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Der Letzte

"Ich hab hinter die Mechanismen der Macht nicht dahintergeschaut, weil ich nämlich weder bei den Koalitionsspitzengesprächen dabei war, wo ausgehandelt wurde, wie die nächste parlamentarische Sitzung zwischen CDU und SPD, die damals noch 'ne Koalition machte in Thüringen. Ich war auch nicht dabei bei irgendwelchen internen Gesprächen zwischen Politikern und Unternehmern. Ich war also nicht mal dabei bei den nichtöffentlichen Ausschusssitzungen. Also bei all diesen Dingen, wo die eigentlichen Entscheidungen getroffen wurden, war ich nicht dabei."

Johannes Kaiser | 22.01.2001
    Man braucht als Reporter schon Mut, um zuzugeben, dass man nur einen Teil dessen erreicht hat, was man sich eigentlich vorgenommen hatte. Doch genau diese Ehrlichkeit zeichnet Landolf Scherzer seit langem aus. Der 59jährige Thüringer Schriftsteller hatte sich schon zu DDR-Zeiten einen Namen gemacht mit seinen unverblümten Reportagen. Regelrecht berühmt wurde er dann mit seinem erstaunlich realistischen Porträt des Alltags eines SED-Kreissekretärs. Der 1988 erschienenen Report 'Der Erste' stieg zum DDR-Perestroika-Bestseller auf. Nach der Wende erstaunte Landolf Scherzer dann Freund wie Feind mit seinem unvoreingenommenen Bericht über den Alltag eines christdemokratischen Landrats in Thüringen, 'Der Zweite". Letztes Jahr nun ließ er sich als letz- ter Journalist für die Thüringer Langtagswahlen akkreditieren. Daher der neue Buchtitel "Der Letzte". Der Reporter, der sich in der Tradition Egon Erwin Kischs sieht, wollte direkt vor Ort miterleben, wie parlamentarische Demokratie funktioniert. Hierzu Landolf Scherzer:

    "Was hab ich begriffen? Ich hab erstens begriffen, dass dieses hohe Ethos oder diese moralische Verpflichtung, mit der man heutzutage an Abgeordnete herangeht, von denen man verlangt, dass sie für das Wohl des Volkes und uneigennützig und Pipapo, dass das eine der größten Lügen überhaupt ist, der wir aufsitzen. Diese 88 Leute, die da im Landtag gesessen haben, die kann ich aus jeder anderen Gruppierung, ohne dass sie Abgeordnete sind, aus der Gesellschaft herausnehmen, und da sind genauso viele korrupte Leute dabei, das sind genauso viele Idealisten dabei, das sind genauso viele Schwärmer, das sind genauso viele böswillige, hinterfotzige Leute dabei, also es ist eigentlich nur ein Spiegelbild der Gesellschaft und was wir da immer so tun, dass wir sagen, die Abgeordneten müssen besser sein, weil sie ja unsere Vertreter sind: Nein, sie sind genauso beschissen wie wir selber sind. Sie machen ihren Job wie ein Bankangestellter und möchten nicht entlassen werden. Politik ist heute ein Beruf und man möchte möglichst lange in seinem Job arbeiten. Das ist eine existentielle Frage auch."

    4 So wird die Wiederwahl zum übermächtigen Druckmittel der Fraktion, die entscheidet, ob jemand auf einem guten Listenplatz landet, damit aller Wahrscheinlichkeit wiedergewählt wird und sein Einkommen für die nächsten fünf Jahre gesichert ist, er seine Kredite, sein Häuschen abzahlen kann oder ob er nur unter ferner liefen auftaucht und damit alle Sicherheiten einbüßt. Nicht der Wähler entscheidet über die Politik des Einzelnen, sondern die Fraktion. Dazu Scherzer:

    "Das Zweite, was ich begriffen habe, dass die Wirkungsmöglichkeiten der Politik der Abgeordneten sehr, sehr, sehr begrenzt sind. Sie können wie der 1. Kreissekretär der Partei irgendwo eine Beschwerde, dass die Kohle nicht pünktlich angeliefert worden ist, bearbeiten, dass der dann seine Kohlen, kurz bevor der erste Frost kam, dann doch noch im Haus hatte. Ja und heute sind sie eben froh, wenn sie mitteilen können, die Milchquote für einen Bauer im Dorf war also beängstigend und die musste erweitert werden und ich hab dem geholfen, indem ich mit dem Landwirtschaftsminister gesprochen habe. Also solche Dinge sind regelbar, aber von wegen große politische Visionen umsetzen oder gar politische Linien vorgeben können, nachdem andere in der Gesellschaft sich richten."

    Landolf Scherzer hat versucht, den Menschen hinter dem öffentlichen Image des Abgeordneten zu entdecken und dabei immer wieder überraschende Einsichten gewonnen. Dabei gelingen ihm immer wieder überraschende Porträts, wenn er z.B. hinter der Politikerin und Ex-Bundesministerin Claudia Nolte eine nach Scheidung und parteiinterner Entmachtung sehr verletzliche Frau entdeckt oder miterlebt, wie Ministerpräsidenten Vogel bei einer Lobesrede auf ihn erschöpft einnickt:

    "Ein friedliches Bild, ein alter Mann, wie er dabei einschläft, wo er direkt angesprochen wurde und man für ihn eine Rede hielt, ja das ist so ein menschlicher Zug da und alles Menschliche macht mir Menschen sympathisch. Aber es gibt leider soviel Unmenschliches und damit meine ich das Maskenhafte, wo man kein bisschen mehr selber ist, und sobald man so ist, wie man vielleicht sich gibt, wenn man mal nicht beobachtet wird, werden mir die Leute sympathisch."

    Es sind die Kleinigkeiten, die Scherzers Porträts so lebendig machen, wenn er hinter dem öffentlichen Politiker die Privatperson mit ihren Wünschen, Hoffnungen, Ängsten aufspürt. Er zitiert auch nicht aus Partei- oder Wahlprogrammen, die hat er noch nicht einmal gelesen, er wollte vielmehr von den Abgeordneten selbst wissen, was sie tun und lassen, warum sie so handeln und welchen Zwängen sie unterliegen, welche Einflussmöglichkeiten sie haben. Er hat sie beim Wahlkampf begleitet, im Landtag beobachtet, mit ihnen Bier getrunken und 6 stundenlang geredet. Dabei hat er versucht, so vorurteilslos wie nur möglich zu bleiben. Hierzu Scherzer:

    "Genau das ist eigentlich das einzige, was ich nach der Wende versucht habe zu beherzigen, das, was wir vorher überhaupt nicht hatten, nämlich Toleranz dem anderen gegenüber, obwohl es schwer fällt und damit ist man eigentlich auch manchen Parteien voraus, denn das Schlimmste an den Parteien meiner Meinung nach ist die Intoleranz, ihr festgefügtes waschzettelartiges Herunterbeten von irgendwelchen Grundsätzen, um sich von der anderen Partei abzugrenzen. Die größte Kreativität wird ja heute darauf benutzt, um irgendwas zu finden, wo ich mich abgrenze von den anderen, und da geht Toleranz natürlich nicht mehr, weil man ja ganz intolerant sein muss, um ja nicht in den Verdacht zu kommen, man stütze vielleicht bei den Müllverbrennungsanlagen die Ansicht der SPD oder ja also, das war also so eine Lehre für mich."

    Allerdings hat er den gesammelten Selbstauskünften zwischen den einzelnen Buchkapiteln Zeitungsmeldungen gegenübergesetzt, die den aufgezeichneten Einsichten und Absichten oftmals widersprechen oder sie zumindest relativieren. So ergibt sich das ungeschminktes Bild eines Landtages, in dem tatsächlich ein Stück Volk vertreten ist mit all seinen Schwächen und Stärken. Nur in einem gleichen sich alle: in ihrer geradezu prinzipiellen Unfähigkeit, Fehler einzugestehen. Das ist für Landolf Scherzer der größte Fehler alle Politiker:

    "Es ist natürlich heutzutage gefährlich, Fehler zuzugeben, da man für Fehlerzugeben nicht belohnt wird. Die Medien usw. warten nur darauf, um das auszunutzen. Wir leben also in einer Gesellschaft, die selbst aus Fehlern anderer Kapital schlagen möchte. Ich kann doch nur kreativ sein, wenn ich sage, das haben wir falsch gemacht. Wir müssen uns Gedanken machen, wie wirs anders machen. Ich kann nicht kreativ sein, indem ich ständig sage, das ist gut und richtig, wir habens nur nicht richtig vermittelt, ja. Das ist doch der normale Slogan, aber das liegt nicht so sehr an den Abgeordneten, sondern liegt wirklich an dem Gesamtaufbau dieser Gesellschaft, die nicht in der Lage sind, Ehrlichkeit und Kreativität, ich glaube, wirklich zu fördern, zumindest nicht in politischen Bereichen."