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"Der lange Sommer der Theorie"
Geschichte der geistigen Revolution der 68er

Der Historiker Philipp Felsch erzählt in seinem Buch "Der lange Sommer der Theorie" die Geschichte des kleinen, aber durchaus bekannten Berliner Merve-Verlages. Dabei verknüpft er die Rezeption der linken Theorie mit der Lebensgeschichte des Verlagsmitbegründers Peter Gente.

Von Hans-Martin Schönherr-Mann |
    Auf dem blauen Sofa: Phillip Felsch (links) im Gespräch mit Thorsten Jantschek (Deutschlandradio)
    Phillip Felsch hier auf dem blauen Sofa in einem Gespräch mit dem Deutschlandfunk. (Deutschlandradio / Andreas Buron)
    Das Buch "Der lange Sommer der Theorie", das eigentlich ausgewählte Ereignisse zwischen 1960 und 1990 wissenschaftlich erforscht, hat einen Helden, nämlich Peter Gente, 1936 geboren, beinahe etwas zu alt für die 68er, aber einem Milieu entstammend, in dem man Zeit hatte und von Karriereleitern kaum etwas ahnte. So beschreibt der Historiker Philipp Felsch den späteren Kleinverleger linker, besonders französischer Theorie:
    "Gente ist ein Spätzünder, der lustlos Jura studiert in den späten 50er-Jahren und dann ein entscheidendes Bildungserlebnis hat, das für den Rest seines Lebens wirklich prägend geworden ist. Er hat durch Zufall zwei Kommilitonen bei der Ferienarbeit - damals ging man noch in die Industrie, um zu jobben als Student bei Siemens hier in Berlin in Spandau - belauscht er zwei Kommilitonen, wie sie sich über Adorno unterhielten und ganz fasziniert von diesem damals noch relativ unbekannten Frankfurter Privatdozenten waren, kauft er sich die 'Minima Moralia' und liest sich in diesem Buch fest, obwohl er zunächst gar nicht viel verstanden hat davon."
    Philipp Felsch schreibt zwar keinen Bildungsroman. Doch diese Geschichte des Merve-Verlags verknüpft die Geschichte einer Theorieentwicklung mit der Lebensgeschichte von Peter Gente in der Hauptrolle, in der Nebenrolle seine Lebens- und Verlags-Partnerin Heidi Paris. Es geht nicht mehr wie in der Bildungsromantradition seit Goethe um den allseits gebildeten Menschen, sondern darum, wie sich einer durchs Leben schlägt, indem er von Theorie zu Theorie eilt. Philipp Felsch:
    "Das sind die beiden Protagonisten meines Buches, vor allem Gente, weil er noch gelebt hat, als ich begonnen habe dieses Buch zu schreiben und es mir deswegen möglich war, ihn mehrfach zu treffen und mit ihm zu sprechen. Heidi Paris war damals schon seit zehn Jahren tot. In den 60er-Jahren findet er nicht so recht seinen Platz in der Studentenbewegung, obwohl er immer ganz dicht am Zentrum der politischen Ereignisse beteiligt ist. Also der kannte auch Hinz und Kunz, der kannte Andreas Baader, der kannte Hans-Jürgen Krahl, der ist Daniel Cohn-Bendit begegnet, der war wirklich im Inner circle der Studentenbewegung dabei, ist aber weder als Autor noch als Aktivist im Straßenkampf hervorgetreten."
    Interesse an linken Theorien
    Die Generationen der 68er- und der frühen 70er-Jahre setzen sich bis zum Exzess mit linken Theorien auseinander, um die Gesellschaft zu verändern. Das findet nicht nur an den Universitäten statt. Das Interesse an linken Theorien verbreitet sich in einer neu entstandenen Szene vornehmlich junger Leute, die sich dem bürgerlichen Leben verweigern wollen. Sie bilden zuhauf Lesekreise und Diskussionszirkel: Das Leben verbindet sich mit der Theorie und schreibt sich als Bildungsroman ein.
    Die mediale Voraussetzung dazu ist das Taschenbuch, das seit den 50er-Jahren Karriere macht. Indes erscheint das vielen zunächst als der Untergang des Abendlandes, als das Ende des Denkens und der Philosophie. Kann man sich Kants "Kritik der reinen Vernunft" als Taschenbuch vorstellen? Heute natürlich, aber damals nicht. Philipp Felsch:
    "Das Taschenbuch um 1960 gibt Anlass zu großen schwerwiegenden kulturkritischen Befürchtungen. Adorno selbst hat Essays in diese Richtung geschrieben. Der berühmteste Essay dieser Art ist von Hans Magnus Enzensberger, der die Taschenbuchproduktion als Teil der Massenkultur, als einer von Amerika ausgehenden Korrumpierung, dessen betrachtete, was man in Deutschland eben so emphatisch als Bildung bezeichnet hat. Für diese älteren Kritiker des Taschenbuches ist es völlig undenkbar gewesen, dass ausgerechnet die schwierigste, theoretisch anspruchsvollste Literatur in diesem Format erscheint. Bei Suhrkamp ist wenige Jahre später aber genau das passiert."
    Eng bedruckte Bleiwüsten werden publiziert, die auf jeden Schmuck verzichten. Denn Bilder gelten als Mittel kapitalistischen Konsums, gegen den man sich wehrt. Als Antwort könnte man Philipp Felschs Buch selbst verstehen, das gerade durch viele Fotos die Stimmung jener Jahre einfängt. Damals jedoch ermöglichte das Taschenbuch diverse Gründungen linker Verlage besonders in Westberlin, weil es dort billigen Wohnraum gab, hatten viele Berliner seit dem Mauerbau die Stadt verlassen, was umgekehrt Studenten und Aussteiger anzog. Philipp Felsch:
    "Eines dieser Projekte ist der Merve-Verlag, der gegründet worden ist von Peter Gente, weil er in den großen etablierten Verlagshäusern nicht untergekommen ist. Er hatte die Idee, die von Suhrkamp bereits implementierte Taschenbuchtheorie, auf diese Buchidee noch eins drauf zu setzen, indem er nämlich noch kleinere noch schneller publizierte Formate machen wollte. Er wollte Zeitschriftenaufsätze aus dem Französischen ins Deutsche übersetzen theoretischer Art, um damit die Theoriedebatte voranzutreiben. Die etablierten Verlage, Hanser, Suhrkamp, Rowohlt waren dazu nicht zu gewinnen und damals hat man dann 1970 Do-it-yourself-mäßig schnell die Idee entwickeln können, es einfach selbst zu machen."
    Den Namen gibt seine erste Frau Merve Lowien, Fußpflegerin, also proletarischer Herkunft, eine Ehe, die man damals auch als politisches Programm verstehen konnte. Wenige Jahre später lernt Gente Heidi Paris kennen. Sie trägt von da an wesentlich zum Erfolg des Verlags bei.
    Wandel der linken Theorie-Rezeption
    In den 70er-Jahren wandelt sich dann diese linke Theorie-Rezeption, vielleicht weniger an deutschen Universitäten als vielmehr in den vielen verschiedenen linken und sozialen Szenen. Die sich zunehmend dogmatisierenden marxistischen Diskussionen scheinen deren Lebenswirklichkeit kaum noch etwas zu sagen. Im Merve-Verlag sucht man daher nach neuen Autoren. Felsch:
    "Die Merves, anfangs noch als Verlagskollektiv, beginnen damit Texte, marxistische Texte vor allem aus Italien, in den deutschen sogenannten Diskussionszusammenhang, wie man damals sagte, einzuspeisen und im Laufe der 70er-Jahre nutzt sich diese Diskussion, nutzt sich das, was man damals abfällig als Ableitungsmarxismus zu bezeichnen begann, einfach ab. Und die Franzosen erweisen sich dann als eine enorm scharfe Waffe, um sich von diesem kritischen klassischen marxistischen linken Denkstil zu lösen. Und der Merve Verlag ist einer der ersten westdeutschen Kleinverlage gewesen, die mit großem Erfolg die, wie man damals sagte, neuen Franzosen in die Bundesrepublik importiert haben."
    Das begann mit Raubdrucken. Es gab daher mal Ärger mit Louis Althusser. Dann aber druckte man vornehmlich kleinere Texte von Autoren wie Michel Foucault, Jean Baudrillard oder Jean-Francois Lyotard, mit denen Heidi Paris und Peter Gente häufig auch persönliche Kontakte pflegten. Sie fuhren nach Paris und luden die Franzosen nach Berlin ein. Fotos zeigen Paris, Foucault und Gente auf dem Tunix-Kongress 1978 in Berlin, der die Autonomen-Szene und die Alternativbewegung inspirierte. Damit ärgerte der Merve-Verlag die von Habermas dominierte Suhrkamp-Kultur, in der die französischen Postmodernen als Häretiker galten, weil sie der hehren Vernunft gewalttätige Intentionen und Machtansprüche unterstellten.
    Man könnte den Eindruck gewinnen, dass sich Felsch dieser Kritik gegen Endes des Buches zunehmend anschließt, wenn er schildert, wie sich in diesem vom Merve-Verlag publizierten Denken in den 80er-Jahren ein Interesse an rechten Theorien wie jenen von Carl Schmitt oder Ernst Jünger breitmacht. Oder wenn der Berliner Hauptvertreter französischen Denkens, der Soziologe Dietmar Kamper in teuren Hotels Schicki-Micki-Orgien feiert, die die Universität bezahlt haben soll.
    Trotzdem erweist sich das letzte Kapitel des Buches "Dispositive der Nacht" als lesenswert. Felsch:
    "Wenn man über diese Theorie-Szene schreibt, dann muss man auch die Frage des Nachtlebens berühren und die Frage sich stellen, inwiefern ist das Nachtleben zu einem Rezeptionsort, zu einem Zirkulationsort auch von Theorie geworden. Die Geschichte beginnt ja in den 60er-Jahren eigentlich mit den 68ern mit dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund, der relativ protestantisch asketisch unterwegs ist. Das Nachtleben spielt hier keine große Rolle. Es gibt hier in den 60er-Jahren noch gar nicht das, was wir heute als Kneipenszene bezeichnen, sondern damals sind die Möglichkeiten in Westberlin auszugehen und Biertrinken zu gehen beispielsweise auf ganz klassische traditionelle Lokale beschränkt, wie man sie aus frühen Fassbinder-Filmen kennt. Das ist noch die alte deutsche Arbeiterkneipe. Und in 70er-Jahren explodiert in Berlin auch aufgrund der fehlenden Sperrstunde, aufgrund des Zuzugs all dieser Alternativen und Aussteiger und Nonkonformisten das, was man dann als Kneipenszene bezeichnet, und in den Kneipen werden Kommunikationsformen eingeübt, die mit dem Denkstil der kritischen Theorie brechen, die mit dem Denkstil des Neomarxismus brechen. Ich gehe im Buch auch ein bisschen durch die inzwischen längst legendären Klubs in Westberlin der 80er-Jahre - wie die Umgangsformen dort auch zurückgespiegelt wurden in eine Theorielandschaft, die sich darüber Gedanken gemacht hat, wie Kommunikation überhaupt funktioniert."
    Philipp Felsch präsentiert die Theorie-Diskussion als Bildungsroman. Ob das ein Lob ist? Aber Sozialgeschichte klingt viel zu akademisch hölzern.
    Philipp Felsch: "Der lange Sommer der Theorie – Geschichte einer Revolte 1960-1990"
    272 Seiten, C.H. Beck, München 2015