Proteste vor der türkischen Botschaft in Bischkek. Demonstranten fordern die Freilassung des türkisch-kirgisischen Schulleiters Orhan Inandi, der im Mai verschleppt wurde und im Botschaftsgebäude vermutet wird. Inandi lebt seit 25 Jahren in Kirgistan und arbeitete dort für eine Schule, die dem Netzwerk des türkischen Predigers Fethullah Gülen zugerechnet wird - inzwischen ein Erzfeind des türkischen Präsidenten Erdogan.
Inandis Ehefrau alarmierte die Öffentlichkeit: Von Augenzeugen habe sie gehört, dass ihr Mann in der türkischen Botschaft festgehalten werde, sagt Inandi. Dort werde er gefoltert, man wolle ihn zwingen, seine kirgisische Staatsbürgerschaft abzulegen, bevor er widerrechtlich in die Türkei verschleppt werden solle – so wie das schon vielen anderen Menschen in aller Welt widerfahren sei.
UN-Sonderberichterstatter: Mehr als 100 Fälle
Beweise dafür, dass Inandi in der Botschaft festgehalten wird, gibt es nicht – doch es wäre nicht das erste Mal, dass ein angeblicher Gegner des türkischen Regimes in einem Drittland ergriffen wird, um auf ungesetzlichem Wege in die Türkei geschafft zu werden: Mehr als hundert solcher Fälle haben die Vereinten Nationen bisher gezählt. Eine "systematische Praxis staatlich betriebener extraterritorialer Entführungen und gewaltsamer Rückführungen türkischer Staatsbürger aus vielen Ländern" beklagten die zuständigen UN-Sonderberichterstatter in einem Brief an die türkische Regierung im vergangenen Jahr.
Zunächst, so die UN-Vertreter, werden die Opfer im Gastland ausgespäht und dann entführt: "Die Opfer bleiben wochenlang verschwunden oder in Isolationshaft, bevor sie deportiert werden. In dieser Zeit sind sie oft Nötigung, Folter und Erniedrigungen ausgesetzt, um ihre Zustimmung zur Verbringung in die Türkei zu erzwingen oder ihnen Geständnisse abzupressen, mit denen sie in der Türkei vor Gericht gestellt werden. Dabei wird ihnen der Zugang zu medizinischer Versorgung und zu anwaltlichem Beistand verweigert, und ihre Familien werden nicht informiert. Die Opfer berichten von anhaltender Folter durch Geheimdienstagenten, vorwiegend durch Schlafentzug, Prügel, Waterboarding und Elektroschocks."
Ankara bestreitet die Entführungen nicht, im Gegenteil: Die Aktionen werden in der Türkei öffentlich verkündet und von den Regierungsmedien gefeiert; die Opfer werden in Handschellen präsentiert, bevor sie im Kerker verschwinden. Das sollte der internationalen Staatengemeinschaft zu denken geben, sagt Nate Schenkkan von der Menschenrechtsorganisation Freedom House, die transnationale Repression in aller Welt beobachtet: "Wir haben es bei der Türkei mit einem Land zu tun, das sich offen mit seiner Entführungskampagne brüstet – das ist schon außerordentlich. China mag eine größere Reichweite bei seiner Aggression gegen Dissidenten im Ausland haben, und Russland begeht mehr Mordanschläge, aber was Verschleppungen angeht, ist die Türkei weltweit führend."
Verantwortung der internationalen Staatengemeinschaft
Daran sei die internationale Staatengemeinschaft nicht unschuldig, sagte Schenkkan dem türkischen Exilsender Ahval, denn sie lasse die Türkei gewähren und fördere dadurch eine Kultur der Straflosigkeit: "Die Türken sehen ja, dass ihre Aktionen keine Konsequenzen haben. Diese Entführungen sind gut dokumentiert, und dennoch spielen sie keine Rolle in den bilateralen Beziehungen der Türkei, selbst zu ihren wichtigsten Verbündeten wie den USA, Frankreich oder Deutschland – das Thema kommt nicht auf den Tisch. Das gibt Ankara das Gefühl, ja klar, wir können das einfach tun."
Standen zunächst vor allem Anhänger der Gülen-Bewegung im Fadenkreuz der türkischen Agenten, so werden inzwischen auch kurdische und linke Aktivisten im Ausland ergriffen und in die Türkei verschleppt. Das sei zu erwarten gewesen, sagt Schenkkan: "Als Menschenrechtsbeobachter sehen wir das dauernd: Wenn es keine Konsequenzen gibt für einen Staat, der die Rechtsstaatlichkeit missachtet, dann wird er diese Taktik nicht nur fortsetzen, sondern auf immer mehr Zielgruppen ausweiten – und genau das tut die Türkei."