Die islamistischen Terroranschläge auf das World Trade Center in New York und die weltweite Coronavirus-Pandemie können schon jetzt als die zwei großen welthistorischen Einschnitte im 21. Jahrhundert gelten. Unheimlicherweise tauchen in ihrem Windschatten viele Ähnlichkeiten auf: Man spricht vom Krieg, erst jüngst nannte der New Yorker Bürgermeister Beatmungsgeräte Waffen. Wie einst der Schläfer ist auch das Virus ein unsichtbarer Feind; wir teilen uns unwillkürlich ein in gefährliche und ungefährliche Zeitgenossen; mancherorts kommt es zu Pauschalverdächtigungen gegen ganze Bevölkerungsgruppen.
Wieder einmal gibt es Einschränkungen im öffentlichen Leben, Nationalismus, Grenzschließungen, Turbulenzen auf den Märkten - und die digitale Überwachung ist weit fortgeschritten. Für Stefan Weidner zeigt all dies, dass wir die Pandemie so bekämpfen wollen wie einst den islamistischen Terrorismus. Das war allerdings ein Krieg, der gründlich schief gegangen ist.
Eine viel zu drastische Diagnose, die uns zu Fatalismus und Apathie verurteilt? Keineswegs, erklärt Stefan Weidner im Gespräch. Vielmehr lassen sich so klare Leitlinien für eine alternative globale Bewältigungsstrategie aufzeigen.
Stefan Weidner ist Autor und Islamwissenschaftler. Zuletzt veröffentlichte er „Jenseits des Westens. Für einen neuen Kosmopolitismus” (2018) und „1001 Buch. Die Literaturen des Orients” (2019). Im Deutschlandfunk wurde 2019 Weidners Radioessay „Unsere Freiheit, von außen gesehen” gesendet.
Pascal Fischer: Ein Thema, das uns alle beschäftigt hat in diesen Monaten: die Corona-Pandemie. Wir wollen sie heute einmal neben ein anderes welthistorisches Ereignis stellen, und zwar eines aus diesem Jahrhundert, das ähnliche Folgen hatte: die Terrorattacken vom 11. September 2001. Denn damals wie heute kam es dann zu Abschottung, Einschränkungen im öffentlichen Leben, Überwachung, Pauschalverdächtigungen, Kriegsrhetorik, ja, auch zu Verschwörungstheorien. Mein Gast Stefan Weidner meint: Das ist kein Zufall. Gerade wegen 9/11 hätten sich damals in unseren Gesellschaften Muster herausgebildet, die bestimmen, wie wir jetzt auf die Pandemie reagieren.
Stefan Weidner ist Islamwissenschaftler und Publizist, zuletzt veröffentlichte er unter anderem 2018 das Buch "Jenseits des Westens: Für einen neuen Kosmopolitismus". Und auf diesem Programmplatz hier haben wir 2019 einen Essay von ihm gesendet, der den Titel trug: "Unsere Freiheit von außen gesehen". Zurzeit arbeitet Stefan Weidner an einem neuen Buch, in dem ein Kapitel eben jene These zu 9/11 und dem Coronavirus ausarbeitet, und darüber möchten wir jetzt sprechen. Herzlich Willkommen, Stefan Weidner!
Stefan Weidner: Guten Tag!
Fischer: Herr Weidner, US-Präsident Trump hat ja Anfang Mai die Corona-Epidemie in seinem Land sehr drastisch in Ihrem Sinne beschrieben: Sie sei schlimmer als die Terrorattacken vom 11. September 2001. Hat also President Trump Ihnen da die Augen geöffnet?
Weidner: Nein, das war nicht nötig, diese Ähnlichkeiten, diese Analogien zwischen 9/11 und der Coronakrise waren eigentlich von Anfang an offenbar. Ich saß in Istanbul, habe an meinem neuen Buch über die Nachwirkungen von 9/11 geschrieben und wollte eigentlich die These vertreten, dass vieles, was uns heute beschäftigt – von der Flüchtlingskrise über die Instabilität im Nahen Osten bis hin zu den neuen rechten populistischen Bewegungen, ja, sogar bis zum weißen Terror, der schließlich in Analogie zum islamischen Terror entstanden ist –, das wir alles das nicht erklären können ohne 9/11. Dann gab es die Coronakrise und ich dachte: Ich habe mein Thema verloren – jetzt beginnt tatsächlich eine neue Epoche. Es beginnt auch eine neue Epoche, aber sobald man darüber nachdenkt, entdeckt man doch sehr, sehr viele Ähnlichkeiten. Ähnlichkeiten, die nicht nur damit zu tun haben, dass es eben zwei einschneidende Ereignisse sind, sondern auch Ähnlichkeiten, die sehr viel mit unserer Reaktion zu tun haben. Also zum Beispiel praktisch das Gefühl, dass wir in einem Ausnahmezustand leben, oder nicht nur das Gefühl, sondern die Regierungen haben ja tatsächlich auch diesen Ausnahmezustand ausgerufen; dann ein fundamentales Gefühl der Erschütterung und der Unsicherheit, wir brauchen eine radikale politische Umorientierung, das ist jedenfalls die Stimmung gegenwärtig.
Und genau das ist natürlich auch nach 9/11 passiert. Es werden große Gelder in die Hand genommen und auf ganz andere Felder verschoben, als man bisher dachte, dass man dafür das Geld ausgeben wird! Der Staat bekommt plötzlich eine ganz manifeste Rolle, es gibt massive Eingriffe des Staates in unsere Freiheiten. Das ist jetzt in der Coronakrise teilweise noch deutlicher als bei 9/11, aber auch bei 9/11 war das unübersehbar und wurde ja auch viel kritisiert. Schließlich hängt damit natürlich auch das Misstrauen und Unglauben gegenüber dem zusammen, was geschieht, ein Misstrauen gegenüber dem Staat oder gegenüber den offiziellen Erzählungen von dem, was geschieht. Und das wiederum gebiert Verschwörungstheorien. Und ich glaube, dass das Ereignis, das eigentlich die Geburtsstunde dieser modernen oder nennen wir sie postmodernen und populistischen Verschwörungstheorien ist, natürlich 9/11 ist. Das ist die These, dass die Amerikaner diese Anschläge selber inszeniert hätten oder eine Gruppe von Leuten in der Regierung. Und genauso geht es uns jetzt, wenn viele Leute doch der Meinung sind, dass das Ganze halb so wild sei, dass der Staat das aufbauscht, dass vielleicht Bill Gates oder andere dunkle Kräfte dahinterstecken.
Dann, sehr interessant eigentlich, … Unterbrechen Sie mich, wenn ich hier zu weit gehe…
Fischer: Ja, ich muss Sie hier noch mal unterbrechen. Gehen wir noch mal einen Schritt zurück. An welchen Bildern machen Sie denn fest, dass sich hier ein frappierender Vergleich zeigt, einfach, wenn wir hier an den Alltag denken, an das Erleben? Denn darum geht es ja auch, um das Alltagserleben.
Weidner: Also beide Krisen haben ja eine fundamentale Ikonografie, eine Bilderwelt hervorgebracht. Ebenso unheimlich wie die zusammenstürzenden Türme des World Trade Centers sind ja die Bilder von den großen Metropolen, die allesamt leergefegt sind. New York, Madrid, keine Ahnung, welche Städte, Paris sehen wir plötzlich ohne Menschen. Das ist im Grunde schon eine Albtraumvision, eine postapokalyptische Vision – und das ist die große Gemeinsamkeit. Wobei man natürlich sagen muss, das Interessante ist: Das Virus gebiert praktisch einen medialen Entzug. Also: Wir können das Virus selber nicht sehen, so wie wir die Anschläge sehen konnten, sondern wir können nur seine Auswirkungen sehen und wir sehen alles nur ex negativo. Das ist der entscheidende Unterschied, der auch sehr spannend ist.
Das Gefühl einer ständigen Alarmbereitschaft
Fischer: Gehen wir es doch mal alle diese Muster en detail durch, die uns von 9/11 vererbt wurden. Shutdown und Lockdown zur Sicherheit der Bevölkerung, das klingt ja für mich erst mal zeitlos vernünftig. Warum ist es in Ihren Augen denn tendenziell nur ein fatales Muster, das uns speziell vom 11. September vererbt worden ist?
Weidner: Also der Shutdown selber ist natürlich erstmal eine, würde ich sagen, gerechtfertigte und natürliche, spontane Reaktion, die Kontrolle wiederzugewinnen über das Virus. Und dasselbe würden wir natürlich tun und taten wir bei Ausschreitungen, bei Terrorattacken und so weiter. Das ist einigermaßen nachzuvollziehen, daran würde ich auch nichts kritisieren. Die Gefahr besteht darin – und dann würden wir tatsächlich das Muster von 9/11 wiederholen –, dass wir diese Maßnahmen auf Dauer stellen oder zumindest Teile dieser Maßnahmen. Also wenn wir jetzt sagen, wir müssen diese soziale Distanz über Monate und Jahre hinweg aufrechterhalten, dann würde ich sagen: Das ist eine falsche Reaktion. Da muss es andere Wege geben. Wir dürfen diese Maßnahmen nicht verstetigen. Und die große Gefahr und die große Analogie auch von 9/11 und dem Virus ist ja, dass diese Gefahr nicht wie eine Naturkatastrophe ist. Stellen Sie sich ein Erdbeben vor, da kann es zwar Nachbeben geben, es kann auch irgendwann mal wieder ein weiteres Beben geben. Aber ist es einmal geschehen, ist es im Prinzip vorbei. Oder bei einer Flutkatastrophe, etwas Ähnlichem. Das ist hier nicht der Fall. Das ist auch beim Terror nicht der Fall gewesen. Die Terrorgefahr bestand ständig.
Und daraus ergab sich sozusagen praktisch die paranoide Reaktion: Wir müssen uns jetzt ständig in einer Art Alarmbereitschaft halten.
Fischer: Aber wenn ich Sie da unterbrechen darf, die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot hat neulich im Deutschlandfunk auf Ähnliches aufmerksam gemacht. Sie hat gesagt: Wir hatten jetzt jahrzehntelang kein weiteres 9/11 mehr - trotzdem gehen wir am Flughafen immer noch durch extreme Sicherheitschecks.
Weidner: Genau.
Fischer: Das ist dieser permanente Ausnahmezustand. Aber nun gut, kann man sagen, der ist doch nur da, damit nichts passiert. Also ist es nicht genau falsch herum argumentiert?
Weidner: Es kommt drauf an, was Sie meinen. Ich denke, die Sicherheitskontrollen an Flughäfen sind unvermeidlich. Wobei es natürlich einige kleine Details gibt, die ein wenig lächerlich sind, wie die Tatsache, dass man kein Wasser mit an Bord nehmen kann. Ich denke an tiefergreifende Dinge wie zum Beispiel die Aussetzung von Rechtsstaatlichkeit. Denken Sie an etwas wie Guantanamo, also die Möglichkeit, Häftlinge irgendwo auf der Welt aufzugreifen, sie in einem Territorium zu halten, was praktisch keiner Nation zugehörig ist, obwohl es natürlich von einer Nation verwaltet wird wie etwa von den USA. Und man kann die Leute auf unbegrenzte Zeit und ohne Gerichtsverfahren dort festhalten. Es ist den USA bis vor Kurzem nicht gelungen, Guantanamo aufzugeben. Auch Obama, der das versucht hatte, ist es nicht ohne Weiteres gelungen. Das heißt, man hat einen Zustand – der im ersten Moment vielleicht verständlich war, dass man ein Lager finden musste für diese Menschen, ohne dass man gleich gezwungen war, sie in die USA zu bringen und dort nach rechtsstaatlichen Kriterien zu verurteilen –, der auf Dauer gestellt wurde. Und was das jeweils heißt, was das für die Coronakrise heißt, ist noch gar nicht klar abzusehen. Aber es könnte durchaus tatsächlich darin bestehen, dass wir etwa genau überwacht werden mit so einer Art Tracking-App. Das ist, glaube ich, die große Gefahr, der wir uns entgegensehen müssen.
Weidner: Leute neigen dazu, das Problem von sich wegzuschieben
Fischer: Aber kann man das denn jetzt vergleichen, wenn wir noch mal auf die Einschränkungen der Bürgerrechte zurückkommen? Das war natürlich eklatant, was die USA einigen Menschen da angetan haben, aber bislang hat man doch in der Coronakrise eher das Gefühl, das ist, ja, rechte Hetze, wenn man ganze Bevölkerungsgruppen pauschal verdächtigt, das Virus einzuschleppen, deshalb die Grenzen zumacht und ein bisschen das vermengt mit einer Asylpolitik und einer Flüchtlingsfrage.
Weidner: Ja, das sind eigentlich für mich zwei verschiedene Fragen. Also das eine ist, Sie haben natürlich recht: Man neigt dazu, diese Krise auf eine bestimmte Bevölkerungsgruppe zu projizieren. Nach 9/11 waren das natürlich die Muslime. Bei der Viruskrise ist das weniger leicht möglich, weil das Virus ja wirklich jeden befallen kann, und jeder von uns kann Träger des Virus sein, ohne dass er es weiß. Also wenn wir diese Analogie übertragen auf 9/11, dann kann jeder von uns ein Schläfer, ein potenzieller Terrorist sein. Und dieser Verdacht, der sozusagen auf einem jedem von uns lastet, und der auch auf uns lasten kann, während wir uns selber völlig zu Recht unschuldig fühlen, weil wir ja vielleicht gar nicht wissen, dass wir das Virus in uns tragen, dieser Verdacht ist natürlich eine große Kränkung. Und ich glaube, viele Leute neigen dann dazu, dieses Problem zu externalisieren, also es wegzuschieben auf andere. Das mögen dann Flüchtlinge sein, das kann aber auch sein, dass man einfach sagt: Das Problem existiert eigentlich gar nicht, es wurde aufgebauscht, das Coronavirus ist ja nur eine Grippe. Und ja, damit müssen wir leben lernen. Das muss man unterscheiden von der Frage: Welche Maßnahmen werden jetzt getroffen, welche kulturellen Praktiken spielen sich ein, die wir vielleicht in ein, zwei Jahren spätestens gar nicht mehr brauchen, die aber trotzdem fortgesetzt werden und die wir trotzdem verinnerlicht haben? Da sehe ich eher die Gefahr.
Fischer: Wie sieht es bei der Digitalisierung aus? Die ist viel weiter fortgeschritten als 2001. Fast jeder hat ein Smartphone. Das Breitbandinternet gibt es flächendeckend. Apps tracken uns auf vielfältige Weise. Wenn ich Sie da richtig verstehe, würden Sie sagen: Wir haben aus den Gefährdungen damals gar nicht so recht gelernt – jetzt stehen viel umfassendere Überwachungsmöglichkeiten bereit und die werden eingesetzt und wir wehren uns nicht genug dagegen?
Weidner: Also einerseits profitieren wir natürlich von den technischen Entwicklungen, die wir in den letzten Jahren gehabt haben, und auch von den Überwachungsmöglichkeiten, die damit einhergehen. Denn es ist uns möglich, mit technischer Hilfe das Virus womöglich ein Stück weit zu kontrollieren und damit auch zu besiegen, zum Beispiel durch die Tracking‑Apps, die es jetzt gibt. Allerdings besteht auch da natürlich eine große Gefahr. Schauen Sie sich Folgendes an: In Israel ist es zum Beispiel so gewesen, dass man mithilfe der Daten aus der Terrorüberwachung nun versucht, die Bewegung der Virusträger nachzuvollziehen und damit das Virus einzudämmen. Da könnte man erst mal sagen, ja, das ist doch eine gute Verwendung dieser Überwachungsmaßnahmen. Das stimmt vordergründig. Aber nun könnte Folgendes sein: Stellen Sie sich vor, wir haben einen Terroranschlag: Nun wird dasselbe genutzt, um die Terroristen zu finden. Auch das, könnten wir sagen, ist gut. Aber jetzt stellen Sie sich vor, Sie machen das in einem Land wie der Türkei, wo jeder Oppositionelle fast schon pauschal unter dem Terrorverdacht festgenommen wird. Mit anderen Worten: Da sind die Gefahren doch sehr groß.
Coronavirus zeigt strukturelle Probleme unserer Welt auf
Fischer: Wo wir das ansprechen, den Krieg gegen das Virus – Sie kritisieren ja an den Kriegen, die insbesondere die USA ab 2001 anstießen: Man hielt damals in den USA nach 9/11 Kriege für gewinnbar, die gar nicht zu gewinnen waren. Zumindest gab es keine schnellen Siege, wie uns die Geschichte gelehrt hat.
Ein bisschen deutet sich das ja auch bei Covid-19 an. Man glaubt, man macht ein bisschen Lockdown, das Virus ist weg, dabei kann es ja immer wieder aufflammende Herde geben, es kann sich global irgendwo verbreiten, selbst wenn wir hier in Deutschland artig sind und uns brav an alle Abstandsregeln halten. Da habe ich mich gefragt: Wollen Sie uns damit doch hoffnungslos stimmen?
Weidner: Also das will ich natürlich überhaupt nicht! Sondern ich möchte nur vor der Hoffnung auf allzu schnelle Lösungen warnen und auch vor einer Politik, die von oben herab große Versprechen macht, wie es Trump gemacht hat, wie es Boris Johnson gemacht hat, wie es in der Türkei passiert. Das passiert bei uns in Deutschland zum Glück nicht so leicht, aber das ist natürlich sehr gefährlich, diese Hoffnung zu wecken. Es kommt hinzu, dass wir, glaube ich, einen schweren Fehler machen, wenn wir das Virus wirklich nur als dieses eine Virus bezeichnen. Nicht nur, dass andere Viren kommen können - es ist ja mehr ein Medium, das sozusagen gewisse strukturelle Probleme unserer Weltordnung aufzeigt. Das Virus hätte sich ja gar nicht so schnell verbreiten können ohne eine vollkommen entfesselte Globalisierung. Das Virus hätte auch wirtschaftlich nicht diese Schäden anrichten können, wenn wir global nicht auf diese Weise vernetzt gewesen wären. Oder mit anderen Worten: Wir sollten nicht nur nach technischen oder medizinischen Lösungen streben! Das ist sozusagen auch wieder so, dass man glaubt, man kann alle Probleme mit neuer Technik oder mit neuer Medizin lösen. So ist es nicht. Sondern ich glaube, es gibt ein strukturelles Problem, und das müssen wir lösen. Und das hängt tatsächlich zusammen mit der Globalisierung. Stellen Sie sich Folgendes vor, und das hängt auch wieder mit 9/11 zusammen: Hätte es 9/11 nicht gegeben, bin ich mir sicher, hätte man viel früher diese Klimadiskussion gehabt – man hatte sie ja in den 90er-Jahren schon –, die wir jetzt in den letzten paar Jahren hatten. Stellen Sie sich nun vor, man hätte es geschafft, die Emissionen durch Flüge zu reduzieren, indem man zum Beispiel den Flugverkehr nicht mehr so drastisch fördert, wie das in den letzten Jahren geschehen ist, indem man einfach die Flugpreise teurer macht, indem man größere Hürden einzieht, was diesen Verkehr betrifft. Das heißt auch, automatisch wäre auch der Transport des Virus langsamer verlaufen und wir hätten mehr Zeit gehabt, uns darauf vorzubereiten. Das ist ein sehr einfaches Beispiel, aber Sie sehen ungefähr, in welche Richtung das geht.
Fischer: Das heißt, 9/11 hat uns eigentlich so ein bisschen auf eine falsche Schleife in der Geschichte geführt, es hat uns ein bisschen abgelenkt von der großen Erzählung der Globalisierung oder auch der Klimakatastrophe, und zu der kommen wir jetzt zurück?
Weidner: Exakt, exakt. Also 9/11 hat einen falschen Frame, einen falschen Rahmen gesetzt für unsere Orientierung in den Jahren danach. Man war fixiert auf das kulturalistische Problem, auf den Islam, auf den Terror, der damit einhergeht, auf Extremismus. Man hat nicht gesehen, dass die Welt vielleicht viel größere Probleme hat. Und man hat sozusagen auch im Windschatten und hinter dem Vorhang dieser Terrorbekämpfung und des Fokus der ständigen Aufmerksamkeit auf den Islam diese Globalisierung mit einer noch größeren Brutalität und Rücksichtslosigkeit vorangetrieben, weil ja die Aufmerksamkeit doch woanders war. Und ich glaube, das rächt sich jetzt ganz extrem, zumal uns natürlich auch 9/11 hätte lehren können, dass das ganze Problem mit dem Terrorismus und dem Islam vielleicht doch auch eines ist, was zurückgeht auf das Kolonialzeitalter: auf globale, radikale globale Ungleichheiten zwischen dem Norden und dem Süden, auf eine große Doppelzüngigkeit in der Politik des Westens. Das ist genau dasselbe, was uns jetzt eigentlich auch wieder beschäftigen wird, denn es ist die Frage der globalen Ungleichheit, es ist etwa die Frage des Klimaschutzes, die wir ja auch nur global angehen können. Und genauso kann man natürlich auch das Problem des Terrors und des Extremismus nur lösen, indem man die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen so angleicht, dass dem Extremismus der Boden entzogen wird. Auch wenn man das vielleicht nicht völlig kann, man wird auch nicht völlig das Virus abschaffen können, aber man wird die Auswirkungen mildern können.
Fischer: Sie ziehen ja in Ihrem Aufsatz einen sehr interessanten Vergleich, wie ich finde: Sie schreiben: Der Terror übersprang die Kulturgrenze zwischen dem Westen und Islam, so wie das Virus die Tier-Mensch-Grenze übersprungen hat. Was ist die Lehre daraus? Dass man nicht mit so einem mächtigen Terrorismus gerechnet hat, wie man nicht mit dem Virus und einer Pandemie gerechnet hat?
Weidner: Na ja, der Witz ist natürlich, dass wir dann am Ende nicht nur mit einem Terrorismus aus dem islamischen Kulturraum konfrontiert gewesen sind, sondern dass dieser Terrorismus dann auch uns angesteckt hat und bei uns einen populistischen, rechtsradikalen Terrorismus hervorgebracht hat. Das hat angefangen 2011 mit dem Attentat von Breivik in Utøya, 77 Tote. Und es hat viele andere Nachfolger gefunden. Der Punkt ist, glaube ich, dass es nicht möglich ist, sei es, beim Virus zu sagen, das ist nur ein chinesisches Problem. Oder beim Terror zu sagen: Der Extremismus, die Unzufriedenheit mit den weltweiten Entwicklungen, das ist nur ein muslimisches Problem. Das geht erst mal nicht. Und der andere Punkt ist natürlich dieser Vergleich mit dem Übersprung der Kulturgrenzen vom Islam in den Westen oder mit dem Virus, das die biologische Grenze von Tier zu Mensch überspringt. Das Ganze können wir weiterdenken. Denn das Virus überspringt ja tatsächlich auch die Grenze zwischen Biologie und Kultur. Denn spätestens in der Zeit des Anthropozäns – also des Erdzeitalters des Menschen, wo der Mensch wirklich den ganzen Globus, den ganzen Erdball von A bis Z geprägt hat und wir im Grunde keinen Flecken Erde mehr finden, der nicht vom Menschen beeinflusst wäre –, in diesem Moment ist das Virus ja ein Teil des Menschen und ist auch ein Teil der menschlichen Kultur. Und es frisst sich sozusagen in unsere Lebensgewohnheiten hinein, und am Ende wird wahrscheinlich sogar das große Problem gar nicht das biologische Virus sein, das tatsächlich viele Todesopfer fordern wird und so weiter. Sondern das größere Problem ist wahrscheinlich das, was das Virus kulturell mit uns anrichtet, wenn wir eben nicht sehr gut aufpassen, also wenn wir dieses Social Distancing fortsetzen, wenn wir wirklich uns einbilden, man könnte Lehre, Schule, auch Universitäten sozusagen nur über Computerbildschirme und über Skype- und Zoom-Sitzungen abhalten, nur als ganz einfaches Beispiel. Es wird tiefergehende Effekte geben, die wir jetzt noch gar nicht absehen können.
Fischer: Es sind alles sehr drastische Entwicklungen und Sie zeigen auch auf, dass Kriegsmetaphern natürlich eine große Rolle spielen. 2001 wie auch heute spricht manch einer gerne in Kriegsmetaphern. Das ist ja eigentlich erstaunlich, weil es ja erst mal ein riesiger Sanitätseinsatz ist, und es gibt Opfer, aber erst mal keinen leibhaftigen Gegner wie im Krieg. Wie kommt es denn zu diesen Kriegsmetaphern?
Weidner: Das ist natürlich auch eine große Analogie zu 9/11. Es ist klar, es geht zunächst darum, die Dringlichkeit der Situation vor Augen zu führen. Aber in einem zweiten Schritt, und da wird es dann potenziell schon wieder gefährlich, geht es natürlich auch darum, die Verantwortlichen und die Politiker zu ermächtigen, zu autorisieren, ganz besondere Maßnahmen zu ergreifen. Wenn ich derjenige bin, der den Krieg ausruft, dann bin ich natürlich auch derjenige, der das Kommando führt. Das kann in Maßen vernünftig sein, dass es jemanden gibt, der uns sagt, wo es langgeht, das würde ich durchaus zugestehen, de facto steckt darin auch eine Anmaßung. Denn es ist ja am Ende nicht der Politiker, der sagt, wo es langgeht. Sondern es sind die einzelnen Menschen, es sind wir alle, die das Virus in der Realität bekämpfen müssen, die dafür sorgen müssen, dass sich das Virus nicht weiter ausbreitet. Das kann nur jeder Einzelne tun, und die Politik kann allenfalls, Gesetze oder Maßnahmen erlassen, die uns dazu nötigen. Aber es ist nicht nur eine Ermächtigung der Politiker, sondern es ist auch eine Entmächtigung des Subjekts. In dem Moment, wo mir etwas vorgeschrieben wird, wo mir vorgeschrieben wird, ich darf die anderen nicht treffen, um das Virus einzuschränken, in dem Moment bin ich ja gar nicht mehr selbst verantwortlich. Ich kann ja auch gar nicht mehr den moralischen Mehrwert, den moralischen Kredit einfahren, der darin besteht, dass ich sage, ich tue das freiwillig nicht, ich achte darauf, dass ich jetzt möglichst wenig Menschen treffe, damit ich das Virus nicht weiterverbreite. Und genau dieser moralische Mehrwert, dieser moralische Gewinn, der ja mir alleine dadurch erwächst, dass ich in der Verantwortung bleibe, wird mir natürlich genommen durch eine solche anmaßende Sprache und Politik. Zum anderen ist natürlich, glaube ich, die Kriegsrhetorik auch insofern symptomatisch, weil es mir doch fast scheint, dass wir gar keine andere Sprache haben, um die Dringlichkeit des Problems zu benennen. Und wenn wir keine andere Sprache haben, deutet das für mich darauf hin, dass wir auch keine anderen Lösungsmittel, keine Alternativen zur Verfügung haben. Es ist also ein Mangel an Alternativen, der in dieser mangelhaften oder auf die Kriegsrhetorik reduzierten Sprache zum Ausdruck kommt.
Fischer: Aber Herr Weidner, wenn die US-Städte sagen, wir sind im Krieg, wenn Bill de Blasio, der Bürgermeister von New York, sagt, Beatmungsgeräte sind die Waffen in diesem Krieg, meinen Sie wirklich, das führt dann zu so einer Art self-fulfilling prophecy wie damals, als man einen Krieg durch Rhetorik vorbereitet hat, als man also wirklich einen realen Krieg vorbereitet hat? Kann diese martialische Rhetorik in der Corona-Pandemie wirklich auch abgleiten? Ist das Ihre These?
Weidner: Ich würde sagen, es kann passieren. Das Schlimme an der Rhetorik ist nicht die Wahrscheinlichkeit, dass es abgleitet. Das Schlimme an der Rhetorik ist für mich, dass sie sozusagen symptomatisch ist dafür, dass wir außer der konfrontativen Taktik, außer der Taktik, das Virus ist ein Gegner, den wir auslöschen müssen, genauso wie der Terror ein Gegner war, den wir auslöschen müssen, nichts zu haben scheinen. Dagegen wehre ich mich eigentlich. Aber Sie haben trotzdem recht. Es gibt tatsächlich die Gefahr, dass diese Kriegsrhetorik zu einer self-fulfilling prophecy wird. Und das kann ja erst mal auf einer metaphorischen Ebene bleiben. Es gibt tatsächlich ja schon einen diplomatischen Krieg mit China um die Frage, wo das Virus herkommt, wer dafür verantwortlich ist. Man kann sich sehr gut vorstellen, dass es unter Umständen Ablenkungskriege gibt, wenn die USA es nicht schaffen, das Virus unter Kontrolle zu bringen. Es sieht ganz so aus. Was hält Trump davon ab, tatsächlich einen realen Krieg auszurufen, um von dieser Krise abzulenken? Schließlich gibt es natürlich die Gefahr eines Bürgerkriegs beziehungsweise bürgerkriegsähnlicher Zustände, und da liegt sozusagen der Brandgeruch in der Luft bei dieser Kriegsmetaphorik.
Corona und die Kriegsmetaphorik
Fischer: Gerade diese Kriegsmetaphorik stammt ja nun eher aus den USA, die ja schon immer für eine besonders martialische oder vielleicht sogar paranoide Rhetorik bekannt waren. Wie sehr ist denn jetzt Ihre Theorie vom langen Schatten von 9/11 durch die Reaktionen bestimmter Länder geprägt wie von den USA oder von Brasilien oder vielleicht auch von Großbritannien, zumindest in der Anfangsphase? In Deutschland scheint man ja doch eher besonnen zu reagieren, vor allen Dingen auf Regierungsebene, und wissenschaftlichen Argumenten erst mal aufgeschlossen zu sein.
Weidner: Da haben Sie völlig recht, das finde ich auch sehr interessant. Das ist sozusagen eine völlig unerwartete, aber nichts desto trotz positive Spätfolge unserer fatalen Erfahrungen mit zwei Weltkriegen und vielleicht auch der deutschen Vergangenheitsbewältigung, die natürlich auch einen größeren Sinn für friedliche oder sozusagen zivile Formen der Problembewältigung gefördert hat. Es ist ja wirklich interessant, auch das ist wieder eine der frappierenden Analogien, dass ausgerechnet die Deutschen, die sich also dieser Rhetorik jetzt in der Coronakrise enthalten haben, ausgerechnet die Deutschen haben natürlich auch bei vielen der amerikanischen Kriege nicht mitgemacht oder nur sehr zögerlich. Und das sind schon sehr interessante Analogien.
Sie sehen also, ich glaube, man kann sozusagen an der deutschen Performance in der Coronakrise, so weit man das bis jetzt sagen kann, fast ablesen, dass es sich lohnt, in einer zivilen Sprache diese Probleme bewältigen zu wollen. Nichts desto trotz müssen wir natürlich sehen, dass wir hier alle in einem Boot sitzen. Das Wir, von dem ich oder von dem wir vielleicht reden, ist unmöglich national zu definieren: Wenn es den USA, Großbritannien, geschweige denn Italien, den EU-Ländern schlecht geht, wird es natürlich auch uns schlecht gehen. Das heißt, auch wenn wir diese Kriegsrhetorik in Deutschland nicht bespielen, sind wir natürlich davon betroffen, wenn das andere tun. Denn wir sitzen in einem Boot. Und wir werden auch in den Sog gewalttätiger Ereignisse geraten, wenn sich diese entwickeln sollten.
Der Staat und die Angst vor der totalen Kontrolle
Fischer: Aber diese Angst, die wir hier vor einem zu starken Staat oder vor zu viel Überwachung haben, ist die wirklich realistisch? Der Philosoph Jean-Luc Nancy etwa meinte kürzlich, der Ausnahmezustand werde quasi zur Regel, aber der Staat sei eigentlich nur ein Getriebener.
Weidner: Das stimmt, dass viele Staaten eigentlich darunter leiden, dass sie diese Autorität nicht haben. Also in Italien konnte man das, glaube ich, sehen, dass der Staat am Anfang überhaupt keine Kontrolle über die Situation hatte. In den USA ist es ein bisschen anders insofern, als dass es ja tatsächlich die republikanische und vor allen Dingen auch die von Trump-betriebene Politik ist, den Staat zu demontieren, wirklich abzubauen, sein Engagement zu reduzieren. Und das, glaube ich, rächt sich jetzt fatal.
Was Deutschland betrifft, sehe ich diese Gefahr eines übergriffigen Staates auch noch nicht. Wobei der deutsche Staat natürlich vergleichsweise potent ist. Wir müssen allerdings ganz klar sehen, dass es Augenwischerei wäre zu behaupten, dass Staaten diese Übergriffe nicht leisten könnten. Also das Paradebeispiel ist natürlich China, was ja wirklich eine fast schon totale Kontrolle über die Bevölkerung ausübt. Ich weiß nicht, wie es in Russland ist. Ich könnte mir vorstellen, dass es dort so ähnlich ist. Mit anderen Worten: Selbst wenn der Staat vielleicht gar nicht die totale Kontrolle hat, kann er sie doch einfordern oder in Einzelfällen durchzusetzen versuchen, und das kann fatal werden. Das kann im Zweifelsfall tatsächlich im Bürgerkrieg enden. Das Paradebeispiel dafür sind die arabischen Revolutionen, vor allen Dingen in Syrien, wo der Staat einfach nicht nachgegeben hat. Und dann kann es wirklich zu einem Moment kommen, wo man nur noch die Wahl hat, sich mit Waffengewalt gegen den Staat zu wehren, oder einem repressiven System zu weichen. Mit anderen Worten: Der Staat hat durchaus das Potenzial, so handeln zu können. In Europa ist das jetzt noch nicht so weit.
Wobei wir in Ungarn schon nah dran sind. Ich weiß von Fällen, dass Menschen wegen Facebook-Posts, die die ungarische Regierungspolitik in Bezug auf Corona kritisiert haben, und zwar kritisiert haben, weil die Politik die Corona-Maßnahmen zu schnell gelockert hat, dass diese Leute tatsächlich morgens um sechs Uhr abgeholt und auf die Polizeiwache geführt worden sind. Also diese Gefahr besteht.
"Posthumanismus heißt nicht, dass wir gegen den Menschen sind"
Fischer: Was machen wir denn jetzt mit allem? Wenn wir erkennen, wir sind vielleicht, drastisch gesagt, ein wenig paranoid geworden durch 9/11 und reagieren jetzt so auf diese Pandemie womöglich… Tja, sollen wir wieder lockerer werden oder sollen wir eher Richtung Deglobalisierung gehen? Sie gehen ja so weit in Ihrem Text, dass Sie sagen, wir müssen sozusagen "gegen die Moderne" arbeiten. Was bedeutet das?
Weidner: Also wir können die Globalisierung sowieso nicht abschaffen, wir können sie auch nicht zurückdrehen, wir können sie nur verlangsamen, wir können versuchen, sie moderater zu gestalten. Das Fatale ist ja – und das trifft auch auf 9/11 zu: Wir haben Strukturen aufgebaut, wir sind in einer dermaßen verflochtenen Welt, dass wir diese Probleme gar nicht punktuell lösen können, also weder das Problem des Virus noch das Problem des Terrors. Sie können natürlich irgendwelche Terroristen in Afghanistan bombardieren oder in den Irak einmarschieren. Aber Sie werden nicht so einfach Saudi‑Arabien erobern können. Das Terrorproblem fängt aber in Saudi-Arabien an. Und genauso wenig können Sie China erobern, nur weil vielleicht die Chinesen eine Mitschuld an der Verbreitung des Virus haben. Was wir nur machen können, ist: Wir können die Verflechtungen moderater gestalten, und was ich eigentlich vorschlage, wäre, das Prinzip des Social Distancing auf Staaten anzuwenden, die mangelhaft demokratisch oder was ihre Beziehung zur Bevölkerung angeht, mangelhaft legitimiert sind. Social Distancing heißt natürlich wie im realen Social Distancing nicht, dass man mit anderen Menschen nichts mehr zu tun haben soll, sondern dass man eine gewisse Distanz einzieht, eine Verlangsamung des Kontakts. Dass man sich nicht abhängig macht von diesen Regimen. Denn sowohl der Terror als auch das Virus sind ein Produkt einer mangelhaften politischen Legitimität, das machen wir uns selten klar. Aber es ist ja klar: Hätten die Chinesen die ersten Meldungen über das Virus von Ärzten in Wuhan nicht zensiert…! Und warum haben sie es zensiert? Natürlich weil sie Angst hatten, dass sie damit die Kontrolle über die Bevölkerung und über die Nachrichten verlieren. Mit anderen Worten: Das hängt letztlich zusammen mit der Struktur des chinesischen Staates, der eben mangelhaft legitimiert ist, der sich nicht zutraut, solch eine Nachricht offen zuzulassen. Wenn diese Nachrichten nicht zensiert worden wären, dann wären wir wahrscheinlich früher im Klaren darüber gewesen, was das Virus heißt und hätten es früher bekämpfen können. Und dasselbe gilt für den Terror. Der islamische Terror ist gewachsen in der Auseinandersetzung mit den despotischen Regimen in der Region und hatte zunächst keine anderen Ziele als diese despotischen Regime. Und als diese despotischen Regime dann die Terroristen so weit verdrängt hatten, blieb ihnen gar nichts Anderes mehr übrig, als irgendwelche Ziele zu nehmen. Und das waren dann zunächst die Russen in Afghanistan und dann die Amerikaner. Das müssen wir sehen.
Das heißt, wir müssen die Globalisierung gestalten. Wir müssen die Moderne gestalten, wir müssen die Moderne überwinden in Richtung des Posthumanismus, von dem ich in diesem Zusammenhang gerne rede. Posthumanismus heißt nicht, dass wir gegen den Menschen sind, gegen den Humanismus. Sondern das heißt, dass wir den Humanismus, also die Konzentration auf den Menschen, erweitern müssen auf das, was jenseits des Menschen auch noch da ist auf der Erde. Und das ist natürlich primär die Umwelt, die Natur. Und nur, wenn uns das gelingt, werden wir ähnliche Entwicklungen in Zukunft, die es auch geben wird, abmildern können, werden sie uns nicht so überrumpeln. Und in dem Moment, wo wir mit der Erde so umgehen, dass wir diese Erde töten, weil sie sich nicht mehr gegen uns wehren kann, werden auch wir sterben. Das heißt: Wir haben tatsächlich eine Lektion von dem Virus anzunehmen, nämlich, dass wir nur überleben können, wenn wir unseren Wirt – in dem Moment jetzt konkret die Erde – bewahren und nicht töten, wie das Virus eben einen geschwächten Menschen tötet.
Fischer: Stefan Weidner, vielen Dank für das Gespräch!
Der lange Schatte von 9-11. Vom Krieg gegen den Terror zum Krieg gegen das Virus. Das war heute unser Thema in Essay und Diskurs.
Die Gedanken von Stefan Weidner erscheinen voraussichtlich Januar 2021 in seinem kommenden Buch "Ground Zero. Eine Geschichte der Gegenwart". Sie sind außerdem schon verarbeitet in einem Podcast für das Bremer Literaturfestival Globale, dort online zu hören auf der Debattenplattform des Festivals mit dem Namen vitaactiva-globale.de!
Am Mikrofon dieser Sendung verabschiedet sich Pascal Fischer. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.