aus dem schottischen Edinburgh vorausgesagt.
"Peter Higgs, Professor of Theoretical Physics at Edinburgh University.”"
Peter Higgs, Jahrgang 1929. Freundlich, bescheiden, beinahe schüchtern:
"”Das geht zurück auf das Jahr 1960. Damals stieß ich auf die Arbeiten des Japaners Yoichiro Nambu. Nambu wollte eine neue Theorie über Elementarteilchen aufstellen. Und zwar war seine Theorie inspiriert durch die Theorie der Supraleitung. Bei der Supraleitung tun sich die Elektronen in einem Metall zu Paaren zusammen und bilden quasi ein neues Teilchen. Dadurch können sie dann ohne jeden Widerstand durch das Metall fließen, es wird supraleitend. Nambu versuchte dieses Modell auf die Welt der Elementarteilchen zu übertragen. Das Problem: Er musste bei seiner Theorie von der Existenz bestimmter masseloser Teilchen ausgehen. Doch solche Teilchen gab es offenbar nicht, sonst hätte man sie damals längst entdeckt. Also suchte ich nach einer Idee, wie man diesen masselosen Teilchen irgendwie Masse verleihen konnte."
Jahrelang blieb das Problem ungelöst, erzählt Peter Higgs. Dann endlich stieß er auf die Lösung. Higgs:
"”Ich schrieb einen kurzen Fachartikel, der einen Ausweg aus dem Problem skizzierte. Und zwar musste man das Problem innerhalb bestimmter Theorien angehen, so genannter Eich-Theorien. Dann ging ich einen Schritt weiter und verband die Eich-Theorien mit der Theorie der Supraleitung. Dabei kam dann ein Teilchen heraus, das zwar den Photonen ähneln, also den Lichtteilchen, das aber dennoch eine Masse besitzt. Und das war es – das war die Lösung!""
Peter Higgs hatte ein Teilchen postuliert, das allen anderen Teilchen Masse verleiht. Genauer gesagt legt Higgs dem Universum ein alles durchdringendes Feld zu Grunde. Durch dieses Feld bewegen sich die Teilchen wie durch einen zähen Sirup. Dabei verspüren sie einen Widerstand, ähnlich dem Widerstand, den der Sirup dem Kochlöffel beim Umrühren bietet. Ebendieser Widerstand ist es, der den Teilchen Masse verleiht. Das Higgs-Partikel ist das meiste gesuchte Teilchen in der Physik. Wenn es der LHC entdeckt, wäre endlich das Rätsel gelöst, warum Elementarteilchen überhaupt Masse besitzen. Die letzte Lücke im Standardmodell – sie wäre geschlossen.
1988: Die Amerikaner fällen eine Entscheidung: Ihr Beschleuniger soll in Texas stehen. Der Name: Superconducting Supercollider, kurz SSC. Damals verantwortlich für den Bau: der Deutsche Rainer Meinke.
"Der SSC ist ein Beschleunigerprojekt, der größte Beschleuniger, der jemals bisher geplant worden ist. Er hat ungefähr 87 Kilometer Umfang. Es sind also ungewöhnliche Ausmaße."
Meinke und seine Leute geben Gas. Ihr Zeitplan ist eng.
"Am 29. September 1999 soll es die ersten Wechselwirkungen in den Detektoren geben."
Die Physiker am Cern sind unter Druck. Sie können keine 87-Kilometer-Maschine bauen, sondern sind auf ihren 27-Kilometer-Tunnel angewiesen. Um das Manko auszugleichen, entscheidet sich das Cern für eine riskante Strategie: Hans Hoffmann und seine Kollegen wollen Magneten einbauen, die fast doppelt so stark sind wie die der Amerikaner. Und: Im LHC sollen viel mehr Wasserstoffkerne kreisen als im SSC – fast zehnmal soviel. Hoffmann:
"Dann konnten wir mit 27 Kilometern Umfang eine Maschine bauen mit demselben physikalischen Potenzial wie die 80-Kilometer-Maschine, die die Amerikaner in Texas machen wollten."
100 Meter fährt der Fahrstuhl in die Tiefe, dann öffnet sich die Tür. Der Weg führt durch Gänge und Hallen. An einer der Wände lehnen Fahrräder.
"Der Tunnel ist 27 Kilometer lang, und es gibt acht Zugangsstellen."
Michael Eppard, Physiker am Cern in Genf.
"Unter Umständen müssen Sie viele Kilometer zurücklegen, um zu Ihrem Arbeitsplatz zu kommen. Da ist die einfachste Möglichkeit, ein Fahrrad zu nehmen."
Ein paar Schritte noch, dann steht man im Beschleuniger-Tunnel. Er ähnelt einem U-Bahn-Tunnel. Nur: Statt Schienen reihen sich unzählige Stahlröhren aneinander – meterdick und blau lackiert. Eppard:
"Das sind die blauen, 15 Meter langen Magnete. Davon gibt es 1232 Stück. Die sind supraleitend. Das heißt: Wir haben die ganzen 27 Kilometer supraleitende Magnete verbaut. Wir müssen also auf 27 Kilometern diese Magneten auf die Temperatur von Flüssighelium runterkühlen – auf 1,9 Kelvin."
Die supraleitenden Magneten bilden das Herz des LHC. Sie können extrem hohe Magnetfelder erzeugen – und das ist nötig, um die energiereichen Wasserstoffkerne auf ihrer Kreisbahn zu halten. Der Haken: Man muss die Magneten auf minus 270 Grad Celsius kühlen – knapp zwei Grad über dem absoluten Temperaturnullpunkt. Die blaue, meterdicke Röhre ist eine Art Thermosflasche, damit das Flüssighelium innen kalt bleibt. In der dicken Röhre stecken zwei dünne, armdick und luftleer gepumpt. Durch sie kreisen die Protonen, die Wasserstoffkerne – in der einen Röhre im Uhrzeigersinn, in der anderen entgegen. Jeweils 100 Milliarden Protonen sind zu streichholzgroßen Paketen gebündelt. 4000 dieser Pakete kreisen im Ring. Zusammen haben sie soviel Bewegungsenergie wie eine Herde galoppierender Elefanten. Dann – an zwei Stellen des Rings – treffen die Protonenwolken mit voller Wucht aufeinander.
1993: Die Cern-Physiker stecken noch in den Planungen. Die Amerikaner bauen schon. Dann die Nachricht: Der US-Kongress stoppt den SSC. Die Kosten sind explodiert, von ursprünglich 4,4 Milliarden auf 12 Milliarden Dollar. Die amerikanischen Forscher sind fassungslos, wie James Pilcher, Physiker aus Chicago.
"”Das war ein enormer Schock. Wir hätten das nie für möglich gehalten – nach den gewaltigen Investitionen, die schon in den SSC geflossen waren. Viele Physiker hatten ihm Jahre ihrer wissenschaftlichen Laufbahn geopfert. Die Enttäuschung war so groß, dass die meisten von uns Monate brauchten, um sich vom Schock zu erholen – wie nach einem Todesfall in der Familie.""
Hoffmann:
"Die Amerikaner haben eine Sache total unterschätzt. Die haben gesagt: Irgendwo auf der grünen Wiese können wir ein Labor aus dem Boden stampfen, und es funktioniert sofort. Das geht nicht. Sie müssen Leute haben, die wissen, worüber sie reden. Sie können nicht einfach ein paar Leute zusammentrommeln und sagen, das geht dann. Dafür sind viel zu viele Details, die gelöst werden müssen. Und das geht da nicht."
Der Druck auf das Cern lässt nach – der Entscheidungswille der Politiker auch. Das OK für den LHC kommt nicht wie erhofft Ende 1993. Die Entscheidung wird vertagt.
Der LHC soll das Higgs-Teilchen finden, den letzten Baustein des Standardmodells. Aber die Physiker erhoffen sich noch mehr. Manche glauben, dass der LHC winzige schwarze Löcher erzeugt, aus denen sich vielleicht sogar Energie gewinnen lässt. Und zwei russische Theoretiker meinen, dass der Genfer Beschleuniger ein Wurmloch öffnen wird – eine Art Tor in die Zukunft, mit dem Zeitreisen möglich werden. Aber das sind Außenseiter-Theorien, die meisten Physiker halten sie für reine Sciencefiction. Als viel wahrscheinlicher gilt, dass der LHC eine andere Theorie überprüfen wird – eine Theorie, die weit über das Standardmodell hinausgeht. Supersymmetrie, so heißt sie, kurz Susy.
"Wir haben 1974, ausgehend von diesen zweidimensionalen Modellen, darauf geschlossen, dass da eine Symmetrie dahinter stecken muss und haben versucht, diese Symmetrie zu finden."
Julius Wess, damals am Max-Planck-Institut für Physik in München. In den 70er Jahren arbeitete er gemeinsam mit dem Italiener Bruno Zumino an einem abstrakten mathematischen Problem. Wess:
"Wir wussten ja nicht, wozu es führt."
Bald dämmerte es Wess und Zumino: Vielleicht ließen sich ihre abstrakten Spekulationen auf ein reales Problem anwenden – die Kluft zwischen Materie und Kräften. Im Standardmodell nämlich stehen Materie und Kräfte unverwandt nebeneinander – ein Makel. Wess:
"Gibt es da eine Symmetrie zwischen den beiden oder nicht? Und Supersymmetrie ist der Versuch, zwischen denen eine Symmetrie herzustellen. Diese Symmetrie ist eine Verallgemeinerung des normalen Symmetriebegriffes, wie wir ihn in der anschaulichen Physik kennen. Das wäre ein großer Fortschritt im Verständnis der Natur!"
Symmetrien sind in der Physik allgegenwärtig. Zum Beispiel die Symmetrie zwischen Elektrizität und Magnetismus: Sie bilden zwei Seiten ein- und derselben Medaille – dem Elektronmagnetismus. Auf ähnlichen Symmetrien basiert auch die Teilchenphysik. So kennt das Standardmodell ebenso viele Sorten von Quarks wie Sorten von Elektronen. SUSY, die Supersymmetrie, verspricht nun erstmals einen Zusammenhang zwischen Teilchen und Kräften. Doch die Sache ging erst auf, als Wess und Zumino neue Partikel postulierten. Demnach hätte jedes bekannte Teilchen einen schweren Superpartner – Partner mit merkwürdigen Namen. Wess:
"Squark, oder Smyon oder Wino und Zino."
Der LHC soll diese Superpartner erstmals aufspüren. Das wäre die bedeutendste Entdeckung in der Teilchenphysik seit Jahrzehnten – und sicher einen Nobelpreis wert. Julius Wess aber wird sie nicht mehr erleben. Völlig unerwartet starb er im August 2007 in Hamburg.
1994: Im Dezember fällt die Entscheidung. Der LHC wird gebaut. Rund zwei Milliarden Euro soll er kosten, 2005 soll er fertig sein. An maßstabsgetreuen Modellen üben Physiker wie Jörg Wotschak schon mal, wie sie die riesigen Detektoren zusammensetzen und tonnenschwere Komponenten mit Millimeter-Genauigkeit auf Position bringen.
"Ganz ehrlich gesagt: Wir haben da schon unsere Schmerzen dabei. Denn normalerweise sagt man: Man kann um einen Faktor 3 gegenüber dem, was man kennt, extrapolieren, und das wird schon arbeiten. Dieses Mal versuchen wir, einen Faktor 10 bis 100 auf einmal zu machen. Das heißt wir müssen enorm innovativ sein, um dieser Herausforderung überhaupt begegnen zu können."
"Die Subdetektoren heißen Tip, Top und Tec. Ich bin immer noch auf der Suche nach Tok. Aber das werden wir noch finden."
Frank Hartmann von der Universität Karlsruhe arbeitet an einem der Detektoren mit. Insgesamt gibt es vier, verteilt über den ganzen Ring. Einer von ihnen heißt CMS. Hartmann gehört zu den mehr als 2000 Physikern aus aller Welt, die bei CMS mitmachen. Eine gigantische Kamera für Elementarteilchen.
"Im Prinzip sehen Sie jetzt das Herzstück des Detektors. Das ist der Spurendetektor. Sie sehen eine zylindrische Hülle mit jeder Menge Kabeln, die dort abgehen."
CMS ist ein Klotz aus bunt lackierten Metallteilen und hat die Ausmaße eines Bürohauses: 16 Meter hoch, 16 Meter breit, 25 Meter lang. Er steht in einer Halle groß wie eine Kathedrale – und zwar dort, wo die Wasserstoffkerne kollidieren, 100 Meter tief unter der Erde. Entsteht beim Zusammenstoß zweier Protonen ein neues Teilchen, etwa ein Higgs, zerfällt dieses Higgs gleich wieder in Bruchstücke. Diese Bruchstücke fliegen durch den Detektor hindurch und hinterlassen dort ihre Spuren. Wie eine Zwiebel besteht der Detektor aus mehreren Schalen. Einige Schalen messen die Energie, andere die Flugbahnen der herausrasenden Teilchen. Die innerste Zwiebelschale ist der Spurendetektor – ein Zylinder von der Größe eines Lastwagens. Er besteht aus hochempfindlichen Siliziumstreifen und soll die Flugbahnen der Teilchen vermessen – und zwar bis auf ein paar Mikrometer genau. Hartmann:
"Hier haben Sie jetzt einen sehr seltenen Blick, nämlich nur ungefähr zwei Wochen lang während der Konstruktion, genau jetzt. Sie sehen hier die inneren Lagen des Detektors offen. Genau in der Mitte von diesem Teil werden die Kollisionen stattfinden. Sie sind hier mittendrin, das ist das Herzstück des Detektors. Sie können näher ran gehen, das ist nicht gefährlich. Nur sobald Sie in einen Abstand von einem halben Meter kommen, müsste man einen Mundschutz benutzen, weil die Sensoren sensitiv auf Spucke sind. Sie haben einen gewissen Säureanteil, der das Ganze zerstören kann."
Noch steht der Spurendetektor halbfertig in einer Halle auf dem Cern-Gelände. Dutzende von Forschern sind dabei, ihn aus zigtausenden von Einzelteilen zusammenzumontieren. Einige ziehen Kabel, andere schrauben, andere hängen konzentriert vor dem Computer. Hartmann:
"Arbeitszeiten von 60, 70 Stunden die Woche sind keine Seltenheit. Ein Beispiel ist dieser Detektor: Die Techniker haben tagsüber in zwei Schichten verkabelt. Und die Physiker haben die Nachtschicht genutzt, um die einzelnen Elemente nachzukontrollieren. Und das über Monate hinweg. Die Endphase in einem Projekt dieser Größe ist einfach stressig und bedarf viel Körperschweiß und Blut. Es ist mein persönliches Interesse, dass dieser Detektor funktionieren wird. Ich kann mir nichts anderes vorstellen, das muss so passieren. Wenn das schief läuft, haben wir keine Chance, den Detektor noch einmal in der Zeit zu bauen. Da darf auch etwas Nervosität aufkommen."
Michael Eppard:
"Unter uns ist der Beschleunigertunnel, 27 Kilometer Umfang. An vier Stellen werden die Protonen zur Kollision gebracht. Und das hier ist eine Stelle. Das ist ein Wechselwirkungspunkt, und um diesen Wechselwirkungspunkt herum bauen wir das Experiment CMS."
Im Laufe von Monaten senkt ein Spezialkran die einzelnen Teile durch einen Schacht nach unten. Dort bauen Michael Eppard und seine Leute den CMS-Detektor zusammen. Der komplette Detektor wiegt 14.000 Tonnen. Eppard zeigt auf einen haushohes Gebilde aus Messing. Es gehört zum Kalorimeter. Das ist jene Schale in der Detektorzwiebel, die die Energie der herausstiebenden Teilchen misst. Eppard:
"Dieses Messing ist von russischen Artillerie-Granatenhülsen. Wenn ein russisches Kriegsschiff eine Artilleriegranate abfeuert, bleibt eine Hülse übrig. Die besteht aus purem Messing. Wir haben sehr viele Russen in unserer Kollaboration. Die haben chronisch kein Geld, aber immer gute Ideen. Die sind auf die Idee gekommen, dass dieses Messing absolut ausreichende Qualität hat. Man hat dann diese Granatenhülsen eingeschmolzen, zu Platten gegossen und zu unserem Kalorimeter zusammengebaut. Das ist also ‚Schwerter zu Pflugscharen’ – ein echtes Beispiel für Konversion."
CMS ist der eine der beiden großen Detektoren am LHC. Der zweite heißt Atlas und sieht deutlich anders aus als CMS, sagt Thomas Müller, Physikprofessor aus Karlsruhe.
"Der Atlas-Detektor ist größer als CMS. Er hat ein völlig anderes Konzept. Was sehr wichtig ist, weil wir sehr seltene Phänomene suchen und hoffentlich auch entdecken werden, die durchaus durch Falschmessungen vorgetäuscht werden können. Und bei völlig unterschiedlichen Detektor-Konzepten kann man das leichter überprüfen."
Zwei Detektoren an einem Beschleuniger. Hinter jedem steckt ein Team aus 2000 Forschern. Und jedes Team hofft inständig, das erste zu sein, das das Higgs entdeckt, oder ein Susy-Teilchen. Müller:
"Wir haben gute und enge freundschaftliche Beziehungen. Jetzt aber handelt es sich um zwei Teams, die miteinander in Konkurrenz sind. Ich betrachte das als sportliche Konkurrenz. Wenn es um die Datenanalyse geht, werden wir weitestgehend versuchen, Stillschweigen zu bewahren."
Das Jahr 2000: Die Vorbereitungen laufen nach Plan. Die ersten Magneten sind fertig. Doch dann rückt Generaldirektor Luciano Maiano mit einer unangenehmen Wahrheit heraus. Die Forscher sind perplex. auch Hans Hoffmann.
"Im Jahr 2000, anderthalb Jahre, nachdem er Generaldirektor war, hat er gesagt: Uns fehlt Geld! Damals gab es einen großen Aufschrei – ein Abgrund von Schulden am Cern. Da haben wir eine Milliarde Schulden entdeckt. Letztendlich eine Kostenüberschreitung von etwa dreißig Prozent."
Der LHC wird knapp drei Milliarden Euro kosten, und nicht zwei wie ursprünglich vorgesehen. Um den Beschleuniger zu retten, muss das CERN andere Projekte, die nichts mit dem LHC zu tun haben, herunterfahren. Es muss zusätzliche Kredite aufnehmen und muss den Zeitplan strecken. Der Start wird um zweieinhalb Jahre verschoben – von Frühjahr 2005 auf Herbst 2007.
Als die Physiker den LHC planen, stoßen sie auf ein Problem: Die Detektoren werden eine enorme Datenflut erzeugen.
"Jedes der Experimente erzeugt etwa eine Million Gigabyte pro Sekunde."
Wolfgang von Rüden, er leitet die IT-Abteilung am Cern.
"Und wenn man alles aufsummiert, was pro Jahr zusammenkommt, sprechen wir von 15 Petabyte. Das sind 15 Millionen Gigabyte pro Jahr. Wenn man das alles auf CDs speichern würde, macht das einen Turm von ungefähr 20 Kilometern Höhe. Das entspricht etwa einem Prozent der gesamten Information, die weltweit produziert wird. Wenn Sie alle Filme, Zeitungen, Bücher, Fotos, alles was man sich vorstellen kann, zusammenzählen, entspricht das, was wir produzieren, etwa einem Prozent davon."
Um mit dieser Datenflut fertig zu werden, braucht es die Rechenleistung von 100.000 modernsten PCs. Das Rechenzentrum am Cern wäre damit völlig überfordert. Die Cern-Informatiker müssen also neue Wege gehen. In den frühern 90ern haben sie das World Wide Web erfunden. Nun basteln sie am Nachfolger, dem World Wide Grid. Rüden:
´"Das Grid ist ein verteiltes Rechnen. Einfach gesehen ist es ein riesiges Rechenzentrum, das man auf viele Städte und Länder verteilt. Beim Web können Sie Informationen, Fotos, Dokumente abrufen – egal, wo sie sitzen. Was beim Grid dazu kommt ist, dass man Rechenkapazität und Speicherkapazität, die verteilt existiert, mitbenutzen kann."
Die Computer aus mehreren Rechenzentren sind miteinander vernetzt, und das Grid lässt immer dort rechnen, wo die Computer gerade nichts zu tun haben. Egal, wo auf der Welt ein Physiker die Daten auswerten will – am Ende bekommt er sein Ergebnis, ohne zu ahnen, wo es ausgerechnet wurde – ob in Berlin, Peking oder New York. Erst diese weltweite Vernetzung von Rechenpower macht es möglich, die Messdaten des LHC auszuwerten und nach den Spuren von Higgs und SUSY zu durchforsten. Und wird das Grid dann ebenso die Welt erobern wie einst das Web? Rüden:
"Das erwarte ich schon. Es ist ziemlich klar, dass diese Entwicklung, die von der Wissenschaft nach vorne gepusht wird, auch in anderen Bereichen benutzt wird."
2007: Eigentlich läuft alles nach Plan. Die Magneten, mehr als 1600, sind im Tunnel eingebaut. Doch Ende März testen die Physiker einen der Spezialmagneten – eine 50 Tonnen schwere Magnetlinse, die die Protonenwolken unmittelbar vor der Kollision zusammenpresst. Plötzlich ein lauter Knall; Rauch quillt aus dem Magneten. Die Feuerwehr kommt, der Tunnel wird evakuiert. Bald ist der Grund gefunden: Der Magnet ist geplatzt, er hat dem Druck nicht standgehalten – ein Konstruktionsfehler. Insgesamt gibt es neun Magnetlinsen am LHC. Sie müssen überarbeitet werden – eine Rückrufaktion mit Folgen. Das Cern muss den Start ein weiteres Mal verschieben – vom Herbst 2007 auf den Sommer 2008.
Die Forscher sind nervös. Wird die Maschine so laufen wie geplant? Oder wird noch eines der unzähligen Glieder in der Kette versagen und das Projekt erneut um Monate zurückwerfen, wenn nicht um Jahre? Die Folgen könnten fatal sein: Je mehr sich der Start verzögert, desto größer werden die Chancen für einen anderen Beschleuniger, das Higgs-Teilchen zu finden – das Tevatron bei Chicago.
"”Wir werden intensiv nach dem Higgs suchen. Das ist schließlich die wichtigste Frage der Teilchenphysik, der Physik überhaupt. Wir haben Hinweise darauf, dass das Higgs relativ leicht sein könnte – was bedeutet, dass es möglicherweise in der Reichweite des Tevatrons liegt. Und wir werden uns bemühen, die Gelegenheit zu nutzen, bevor der LHC eingeschaltet wird","
sagt Terry Wyatt aus Manchester, er ist an einem der Tevatron-Experimente beteiligt. Je länger der US-Beschleuniger ohne Konkurrenz messen kann, desto größer ist die Chance, dass er dem LHC eine wichtige Entdeckung vor der Nase wegschnappt. Wyatt:
"”Ich sehe eine reelle Chance, dass wir zumindest Spuren vom Higgs sehen. Zwar dürfen wir mit dem Tevatron allenfalls eine Handvoll von Higgs-Teilchen erzeugen. Und es gibt jede Menge anderer Prozesse, die bei der Datenauswertung ganz ähnlich aussehen, die das Higgs vortäuschen könnten. Dennoch: Hinweise auf das Higgs könnten wir durchaus finden – auch wenn der endgültige Beweis wohl dem LHC vorbehalten bleibt.""
Sommer 2008: Der Countdown läuft. Bald wird sich Hans Hoffmann mit seinen Kollegen im Kontrollraum drängen. Dort nämlich wird er gedrückt – der Startknopf für den größten Beschleuniger aller Zeiten.
"Wenn man so eine Maschine das erste Mal anschaltet und man sieht die ersten Analysen, die aus den Daten rauskommen, und man arbeitet an etwas, wo man absolutes Neuland betritt – das ist spannend. Das ist toll."
Der LHC soll eine Durststrecke in der Teilchenphysik beenden. Seit fast 15 Jahren sind keine neuen Elementarpartikel mehr entdeckt worden. Das soll der LHC ändern. Er soll das Higgs finden und die Susy-Teilchen – und Europa nach Jahrzehnten der amerikanischen Dominanz zur Pole Position in der Physik verhelfen. Hans Hoffmann:
"Mit diesem Projekt, wenn alles gut geht, sind wir an der Spitze. Ein schönes Gefühl, wenn man erster ist. Und ich glaube, Europa sollte sich das Gefühl auf viel mehr Gebieten gönnen. Denn die Qualität der Wissenschaft in Europa ist mit jedem anderen Kontinent mindestens vergleichbar, wahrscheinlich besser."