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Der Kommentar als Erzählung

Vladimir Nabokovs Roman "Fahles Feuer", sieben Jahre nach "Lolita" 1962 erschienen, kommt als Parodie einer wissenschaftlichen Gedicht-Edition daher. Inspiriert von seiner jahrelangen Übersetzer- und Herausgeber-Arbeit an Puschkins "Eugen Onegin" hatte Nabokov die unerhörte Idee, den philologischen Kommentar zur literarischen Form zu machen. Als Autor des Welterfolgs "Lolita" konnte er sich solche Extravaganzen leisten.

Von Wolfgang Schneider | 22.06.2008
    Stellen Sie sich Ihren Nachbarn vor. Stellen Sie sich vor, dieser großgewachsene, intelligente, aber etwas aufdringlich wirkende Mann wäre in Wahrheit gar nicht der unscheinbare Philologe, als der er offiziell firmiert. Sondern ein König namens Carl der Vielgeliebte, der nach revolutionären Unruhen aus seinem landschaftlich reizvollen Reich namens Zembla fliehen musste und es auf abenteuerlichen Wegen schließlich bis in Ihr Nebenhaus geschafft hat, wo er nun dem Inkognito frönt. Nur Ihnen, Ihnen allein vertraut er sich an ...

    So ergeht es dem 61-jährigen Dichter John Shade im beschaulichen nordamerikanischen Universitätsstädtchen New Wye. Kürzlich ist nebenan der Literaturdozent Charles Kinbote eingezogen. Und dieser Kinbote behauptet nun tatsächlich, jener Carl II. zu sein, der von Häschern verfolgte Ex-Monarch. Aber er hat nicht nur eine atemberaubende Vergangenheit im Gepäck; zugleich umschwärmt er den verdutzten Shade als größter denkbarer Verehrer seines Werks:

    " Und er war in der Tat ein sehr lieber Freund! Dem Kalender nach habe ich ihn nur wenige Monate gekannt, aber es gibt Freundschaften, die ihre eigene innere Dauer entwickeln, ihre eigenen Äonen transparenter Zeit ... Nie werde ich vergessen, wie hochgestimmt ich war, als ich erfuhr - dies alles erwähnt in einer Anmerkung, die mein Leser noch finden wird -, dass das Vororthaus (mir zur Miete überlassen von Richter Goldsworth, der sein freies siebentes Jahr zu einem Englandaufenthalt nutzte), in das ich am 5.Februar 1959 einzog, gleich neben dem des berühmten amerikanischen Dichters stand, dessen Verse ich zwei Jahrzehnte zuvor ins Zemblanische zu übertragen versucht hatte. "

    Wie Shade auf den Mann und sein unerhörtes Bekenntnis reagiert - das erfahren wir vertrackterweise wiederum nur von Kinbote selbst, denn er ist zugleich die Erzählerfigur von Vladimir Nabokovs Roman "Fahles Feuer". Wie Humbert Humbert, die männliche Hauptfigur von "Lolita", gehört Kinbote zu den überaus exzentrischen Helden Nabokovs, die mittels ihrer Obsessionen und starken Meinungen faszinieren und meist am Rand des Nervenzusammenbruchs agieren. Sie bringen sich selbstredend in Ich-Form zur Darstellung, in Bekenntnissen von auftrumpfender sprachlicher Brillanz, denen nie ganz zu trauen ist. Denn diese Figuren sind Opfer der eigenen deformierten Wahrnehmung, die ihre scheinbar exakten Mitteilungen unter der Hand entstellt - und gehe es nur um den Bericht jenes akademischen Abendessens, bei dem Kinbote seinem Dichter-Nachbarn persönlich vorgestellt wird:

    " Man lud mich ein, mit ihm und vier oder fünf anderen bedeutenden Professoren an seinem angestammten Tisch Platz zu nehmen ... Sein lakonischer Vorschlag, ich möge doch ‚den Schweinebraten probieren', amüsierte mich. Ich bin strenger Vegetarier und koche gern selbst. Etwas zu mir zu nehmen, worin ein Mitmensch herumgemanscht hat, so ließ ich meine rotwangigen Tischgenossen wissen, sei mir so widerwärtig wie irgendeine Kreatur zu verspeisen, und das schlösse - ich senkte die Stimme - die üppige Studentin mit dem Pferdeschwanz ein, die, unserer Bestellungen harrend, an ihrem Bleistift leckte. Außerdem hatte ich bereits die in der Aktentasche mitgebrachten Früchte verzehrt, und deshalb würde ich mich lieber, sagte ich, mit einer Flasche guten College-Biers begnügen. Mein freies und einfaches Benehmen entkrampfte alle." "Fahles Feuer", sieben Jahre nach "Lolita" 1962 erschienen, ist ein Fest für Freunde des unzuverlässigen Erzählers. Kein anderer Autor hat die Möglichkeiten dieser Erzählstrategie so ausgeschöpft wie Nabokov. Kaum erstaunlich, dass Daniel Kehlmann, der sie in Büchern wie "Ich und Kaminski" selbst glänzend eingesetzt hat, Nabokov zu seinen wichtigsten Lehrmeistern zählt. Vor allem rühmt er "Fahles Feuer". Als den Roman, der ihn am meisten geprägt habe, hat er das Buch einmal bezeichnet.

    Zu Beginn ist John Shade bereits tot - der Dichter wurde ermordet im Vorgarten. Aber er hat ein inspiriertes Werk hinterlassen, ein Poem in vier Gesängen mit insgesamt 999 Versen, das nun von keinem anderen als Kinbote herausgegeben wird. Es trägt den Titel "Fahles Feuer" und folgt im Roman tatsächlich auf Kinbotes Vorwort, in dem sich gegen übliche wissenschaftliche Gepflogenheiten bereits ein fiebrig-nervöser Stil geltend macht. Mit anderen Worten: Nabokovs Roman "Fahles Feuer" kommt als Parodie einer wissenschaftlichen Gedicht-Edition daher. Inspiriert von seiner jahrelangen Übersetzer- und Herausgeber-Arbeit an Puschkins "Eugen Onegin" hatte Nabokov die unerhörte Idee, den philologischen Kommentar zur literarischen Form zu machen. Als Autor des Welterfolgs "Lolita" konnte er sich solche Extravaganzen leisten ohne bittere Verlegergesichter befürchten zu müssen.

    Als Kommentator vertraut Kinbote ganz auf das "Trompetengeschmetter innerer Evidenz". Die Informationen zu Shade und seinem Gedicht wirken bald nur noch wie die unzulängliche Tarnung des eigenen Romans. Jede Eselsbrücke in die eigene Biographie wird genutzt. Wird in Shades Gedicht ein Baum erwähnt oder ein Schlafzimmer, so findet Kinbote zureichenden Grund, um über Bäume und Schlafzimmer zu schreiben, die in seinem verkappten königlichen Leben eine zentrale Rolle spielten. Zembla haben wir uns dabei als Gemeinwesen vorzustellen, in dem vor der Revolution eigentlich alles nur zum Besten stand:

    " Harmonie war in der Tat die Losung dieser Herrschaft. Die schönen Künste und die Reinen Wissenschaften standen in Blüte. Technologie, angewandte Physik, industrielle Chemie und so fort waren wohlgelitten. In Onhava wuchs ein kleiner Wolkenkratzer aus ultramarinem Glas langsam höher und höher. Das Klima schien sich zu bessern. Aus dem Steuerwesen war etwas Schönes geworden. Die Armen wurden etwas reicher und die Reichen etwas ärmer ... Medizinische Fürsorge breitete sich bis an die Landesgrenzen aus ... Das Fallschirmspringen hatte sich zum Volkssport entwickelt. Mit einem Wort, alle waren zufrieden - selbst die politischen Unfugstifter, die zufrieden ihren Unfug stifteten. Aber verfolgen wir dies ermüdende Thema nicht weiter. "

    Die außerordentliche Beliebtheit Carls II. erweist sich auf der Flucht. Nach der Revolution entweicht er seinen Verfolgern auf abenteuerlichen Wegen über das Hochgebirge - was vor allem deshalb gelingt, weil sich Hunderte von Carls Anhängern als Könige auf der Flucht ausgeben. Dank dieser verwirrenden Imitationen kann der echte unerkannt entrinnen.

    Wie ein überdimensionaler Parasit setzt sich Kinbotes eigener Lebensroman auf dem Wirtsorganismus des Shade-Poems fest: Sekundär-Literatur in einem sehr vitalen Sinn. Das Motiv des Parasitismus klingt schon im Titel an, einem Zitat aus Shakespeares "Timon von Athen": "Der Mond ist ein abgefeimter Dieb, der sein fahles Feuer von der Sonne stiehlt." Es geht um den Diebstahl als Weltprinzip. Dass Kinbote selbst den Titel nicht zuordnen kann, gehört zu den Ironien des Romans. Zwar trägt er ständig eine "Timon"-Ausgabe mit sich herum, aber leider in der fehlerhaften zemblanischen Übersetzung seines Onkels Conmal, wo "pale fire" nicht ganz zutreffend als "silbriges Licht" wiedergegeben wird.

    Regelmäßig eingefügt sind detaillierte Szenen aus dem Leben des Killers Jacob Gradus, der im Auftrag der zemblanischen Extremistengruppe "Die Schatten" die Spur des Ex-Monarchen aufnimmt und ihm allmählich immer näher kommt bis zur tödlichen Kollision - nur dass er im Vorgarten eben den Falschen trifft, nämlich Shade. Glaubt man den Kinbotes Gradus-Beschreibungen, in denen Nabokovs Verachtung des revolutionären Charakters sehr deutlich wird, wundert das Versagen des mediokren Pistoleros allerdings nicht:

    " Wir kennen bereits einige seiner Gebärden, wir kennen die Schimpansenhaltung seines breiten Körpers und die kurzen Hinterbeine. Wir haben genug über seinen zerknautschten Anzug gehört.

    Man könnte ihn einen Puritaner nennen. Von einer grundsätzlichen Abneigung, schrecklich in ihrer Simplizität, war seine dumpfe Seele durchdrungen: Er hasste Ungerechtigkeit und Betrug.

    Ein solcher Abscheu hätte Lob verdient, wäre er nicht ein Nebenprodukt der hoffnungslosen Dummheit des Mannes gewesen. Ungerecht und betrügerisch nannte er alles, was über sein Verständnis hinausging ... Wenn jemand arm war und jemand anders wohlhabend, spielte es keine Rolle, was den einen ruiniert hatte und den anderen reich gemacht hatte; der Unterschied selbst war unfair ... Leute, die zu viel wussten, Wissenschaftler, Schriftsteller, Mathematiker, Kristallographen und so weiter, waren nicht besser als Könige oder Priester: Sie waren im Besitz eines unfairen Anteils an Macht, um den andere betrogen worden waren. "
    Dem Leser drängt sich am Ende allerdings eine andere Lesart auf: Bei dem vermeintlichen Königsmörder Gradus handelt es sich um einen gewöhnlichen Kriminellen namens Jack Grey. Einer Anstalt für die "Criminal Insane" entsprungen, wollte er sich beim Eigentümer des von Kinbote gemieteten Hauses - dem Richter Goldsworth - für die Haftstrafe rächen. Gerade wenn es nur ein absurdes Missgeschick war, das den Tod des Autors herbeiführte, bestätigt sich darin jedoch Shades poetische Welt-Sicht, die er im Gedicht darlegt: das Leben als "Kuddelmuddel von Koinzidenzen", als "Ornament" von Zufällen.

    Kinbote will als Kommentator des Gedichts die "Rückseite des Gewebes" zeigen - und präsentiert doch vor allem den fliegenden Teppich seiner eigenen traumatisch inspirierten Phantasie. Allzu nachdrücklich beschwört er die (wohl nur aus seiner Sicht) "herrliche Freundschaft" mit Shade, die dessen "letzte Monate überstrahlte". Und berichtet von gemeinsamen Spaziergängen, auf denen er dem Dichter ein Thema einzugeben versuchte: das eigene Königsdrama. Als Shade zu schreiben beginnt, ist es für Kinbote eine ausgemachte Sache, dass es sich nur um das grandiose Poem handeln kann, dass er selbst gewissermaßen im Mutterschoß des Schriftstellerhirns gezeugt hat. Seine Beschattung des Dichters grenzt fortan ans Stalkertum.

    " Ich erinnere mich besonders an einen ärgerlichen abendlichen Spaziergang, den mein Dichter mir mit majestätischer Großzügigkeit als Entschädigung für eine schlimme Kränkung gewährte (siehe, siehe nochmals und nochmals die Anmerkung zu Vers 181) ... Mittels scharfsichtiger Exkursionen in die Naturgeschichte wich Shade mir stets von neuem aus, mir, der ich hysterische, leidenschaftliche, unbändige Neugier hegte, zu erfahren, genau welchen Abschnitt aus den Abenteuern des zemblanischen Königs er im Verlauf der letzten vier oder fünf Tage vollendet hatte. Meine gewöhnliche Schwäche, Stolz, hielt mich davon ab, ihn mit direkten Fragen zu bedrängen, aber ich kam wieder und wieder auf meine früheren Themen zurück - die Flucht aus dem Schloss, die Abenteuer in den Bergen -, um ihm ein Bekenntnis abzuringen ... Aber nichts da! Alles, was ich auf meine unendlich zarten und behutsamen Fragen zur Antwort bekam, waren Sätze wie "Tja. 's geht ganz gut" oder "Nö. Ich sag nichts."

    Unmittelbar nach dem Mord an Shade bringt Kinbote die achtzig Karteikarten, auf denen das Gedicht notiert ist, in seinen Besitz und gibt sie künftig nicht mehr aus der Hand. Riesig allerdings seine Enttäuschung, als er darin nur von Shades unscheinbarer Existenz liest. Bald jedoch tröstet er sich mit der Idee, Zembla sei der Zensur der missgünstigen Dichtergattin Sybil Shade zum Opfer gefallen. Als Kommentator verlegt er sich fortan aufs Dechiffrieren eines Subtexts, in dem die Wahrheit über Zembla aufgehoben sei - und scheut auch nicht das Erfinden vermeintlich gestrichener Stellen, die sich allerdings durch ihre dilettantische Holprigkeit vom Original unterscheiden.

    Man erhält von Kinbote die Anweisung, dass man das Geschriebene gefälligst dreimal zu lesen habe - gemeint ist damit allerdings der Kommentar, der vor, während und dann noch einmal nach der Gedicht-Lektüre zu Rate zu ziehen sei. In komischer Selbstzufriedenheit rundet Kinbote seine Exkurse ab: "Ich möchte glauben, der Leser hatte Spaß an dieser Anmerkung." Und versichert selbstherrlich, aber in diesem Fall wohl zutreffend: "Es ist der Kommentator, der das letzte Wort hat."

    Das Zusammenspiel von Wirklichkeit und Wahn faszinierte Nabokov, schon früh, in dem kleinen, schrägen Meisterwerk "Verzweiflung" aus dem Jahr 1936. Und nicht zufällig hat er ein Buch über Cervantes geschrieben - war er doch selbst Spezialist für moderne Donquichotterien. Kinbotes solipsistisches Wahn-Universum fasziniert nicht zuletzt durch Nabokovs geschliffene Rolls-Royce-Prosa, die einen Kontrast bildet zum schlichten Ton von Shades Poem. Verglichen mit den Abenteuern King Kinbotes scheint Shades Existenz einförmig und friedlich dahinzugleiten: das beschauliche Leben eines Homme de lettres, der aus dem Universitätsstädtchen in den Appalachen kaum herausgekommen ist, ein autobiographischer Gesang vom Dichter in anrührend privaten Momentaufnahmen, das Lob der Ehefrau inbegriffen.
    Die Doppelbödigkeit des Romans besteht darin, dass einerseits die literarische Vergegenwärtigungskunst Nabokovs mit allen Finessen des Realismus arbeitet, andererseits der Realitätsgehalt jedes Satzes zweifelhaft ist. Ist nicht nur der König von Zembla, sondern womöglich der ganze Kinbote eine bloße Fiktion? Verbirgt sich hinter ihm sozusagen "in Wahrheit" ein deprimierter russischer Emigrant namens Botkin, der sich in der Phantasie eine großartige homophile Heimat konstruiert hat? Es gibt Hinweise darauf. Und das Spiel der Deutungsebenen setzt sich über den Roman hinaus fort. Dieter E. Zimmers kenntnisreicher Kommentar des Kommentars weist unter anderem hin auf die vielen kleinen Sach-Fehler, die Kinbote - ganz nach dem Willen Nabokovs - bedeutungsvoll unterlaufen. In der Nabokov-Forschung gibt es weitere hitzig debattierte Meta-Lesarten. Brian Boyd etwa vertritt die Auffassung, dass Shade sich als eigentlicher Herr des Textes Kinbote-Botkin erfunden habe. Wir begnügen uns hier mit der Gewissheit, dass hinter dem ganzen furiosen literarischen Budenzauber zweifellos Vladimir Nabokov steckt, bei dem es sich also nicht um eine Erfindung Dieter E. Zimmers handelt. Seine sublime (aber um Gottes Willen nicht sublimierte!) Kunst stellt er gleichermaßen Shade und Kinbote zur Verfügung. Bei allen Unterschieden in Charakter und Biographie haben die beiden Hauptfiguren übrigens die nabokovianische Neigung zu "strong opinions" gemeinsam, insbesondere wenn es um die schöpferische Ideenwelt der Psychoanalyse geht. Ungeachtet der gemeinsam vergossenen Lachtränen fällt aus dem Abstand der Jahrzehnte jedoch ins Auge, wie nah Nabokov in seinen Romanen manchen Freudschen Obsessionen und Psycho-Mechanismen kommt.

    "Fahles Feuer" ist das wohl meistkommentierte und -debattierte seiner Werke. Hierzulande aber ist dieser Roman bisher noch nicht wirklich angekommen. Die Erstauflage aus dem Jahr 1968 war nach fast vierzig Jahren noch nicht abverkauft. An der geschmeidigen Übersetzung Uwe Friesels, die auch die Grundlage für Zimmers revidierte Fassung abgibt, kann es nicht gelegen haben. Gewiss, im Labyrinth der Querverweise sind unternehmungslustige Leser gefordert, die genügend Finger an der Hand haben, um die Buchseiten beim Hin- und Herblättern offen zu halten. Verglichen mit der strapaziösen "Ada" ist "Fahles Feuer" jedoch ausgesprochen kurzweilig. "Er ist vergnüglicher als meine anderen Romane, und er steckt voller Rosinen, die hoffentlich jemand finden wird", meinte Nabokov. Zu diesen Rosinen gehört auch die Wiederkehr des heimwehkranken Professor Pnin, der allerdings nur von Ferne als Objekt übler Nachrede ins Visier kommt. Ein Vergnügen für sich ist das Register, das zum Roman selbst, nicht zu Zimmers Kommentar gehört. Wer genau hinsieht, erfährt hier das wahrscheinliche Versteck der zemblanischen Kronjuwelen. Reich ist das Buch an stilistischen Kapriolen wie etwa der Darstellung zweier sowjetischer Agenten, die nach Maßgabe des sozialistischen Realismus geschildert und dekonstruiert werden:

    " Jeder bewunderte ihre glattrasierten Kinnbacken, ihren elementaren Gesichtsausdruck, ihr welliges Haar und die vollkommenen Zähne. Der schlanke, hübsche Andronnikow lächelte selten, aber die faltigen, kleinen Strahlen um seine Augenhöhlen verrieten unendlichen Humor, während die doppelten Furchen, die von den Seiten seiner feingeformten Nasenflügel ausgingen, bezaubernde Assoziationen zu Fliegerassen und Wildwesthelden hervorriefen. Niagarin andererseits war von vergleichsweise kleiner Statur (...) und pflegte ab und zu ein großes, jungenhaftes Lächeln auszustrahlen, das an Pfadfinderführer erinnerte, die etwas zu verbergen haben, oder an jene Herren, die bei Fernsehratespielen mogeln. Es war köstlich, den beiden prächtigen Sowjetschiks zuzuschauen ... "

    Spott, Snobismus und Ironie - das sind Kinbotes Waffen gegen eine Welt von Plagen, von der ein verkappter König, Päderast und Vegetarier nicht viel Wohlwollen zu erwarten hat. Eine Schauspielschülerin parodiert ihn als "pompösen Frauenhasser", der "ständig an einer rohen Karotte knabbert". Warum aber erfindet Nabokov nach dem auf allzu junge Mädchen fixierten Humbert einen Helden, der die Jungmänner im Dutzend vernascht, sei es als König Carl, dem viele gefügig sind, oder als Kinbote, der die Studenten von New Wye mit zwei hauseigenen Tischtennisplatten ködert? Gewiss nicht nur, um die durch "Lolita" geweckten Leseerwartungen auf erotische Delikatessen zu befriedigen. Sondern auch, weil Kinbote ein exemplarischer Paranoiker ist - und Nabokov wusste, dass Freud die Paranoia als "verdrängte Homosexualität" zu deuten pflegte. Also lässt er, der Freud-Verächter, seinen Kinbote offenherzig den gleichgeschlechtlichen Freuden frönen. Gelebte Falsifikation, sozusagen.

    "Fahles Feuer" ist ein Buch für wiederholte Lektüren. Und das Erstaunliche: Wo man sich zunächst an scheinbar selbstgenügsamen Spiegel-Spielen für fortgeschrittene Leser ergötzt, nimmt man später die ernsten Themen wahr. Tod und Verlust sind durchgängige Motive. Shades gewaltsames Ende reflektiert das Trauma Nabokovs: die Ermordung seines Vaters durch politische Fanatiker im Jahr 1922. Der Tag, an dem Shade erschossen wird (der 21. Juli), ist der Geburtstag von Vladimir Nabokov Senior. Das Zembla-Phantasma ist bei aller Komik eine grandiose Umsetzung der bitteren Verlusterfahrung des Exils. Jahre zuvor hatte Nabokov in einem Gedicht dafür bereits die Metapher vom "verlorenen Königreich" entwickelt. Nebenbei ist "Fahles Feuer" auch eine Satire auf das Jahrhundert der Ideologien: Sind diese nicht sämtlich kinbotesche Lektüren der Welt? Und nicht zuletzt ist der Roman eine Parabel auf den Prozess des literarischen Lesens. Identifikation ist eine Wirkungsbedingung der Literatur, und insofern handelt es sich bei Kinbotes egozentrischer Lesart von Shades Gedicht um mehr als eine Parodie auf Exegeten, die - anstatt "selbstlos" dem Werk zu dienen - ihre eigenen "Erkenntnisinteressen" auf das Werk applizieren. In Kinbotes grotesker Fehl-Lektüre ist die verzehrende Sehnsucht zu erkennen, die eigene Leidens- und Verlustgeschichte in die literarische Transzendenz hinüberzuretten, ein Stückchen Unsterblichkeit zu ergattern. Denn darum geht es bei Nabokov; geht es auch in Shades Gedicht:

    " Es gab in meiner irren Jugend eine Zeit,
    Da glaubte ich aus irgendeinem Grunde,
    Die Wahrheit übers Weiterleben nach dem Tode
    Sei allgemein bekannt: Nur ich allein
    sei unwissend, und mir enthielte ein umfassendes Komplott
    Von Büchern und Personen diese Wahrheit vor ...
    Welchen Moment im graduellen Niedergang
    Wählt sich die Auferstehung? Welches Jahr? Welch Tag? ...
    Hat mancher wen'ger Glück, oder entkommen alle?
    Ein Syllogismus: Andre Menschen sterben, aber ich
    Bin niemand anders; also sterb ich nicht. "

    So funktioniert das leider nicht, und bis auf Weiteres müssen wir auf die relative Unsterblichkeit perfekter Prosa vertrauen. "Fahles Feuer" ist ein literarisches Vexierspiel, das zugleich vital genug erzählt ist, um in den Bann zu ziehen. Das Leben erscheint in diesem Roman als ewiger Konkurrenzkampf der Wirklichkeiten, wo die Wahrheit des einen die Wahrheit des anderen narrt und wo jeder erhabene Ton sein skurriles Echo findet. Zembla, "Land der Spiegelungen", ist überall.

    Bibliographie

    Vladimir Nabokov: "Fahles Feuer". Roman. Gesammelte Werke, Band 10. Aus dem Englischen von Uwe Friesel und Dieter E. Zimmer. Hrsg. u. kommentiert von Dieter E. Zimmer. Rowohlt Verlag, Reinbek 2008. 604 S., geb., 28,- Euro.