Archiv


Der letzte Ort des alten liberalen Ritus'

Vor der Schoah waren die meisten Synagogengemeinden in Deutschland liberale jüdische Gemeinden mit Orgel und gemischtem Chor im Gottesdienst. In der Berliner Synagoge in der Pestalozzistrasse hat sich der alte liberale Ritus wie durch ein Wunder erhalten.

Von Igal Avidan |
    Freitagnachmittag in der Berliner Synagoge Pestalozzistrasse. Der Betsaal des imposanten neoromanischen Backsteingebäudes ist am Vorabend des Schabbat gut besucht. Diese Synagoge wurde 1912 eingeweiht und bot einmal Platz für etwa tausend Personen. Finanziert wurde sie vom orthodoxen "Religionsverein". Das Grundstück hatte die jüdische Kauffrau Betty Sophie Jacobsohn günstig erworden, da es hinter zwei Wohnhäusern lag, schreibt Esther Slevogt in ihrem neuen Buch "Die Synagoge Pestalozzistrasse". Am Anfang wurde in dieser Synagoge der Gottesdienst von einem Männerchor begleitet.

    Tina Frühauf, Musikwissenschaftlerin an der Columbia University in New York, hat sich besonders mit der Geschichte der Musik in dieser Synagoge beschäftigt.

    "Im Laufe der Zeit als Reform geboren wurde, hatte sich die Orthodoxie abgegrenzt, aber die Orthodoxie war viel flexibler als das heute ist, und auch viel weniger genau definiert. Kol Ischa, die Stimme der Frau, sagt eben, dass man während des Gebets keiner Frauenstimme zuhören soll, um sich nicht verführen zu lassen, sondern um sich aufs Gebet zu konzentrieren. Und deshalb eben der Männerchor in orthodoxen Synagogen"

    Zurzeit ist Tovia Ben Chorin in der Synagoge Pestalozzistraße Rabbiner. Er ist der erste in Israel geborene Reformrabbiner und Sohn des berühmten Religionswissenschaftlers Schalom Ben Chorin, der die erste jüdische Reformgemeinde in Israel gegründet hat. Mit der Gottesdiensttradition der Pestalozzistraße ist Rabbiner Tovia Ben Chorin durch seinen Vater seit seiner Kindheit vertraut. Tovia Ben Chorin ist heute ein Nachfolger von Rabbiner Leo Baeck, der in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts international der bekannteste Vertreter des deutschen liberalen Judentums war.

    "Dort sind die Wurzeln des liberalen Judentums, das sich in der ganzen Welt in den letzten 200 Jahren entwickelt hat. Das kommt von Berlin, das ist historisch wichtig. Der Platz, von dem Rabbiner Leo Baeck gepredigt hat, dort stehe ich nicht, weil ich zu viel Respekt habe für ihn. Er stand zwischen dem Pult, wo der Chasan steht, und dem Aron Hakodesch, der Bundeslade. Ich habe ihn noch als Kind in Jerusalem getroffen nach dem Krieg, wie er auf Besuch kam nach Jerusalem, das war 1949 oder 1950."

    Nach seiner Freilassung aus dem KZ Theresienstadt, übersiedelte Rabbiner Leo Baeck im Juni 1945 nach London. Zur gleichen Zeit kehrten die ersten jüdischen Überlebenden in die Pestalozzistraße zurück. Der Betsaal, der sich in einem Hinterhof befand und deswegen den Brandanschlag am Reichskristallnachtpogrom überstanden hatte, wurde nicht mehr aktiviert, denn nachdem dort seit 1943 die Gestapo eine Wäscherei eingerichtet hatte, galt er als geschändet.

    Doch im Vorderhaus herrschte kurz nach Kriegsende wieder reges jüdisches Leben. Bereits im Frühsommer 1945 fanden wieder jüdische Gottesdienste in einem kleinen Betsaal im Vorderhaus statt, direkt neben der zentralen Auswanderungsstelle für Juden. So trafen sich die Juden, die bleiben wollten, mit den Juden, die Deutschland verlassen wollten.

    Diejenigen, die blieben, konnten sogar die liberale liturgische Tradition Louis Lewandowskis retten, der 25 Jahre lang Komponist und Chorleiter in der "Neuen Synagoge" in der Oranienburgerstraße gewesen war, die im Krieg zerstört wurde. Regina Yantan ist Organistin und Leiterin des "Synagogal-Ensemble-Berlin", des Chors der Synagoge Pestalozzistraße.

    "Das Einmalige in unserer Synagoge ist, dass wir wirklich originalgetreu die Tradition, die seit der Eröffnung der Neuen Synagoge in der Oranienburgerstraße, die dort eingeführt wurde von Louis Lewandowski, dass wir die – mit einer zeitlichen Unterbrechung, aber nicht mit einer inhaltlichen Unterbrechung – weiterführen von dort, weil wir den Ritus eins zu eins weiterführen. Durch den katholischen Organisten Artur Zepke, der vor dem Krieg in der Oranienburgerstraße die Orgel gespielt hat und den Chor geleitet hat und dann nach dem Krieg dasselbe in der Pestalozzistraße weitergemacht hat."

    Diesen liberalen Ritus mit gemischtem Chor und Orgel in der Tradition Lewandowskis leitete ab 1946 Kantor Leo Gollanin, der vor dem Krieg 24 Jahre in der Neuen Synagoge tätig gewesen war. Direkt nach dem Ende des Krieges hielt sich auch der junge, aus Griechenland stammende Tenor Estrongo Nachama in Berlin auf. Er hatte Auschwitz überlebt und wollte so rasch wie möglich in seine Heimat Griechenland zurückkehren. Da er aber krank wurde, musste er monatelang in einem Berliner Krankenhaus behandelt werden. Ein Bekannter stellte ihn damals in der Pestalozzistraße vor, wo er beim Gottesdienst vorsingen durfte. Da Kantor Gollanin einen Nachfolger suchte, bot er diese Stelle Nachama an. Er sagte zu, denn er hatte inzwischen erfahren, dass seine gesamte Familie von den Nazis umgebracht worden war. Sechs Monate übte nun Gollanin mit Nachama aschkenasische Gesänge, die dem sephardischen Juden aus Griechenland bis dahin fremd waren. Als schon kurz danach Leo Gollanin starb, wurde Nachama Kantor in der Synagoge Pestalozzistraße – und blieb es 50 Jahre lang.

    Dank seines griechischen Passes konnte Estrongo Nachama jahrzehntelang auch als einziger West-Berliner Jude die kleine Ost-Berliner-Gemeinde unterstützten. Deren Gemeindevorsitzender in den Jahren 1971 bis 1990 war Peter Kirchner:

    "Estrongo Nachama war mir natürlich seit meiner frühen Jugend bekannt. Er hat mit unserem Rabbiner Riesenburger die Beerdigungen auf dem Friedhof gemacht und hatte nach dem Tode Riesenburgers dann allein diese Amtsführung übernommen. Er kam jede Woche in die Gemeinde; er hat sich vor allem um den Friedhof gekümmert, aber auch um die koschere Fleischerei, und veranstaltete für uns einmal im Jahr für ein Synagogenkonzert und nahm auch an unseren Bällen teil. Er hat sich auch bereit erklärt, zum Beispiel meinen Sohn jede Woche zu unterrichten und dann auch bei seinem Gottesdienst zu seinem Bar Mitzwa diesen zu leiten, ohne dass er dafür auch nur in irgendeine Form finanzielle Aufwendungen oder Entsprechendes gewünscht hätte. Er hat all diese Dinge, auch die Beisetzungen auf dem Friedhof, kostenfrei durchgeführt."

    Estrongo Nachama erreichte für einen Kantor eine ungewöhnliche Popularität. Seit 1948 war sein Gesang jede Woche im RIAS, später im Deutschlandradio zu hören, wenn dort freitags die Sabbatfeier mit dem RIAS Kammerchor gesendet wurde. Durch zahlreiche Plattenaufnahmen fand er auch internationale Beachtung und trat in Europa, Israel und den USA auf. Durch die Auftritte des Chors der Synagoge Pestalozzistraße, des "Synagogal Ensemble Berlin", der auch das jährliche Louis-Lewandowski-Festival mit veranstaltet, ist auch diese Synagoge inzwischen international bekannt.