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Der lange Arm des Todes

Man hat mich vorgewarnt: Jacques Roubaud sei ein Schlitzohr, ein Mathematiker, der schreibe, bei dem es hinter dem Offensichtlichen immer etwas Unsichtbares gebe, ein Zahlenspiel, eine geheime Kalkulation. Warum also, frage ich mich, gibt er mir ausgerechnet in einem der endlosen Gänge der neuen Pariser Nationalbibliothek ein Interview? Will er einen Zusammenhang zu seinem Roman mit dem ungewöhnlichen Titel "Fünfundfünfzigtausendfünfhundertfünfundfünfzig Bälle" herstellen? Schließlich lebt sein Protagonist Laurent in einem Haus, das ähnliche architektonische Spiegelgleichheiten wie die Nationalbibliothek aufweist. Mehr noch: die Bibliothek hat - wie der alte Bahnhof von Lyon, wo Laurent als Kind seinen Onkel verpasst - zwei entgegengesetzte Ausgänge. Ja, selbst die Stimmung an diesen Schleusen für Akademiker und Buchbesessene ließe sich als fernes Echo an jene Zeit deuten, als Laurents Leben aus den Fugen geriet: an die Zeit der deutschen Besetzung Frankreichs im Zweiten Weltkrieg. Wie die deutschen Besatzer damals haben jetzt die Franzosen Angst vor Anschlägen, es wird scharf kontrolliert, der Metalldetektor piept, als er mein Aufnahmegerät ortet.

Christoph Vormweg |
    In jedem Fall: Jacques Roubaud gehört seit fast 40 Jahren zur Pariser Schriftstellergruppe Oulipo, die von seinem literarischen Ziehvater Raymond Queneau mitbegründet wurde. "Der Oulipo-Autor", so das Credo, "ist eine Ratte, die sich ihr eigenes Labyrinth baut, aus dem sie wieder herausfinden muß." Beim Konstruieren seiner Texte legt er sich also Zwänge auf. So auch Jacques Roubaud beim Schreiben seines Romans "Fünfundfünfzigtausendfünfhundertfünfundfünfzig Bälle":

    In diesem Fall ist der Zwang ein Geheimnis. Aber natürlich liegt er im Numerischen. Er ist an die Zahlen gebunden, die regelmäßig im Text auftauchen und in der Zahl gipfeln, die der deutschen Übersetzung ihren Titel gegeben hat. Die Zahlen bestimmen also mehr oder weniger den Aufbau der Kapitel: in welche Richtung die Handlung verläuft etc. Aber ich kannte trotz allem das Ende, und man kann den Roman auch lesen, ohne diesen Zwang zu kennen.

    "Fünfundfünfzigtausendfünfhundertfünfundfünfzig Bälle" ist der Roman einer Jugendfreundschaft mit fatalen Konsequenzen. Der Anstoß, ihn zu schreiben, liegt in Jacques Roubauds Biografie:

    Ich hatte auf dem Gymnasium einen Mitschüler, der der Sohn der Geliebten des Gestapochefs von Carcassonne war. [...] Mein Vater, der in der Résistance aktiv war, machte sich große Sorgen wegen unserer Freundschaft. Letztendlich ist aber nichts passiert. Mein Freund ist 1944 weggezogen, und ich habe ihn nie wiedergesehen. Doch ich habe mich gefragt, was für Konsequenzen es hätten haben können, wenn zwei Jungen, die gut befreundet sind, mitbekommen, welche Haltung ihre Eltern einnehmen. In meinem Gymnasium gab es Kinder, deren Eltern sich aus allem heraus hielten, andere engagierten sich im Widerstand, wieder andere kollaborierten. Hier lag der Ursprung möglicher Dramen.

    Für den 10jährigen Laurent wird es ein Drama ohne Ende. Da er sich in seiner Freizeit auf dem Golfplatz als Caddie ein Taschengeld verdient, muss er auch die deutschen Besatzer beim Spiel begleiten. 1943 hört er zufällig, dass die Gestapo Wind von einem Geheimtreffen der Résistance-Gruppe bekommen hat, zu der auch sein Vater gehört. Da Laurent den Golfplatz nicht ohne Aufsehen verlassen kann, bittet er Norbert, seinen besten Freund, ihn zu warnen. Für den Botendienst, sagt er, habe er einen Wunsch frei. Nach Kriegsende jedoch fordert Norbert von ihm fünfundfünfzigtausendfünfhundertfünfundfünfzig gespielte Golfbälle.

    Ich habe mir das - auch wenn ich dem Leser da in keiner Weise vorgreife - so erklärt: Dieser andere Junge liebt seinen Vater und will ihn rächen, für das, was ihm im Gefangenenlager widerfahren ist. Denn sein Vater ist, weil er mit den Deutschen kollaboriert hat, eingesperrt worden. Es sind also beides Jungen, die ihren Vater lieben.

    Laurents Vater stirbt im Konzentrationslager Buchenwald an Entkräftung. Deshalb ist es für ihn undenkbar, gegen dessen Lebensdevise zu verstoßen. Und die lautete: "Ein Gentleman hält immer sein Wort." Also macht sich Laurent an die Einlösung seines Versprechens, fünfundfünfzigtausendfünfhundertfünfundfünfzig Bälle für Norbert zu sammeln. Die Obsession wird, zumal nach dem Tod seiner Mutter, zum einzigen Lebensinhalt. Sie stützt und zerstört ihn zugleich. Ein verbissener Kampf um die Treue zum Vater, der sich bis ins Jahr 1996 hinzieht und dessen Ende an dieser Stelle nicht verraten sei.

    Nur so viel: Jacques Roubauds hintergründige Zahlenspiele behindern in keiner Weise seinen sinnlich-leichten Erzählstil. Vielmehr löst er das Drama der deutschen Besatzungsherrschaft in Frankreich in subtil bewegende Szenarien auf, die den langen, seelenzerstörenden Arm des Dritten Reichs versinnbildlichen.
    Jacques Roubaud
    Fünfundfünfzigtausendfünfhundertfünfundfünfzig Bälle
    Aus dem Französischen von Elisabeth Edl
    Hanser, 144 S., EUR 14,90