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Der lange Schatten der Stasi wirkt bis in die Gegenwart

Der Wirtschaftswissenschaftler Marcel Tyrell von der Zeppelin-Universität Friedrichshafen hat in einer Studie nachgewiesen, dass sich überall dort, wo wegen besonders intensiver Stasi-Aktivitäten das Misstrauen besonders stark ausgeprägt war, die Menschen davor scheuen, Geschäfte zu machen.

Von Thomas Wagner |
    "Ich habe gerade einenHinweis bekommen aus einer Quelle: Morgen gibt's auf dem Alex eine Demo. Und da werden wir versuchen, die umzulenken hierher."

    "Und wer diese Demo organisieren will, ist das bekannt?"

    "Das wissen wir nicht."

    Berlin-Alexanderplatz, 8. Dezember 1989: Die DDR liegt nach dem Fall der Mauer in den letzten Zügen. Zwei Mitarbeiter der gefürchteten Staatssicherheit im Gespräch - es geht um die Ankündigung einer Großdemonstration am kommenden Abend. Genau 20 Jahre später beschäftigt sich ein Wissenschaftler vom Bodensee mit diesen und anderen Dokumenten aus der "Bundesbehörde für die Aufarbeitung der Stasi-Unterlagen".

    "Die haben sich angeschaut: Wie stark waren eigentlich inoffizielle Stasi-Mitarbeiter eben in den verschiedenen Kreisen der ehemaligen DDR, also in den ehemaligen DDR-Regionen, präsentiert? Und was derjenige, der das gemacht hat, herausgefunden hat, ist, dass es da eine ganz unterschiedliche Dichte mit ehemaligen insbesondere informellen Stasi-Mitarbeitern gab. Es gab sehr große Unterschiede: Es gab auf 1000 Einwohner eines bestimmten Kreises teilweise nur zwei Stasi-Mitarbeiter, die man zählen konnte. Und in anderen Kreisen waren es bis zu 16. Und das war für uns ein Indikator: Je höher dieser Anteil der Stasi-Mitarbeiter ist, desto höher fällt diese Unterminierung des Sozialkapitals aus."

    Professor Marcell Tyrell von der Zeppelin-University Friedrichshafen wurde, als er von der unterschiedlichen Verteilung der Stasi-Spitzel erfuhr, hellhörig. Denn das passte genau zum Forschungsschwerpunkt des Wirtschaftswissenschaftlers: Welche Faktoren geben den Ausschlag dafür, dass das, was er "Sozialkapital" oder "bürgerliches Engagement" nennt, mal stärker, mal weniger stark ausgeprägt ist?

    "Man kann Indikatoren suchen, um dieses bürgerliche Engagement zu messen: Das kann die Bereitschaft zur Organspende sein, das kann die Zahl der Blutspender sein, das kann die Mitgliedschaft im Verein sein. Aber das kann auch bestimmtes Engagement sein, wie beispielsweise an Wahlen teilzunehmen, also die Wahlbeteiligung. Der gemeinsame Nenner all dieser Aktivitäten ist, dass man es einerseits nicht machen muss, dass man selber auch nicht direkt etwas davon hat, was aber insgesamt im bürgerlichen Engagement und zu einer Weiterentwicklung einer Bürgergesellschaft hilft."

    Solche Faktoren wie Wahlbeteiligung und Vereinsmitgliedschaft lassen sich empirisch erheben - und genau dies haben Marcel Tyrell und sein Forscherteam auch getan: Sie haben eine groß angelegte Untersuchung über die Verteilung des "Sozialkapitals" in den fünf neuen Bundesländer gestartet - und behielten dabei stets die Erhebung über die unterschiedliche Verteilung der Spitzeldichte in der ehemaligen DDR im Hinterkopf. Als sie ihre eigene Erhebung zum Sozialkapital mit der Verteilung der Stasi-Spitzel-Dichte verglichen, erlebten sie eine Überraschung:

    "Was wir eben grundsätzlich festgestellt haben und das eben auch empirisch valide aufzeigen können, ist, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen eben der Ausprägung der Dichte der Stasi-Mitarbeiter, also: Je höher damals die Stasi-Dichte in bestimmten Kreisen, desto geringer ist heute auch noch in der Bevölkerung, die dort wohnt, das Vertrauenskapital ausgeprägt - gemessen an diesen Indikatoren."

    "Im Bildhintergrund PKW vom Typ Lada Kombi. Farbe beige. Polizeiliches Kennzeichen Ida Marta Ypsilon sechs, Trennung 36, mit Anhänger, verteilt Transparente, Plakate und Ähnliches."

    Ein Stasi-Mitarbeiter schildert seine verdeckten Beobachtungen; die Firma "Guck und Horch" war allgegenwärtig - pures Gift seinerzeit für bürgerschaftliches Engagement in der DDR-Gesellschaft.

    "In Kreisen, in der es sehr viele inoffizielle Stasi-Mitarbeiter gab, wird sich so etwas ausbilden wie ein gewisses Misstrauenskapital. Das scheint eben, dass die Menschen in diesen Kreisen schon irgendwie spüren: Hier wird es eine gewisse hohe Dichte geben. Wozu führt das? Das führt dazu, dass sie sich immer stärker auf ihren engen Kreis an Freunden und Bekannten, denen sie wirklich vertrauen können, zurückziehen. Dies führt aber in einem zweiten Schritt dazu, dass eben wirtschaftliche Aktivität, die oft dadurch entfaltet wird, dass man handelt, dass man bestimmte Geschäfte mit Personen abschließt, die man eben nicht genau kennt, dass dies damit eben unterminiert wird."

    Und genau dies ist die Kernaussage der Studie: Dort, wo wegen besonders intensiver Stasi-Aktivitäten das Misstrauen besonders stark ausgeprägt war, scheuen sich die Menschen davor, Geschäfte zu machen - bis zum heutigen Tag, so der Ökonom Marcell Tyrell von der Zeppelin-University Friedrichshafen :

    "Wenn Vertrauen mal unterminiert wird, wenn Vertrauen mal abgebaut wird, durch einen Unterdrückungsapparat untergraben wird, dann dauert das sehr lang, bis das wieder aufgebaut wird. Denn das sitzt sehr tief und wird auch oft von Generation zu Generation weitergegeben. Und das führt eben nicht dazu, dass man einfach den Schalter umstellen kann und direkt daraus einen Vertrauensaufbau erwirkt. Vertrauensaufbau dauert immer sehr lange. Das wissen wir aus der ökonomischen Theorie. Vertrauensabbau geht sehr schnell."

    "So macht uns keiner unseren Sozialismus kaputt. Wir bewachen ihn gut, wir bewachen ihn gut. Und halten ihn geheim, bei Tag und bei Nacht. Sonst hätte uns der Westen ihn längst nachgemacht: Irgendeiner ist immer dabei, von der ganz leisen Polizei."

    Der ehemalige DDR-Liedermacher Kurt Demmler mit seinem bissigen Song über die ehemalige Stasi: Die "Nachwehen" des Bespitzelungsapparates sind, wie die Studie aus Friedrichshafen zeigt, bis heute spürbar. Mehr noch: Sie stellen bis heute eine Hürde auf dem Weg zur wirtschaftlichen Prosperität dar. Die Langfrist-Folgen des Bespitzelungsapparates seien allerdings, relativiert Marcell Tyrell, nur einer von mehreren Faktoren, die sich dem Entstehen der einst verheißenen "blühenden Landschaften" in den Weg stellen - ein gewichtiger Faktor allerdings, den Politik und Gesellschaft stärker als bisher berücksichtigen sollten:
    "Ich glaube, was man eben stärker fördern muss, ist bürgerliches Engagement, ist Förderung von freiwilligen Mitgliedschaften in Vereinen, dass man da eben Möglichkeiten schafft, dass die Menschen es schaffen, die vielleicht noch ein sehr wohlverstandenes Misstrauen momentan haben, dass die es schaffen, ihr Misstrauen abzubauen."

    Wenn Marcell Tyrell ab und an die Ergebnisse seiner Studie in den ostdeutschen Bundesländern vorstellt, bläst im häufig Gegenwind ins Gesicht. Schon wieder mal ein "Besser-Wessi", der in der Vergangenheit herumwühlt, heißt es dann.

    "Da tritt dann häufig das Vorurteil auf: Naja, jetzt tritt da ein neunmalkluger West-Professor auf und möchte uns da zeigen, was wir alles falsch gemacht haben und warum alles soweit falsch läuft. Das war überhaupt nicht meine Intention. Sondern das war eine Studie, die pro-aktiv und viel stärker so wirken sollte, dass wir in Zukunft noch stärker zusammen wachsen."

    Kurt-Demmler-Song:

    "Irgendeiner ist immer dabei, von der ganz leisen Polizei. Irgendeiner macht immer 'nen Strich, und wenn's Du noch bist, bin's - ich."