Am 20. März 1969 erschien in den USA das Bilderbuch "The Very Hungry Caterpillar",– ein Bilderbuch des amerikanischen Künstlers Eric Carle. "Die kleine Raupe Nimmersatt", damals seiner Schwester gewidmet, war seine zweite Kindergeschichte, und er gestaltete sie mit farbintensiven Seidenpapieren. Der "Raupe Nimmersatt" folgten im Laufe der Jahrzehnte etwa 70 weitere Bilderbücher in Collagentechnik.
Carles Talent zeichnete sich schon früh ab und seine Eltern haben ihn immer gefördert. Der in Amerika geborene Künstler, Sohn deutscher Auswanderer, verbrachte seine Kindheit in Deutschland. Die Familie war Mitte der 1930er-Jahre nach Stuttgart zurückgekehrt. Diese Zeit hat ihn sehr geprägt. 1952 ging er dann nach Amerika zurück und kam schließlich durch Zufall zum Bilderbuch. Im Juni feiert der international bekannte Künstler seinen 90. Geburtstag.
Kindheit in Amerika, Schulzeit in Stuttgart
Carle wird am 25. Juni 1929 in Syracus in den USA geboren. Für den Sohn deutscher Auswanderer ist die Rückkehr der Eltern in ihr Heimatland im Jahr 1935 ein regelrechter Schock. Er hat in Amerika eine wunderbare Vorschulzeit erlebt, eine Lehrerin entdeckt sein Zeichentalent, seine Eltern fördern ihn, er ist ein glückliches Kind. Die Mutter aber plagt das Heimweh und so kehrt die Familie nach Stuttgart zurück, mitten hinein in ein nationalsozialistisches Deutschland.
Eric Carle ist von Anfang an unglücklich in der deutschen Schule. Er erinnert sich "an einen dunklen Raum mit schmalen Fenstern und an einen gemeinen und grausamen Lehrer, an die körperliche Züchtigung mit einem dünnen und harten Bambusstock."
Er will wieder nach Hause, nach Syracuse. In diese Epoche der Kindheit, ohnehin für ihn schon trist, fallen 1939 der Beginn des Zweiten Weltkrieges und die Abwesenheit des Vaters, der sogleich als Soldat eingezogen wird. Luftangriffe, Nächte in Kellern und Stollenbunkern, Hunger und die Landverschickung der Kinder - all dem Grau wird er die knalligsten Farben entgegensetzen. Sein Leben lang. Eric Carle sagte im Deutschlandfunk:
"Ich muss wieder auf den Krieg zurückkommen, da war alles grau. Die Städte waren ja getarnt: Da gab’s Grüngrau, Graugrau, Braungrau, alles war Grau. Auch die Menschen und teilweise hat Mitteleuropa auch viel graues Wetter. Und heute geht es mir darum, das Grau zu verdrängen, also ich mag Farben, je farbiger je besser. Und manchmal bin ich frustriert, dass ich nicht noch farbenreicher sein kann, weil eben die Augen eine Grenze haben, die Optik."
Der Vater: gesichtsloser Überlebender der großen Katastrophe
Seiner Mutter verdankt er 1945, dass er nicht kurz vor Kriegsende noch als 16-Jähriger eingezogen wird. Als der Vater erst spät aus russischer Kriegsgefangenschaft zurückkehrt, wiegt er nur noch 80 Pfund und ist – wie Carle sagt, "ein gesichtsloser Überlebender der großen Katastrophe".
Im Zusammenhang mit der deutschen Schule erwähnt Carle immer wieder seinen Lehrer Krauss, der dem talentierten Jungen Reproduktionen von Bildern zeigt, die zur "entarteten Kunst" gehören und verboten sind: Es sind Gemälde von Expressionisten und Dadaisten. Carle ist anfangs irritiert, aber schnell begeistert. Beckmann, Picasso und viele andere Maler dieser Zeit prägen ihn nach dem Krieg und beeinflussen seine Vorliebe für ausdrucksstarke Farben.
Aufgrund seines Zeichentalents liegt es nahe, dass Eric Carle die Akademie der Bildendenden Künste in Stuttgart besucht und dort seinen Abschluss macht. Kurzzeitig arbeitet er als Grafiker im Amerika-Haus, geht aber 1952 in die USA zurück.
Der Kinderbuchkünstler Leo Lionni, damals Art Director des Fortune Magazins, holt Carle als Grafiker zur New York Times. Zwischen 1952 – 1954 absolviert er als gebürtiger Amerikaner seinen Militärdienst in der Army, heiratet, wird Vater zweier Kinder und später Art Director bei einer pharmazeutischen Werbeagentur.
Nach zehn Jahren Agenturarbeit wird er freischaffender Grafiker und gestaltet Buchumschläge und Anzeigen. Im Jahr 1967 fragt ihn sein damaliger Chef Bill Martin, ob er Lust habe, seine Kindergeschichte zu bebildern: "Brauner Bär, wen siehst du?". Carle sagt zu. Nicht ahnend, dass das der Beginn einer großen Bilderbuchkarriere ist.
Faszination der Collage
Von jeher fasziniert von der Collage-Technik eines Leo Lionni, Picasso oder Matisse, entwickelt Carle seinen ganz eigenen Collage-Stil. Über seine Arbeitsweise sagt er 1999 im Dlf:
"Ich bereite meine eigenen Papiere vor, ich kaufe mir Seidenpapiere, bestreiche die mit Acrylfarben mit viel Struktur und vielen Farben – grün, gelb, rot und so weiter, ohne an meine Illustrationen zu denken. Meistens im Sommer ein paar Wochen mach ich nur meine Papiere, sammel die an ... ich hab Hunderte, wahrscheinlich einige Tausend von diesen Papieren. Ich schneid sie aus, kleb sie auf: Collage, an und für sich nichts Neues, gibt’s schon lange, machen Matisse, Picasso, Leo Lionni, aber mein Stil, meine markanten Farben, die sind schon erkennbar als Eric-Carle-Grafik."
So entstehen im Laufe der letzten 50 Jahre etwa 70 Bilderbücher, 44 Titel sind noch lieferbar. Allein sein Erfolgstitel "Die kleine Raupe Nimmersatt", die als sein zweites eigenes Bilderbuch im Jahr 1969 publiziert wird und somit dieses Jahr ihren 50. Geburtstag feiert, ist in 64 Sprachen übersetzt und 50 Millionen mal verkauft. Ein außerordentlicher internationaler Erfolg. 33 verschiedene Raupe-Nimmersatt-Ausgaben sind alleine in Deutschland erhältlich – vom Bilderbuch über Kochbuch, vom Badewannenbuch zum Malbuch – und im Jubiläumsjahr 2019 auch gleich vier neue Ausgaben, darunter ein Pop-Up-Buch und das Raupe-Nimmersatt-Bildwörterbuch.
Liebe zur Natur
Wovon handeln Eric Carles Bilderbücher? Meist stellt der Künstler Tiere in den Mittelpunkt seiner Geschichten. Neben der Raupe sind auch Schlangen, Käfer, Schildkröten oder eine Grille die Protagonisten der farbprächtigen Bilderbücher. Seine Liebe zu den Tieren und zur Natur entwickelt er bereits als kleiner Junge auf den Spaziergängen mit dem Vater:
"Mein Vater hat mich immer an die Hand genommen und wir gingen dann auf die Wiesen und in den Wald. Da haben wir Steine hochgehoben, da war dann ein Wurm, ein Salamander oder ein Käfer drunter und den haben wir dann beobachtet. Und mein Vater erzählte immer, was die für einen Lebensweg haben. Und die Königin von den Ameisen, die hat Flügel und wenn sie landet, knipst sie die Flügel ab und gründet einen neuen Staat. Oder wir gingen am Fuchsbau vorbei und wenn es ein Spinnengewebe vor dem Bau gab, wussten wir, dass der Fuchs nicht mehr drin war. Mein Vater hat mir immer von kleinen Dingen erzählt, von Käfern, Ameisen und Schnecken und Fröschen. Es lag wohl auch daran, dass es keine Elefanten gab in Deutschland."
Formal sind die Bilderbücher wie Reihungen aufgebaut, mit einer sich wiederholenden Tätigkeit oder einem sich wiederholenden Satz. Die kleine Raupe, die sich von montags bis samstags durch allerlei Lebensmittel frisst, aber: "satt war sie noch immer nicht."
Die Zirpgeräusche der Grille
Oder die kleine Grille mit Namen Varus, der von allen möglichen Tieren freundlich gegrüßt wird, aber nicht antworten kann, wie er "mit seinen Flügeln auch hibbelte, wie schnell er damit auch ribbelte, es kam kein Ton heraus." Und, nicht zu vergessen, die kleine Maus, die einen Freund sucht.
Alle Bücher richten sich an Kinder zwischen Kindergartenalter und den ersten beiden Schuljahren. Die Geschichten sind gleichermaßen literarisch und spielerisch lehrreich. Eric Carle will allerdings weder belehren noch erziehen:
"In meinen Büchern sind didaktische Elemente, das stimmt, aber das ist wohl nicht die Hauptsache in den Büchern. Ich war vor einigen Jahren in Japan und die reden dauernd nur von den erzieherischen Werten, die sind wohl drin, aber die sind erstens getarnt und sollen nicht im Vordergrund stehen."
Oft schon hat er betont, dass er - wie viele Künstler, wie Maler oder Schriftsteller für sich selber schaffe - die Bücher in erster Linie für sich mache. Jedenfalls weiß Eric Carle genau, was Kinder in diesem Alter mögen: Es sind neben den strahlenden Farben seiner Landschaften, Blumen und Tiere die gestanzten Löcher im Raupenbuch, das tastbare Netz der kleinen Spinne und die Zirpgeräusche der Grille. Eric Carle nennt sich selber einen "Bilder-Dichter", und die Bücher sind für ihn "halb Spielzeug, halb Buch", und das vor der Erfindung von Apps und elektronischen Büchern.
Der Programmleiter seines ersten deutschen Verlags und sein Übersetzer, Volker Christen, bezeichnet die Bücher als "literarische Spielbilderbücher", in denen sich Sachinformation und Erzählung, Lustiges und Trauriges verbinden. Ein außergewöhnliches Zusammenspiel. Wie sonst soll man den immensen Erfolg der Raupe Nimmersatt erklären! Die Raupe Nimmersatt, so sagt Carle, ist darüber hinaus für Kinder ein Symbol der Hoffnung. Die Hoffnung, sich nach einem lustvollen, aber auch schmerzlichen Lernprozess zu entfalten. Und zudem ist das elternlose, neugierige und niedlich aussehende Raupentier mit grünem Körper, rotem Kopf und lilafarbenen Fühlern frei von Nationalität und Geschlecht und Religion und bietet somit jedem Kind eine Identifikationsfläche.
"It is time to give back"
1973 heiratet Eric Carle in zweiter Ehe Barbara Morrison, genannt Bobbie. Zusammen eröffnen sie im Jahr 2002 das "Eric Carle Museum of Picture Book Art" in Massachusetts, in dem nationale und internationale Kinderbuch-Künstler ihre Werke präsentieren und natürlich die Originale der Carle-Bücher zu finden sind.
In Amerika sagt man: "It is time to give back". Carle möchte sich für Anerkennung und Erfolg und Glück in seinem Leben bedanken und etwas an die Gesellschaft zurückgeben, so entstand die Idee zu diesem Museum. Letztes Jahr ist zu Ehren seiner 2015 verstorbenen Frau Bobbie neben dem Museum Bobbie’s Meadow entstanden: eine Blumenwiese mit Obstbäumen und sicherlich mit allerlei Tieren, die uns aus den Carle Bilderbüchern vertraut sind.
Wir gratulieren Eric Carle zu seinem 90. Geburtstag und ebenso der kleinen Raupe zum 50.. Sie hat große Freude in viele Familien gebracht - als Bilderbuch, Film, Hörbuch, Malbuch, Pop-Up-Buch - und somit Millionen Kindern auf der ganzen Welt das Lernen der Wochentage erleichtert. Und dass Eric Carle all dem gesunden Obst, das das Tierchen verschlungen hat, auch Lolli, Eis und Kuchen an die Seite stellte, das zeichnet ihn aus und macht den großen Künstler zu einem wahren Freund der Kinder.
Eric Carle: "Die kleine Raupe Nimmersatt", aus dem Englischen von Viktor Christen, Gerstenberg Verlag, Hildesheim, 36 Seiten, 10 Euro
Eric Carle: "Die kleine Grille singt ihr Lied", aus dem Amerikanischen von Viktor Christen, Gerstenberg Verlag, Hildesheim, 26 Seiten, 13,95 Euro
Eric Carle: "Die kleine Spinne spinnt und schweigt", aus dem Amerikanischen von Viktor Christen, Gerstenberg Verlag, Hildesheim, 26 Seiten, 10,95 Euro
Eric Carle: "Die kleine Maus sucht einen Freund", aus dem Amerikanischen von Viktor Christen, Gerstenberg Verlag, Hildesheim, 32 Seiten, 9,95 Euro
Viktor Christen (Hrsg.): "Ein Künstler für Kinder: Eric Carle", Jubiläumsschrift aus Anlass des 60. Geburtstags von Eric Carle und des 20. Geburtstags seiner "Kleinen Raupe Nimmersatt", Gerstenberg Verlag, Hildesheim, 46 Seiten