Archiv


Der Lexikograf des Teufels

Ambrose Bierce (1842-1913/14) war der einzige bedeutende amerikanische Schriftsteller, der den Bürgerkrieg (1861-65) als aktiver Soldat von Anfang bis Ende miterlebte. Die Erlebnisse während dieser Zeit prägten seinen Charakter und seine literarischen Werke auf nachhaltige Weise.

Von Wiard Raveling |
    Die Nahaufnahmen einer Schreibfeder.
    Ambrose Bierce hat sich stark mit dem Thema Tod auseinandergesetzt. (picture-alliance/ dpa / Hans Wiedl)
    Das Thema Tod quälte und faszinierte ihn bis zu seinem eigenen mysteriösen Ende. Obwohl Bierce eine nur sehr rudimentäre Schulbildung genoss und nie ein College oder eine Universität von innen sah, war er als 30-Jähriger einer der bekanntesten Schriftsteller der Westküste und wurde dort im literarischen Leben bald so etwas wie der Kritiker-Papst, der Schriftstellerschicksale befördern oder zerstören konnte.
    Was von seinem umfangreichen Werk heute noch mit Gewinn gelesen werden kann, sind vor allem seine Kurzgeschichten, einige Berichte über Erlebnisse während des Bürgerkriegs und sein "Devil’ Dictionary". In seinen Kriegs- und Horrorgeschichten geht es so gut wie immer um einen sinnlosen, schrecklichen und jämmerlichen Tod.
    Am deutlichsten wird Bierces Einstellung zum Leben und zu den Menschen in seinem "Devil’ Dictionary". Hier gibt er seinem grenzenlosen Pessimismus, seinem Sarkasmus und Zynismus allen Raum. In ihm zeigt sich aber auch sein Talent zum geschliffenen witzigen Aphorismus und zur gnadenlosen Entlarvung menschlicher Schwächen wie Dummheit, Heuchelei, Eigennutz, Bigotterie und Selbsttäuschung. Bierce war auch einer der ersten bedeutenden "muckraker" (Enthüllungsjournalisten).
    "Des Teufels Wörterbuch" ist eine Kollektion satirischer Aphorismen von Ambrose Bierce aus dem Jahre 1911. Sie versammelt meist schwarzenhumorige oder sarkastische Definitionen für rund 1000 Wörter. Mehr bei Wikipedia
    Auszug aus dem Manuskript der ersten Stunde der Langen Nacht:
    Wie war es möglich, dass jemand, der mit 14 Jahren seine Dorfschule verließ, einige Jahre lang in verschiedenen Jobs tätig war, dann mit 18 in den Bürgerkrieg zog, den er vier Jahre lang nahezu ununterbrochen sehr aktiv mitmachte, der nie ein College oder eine Universität von innen gesehen hatte und mit 20 Jahren noch Schwierigkeiten mit der Orthographie hatte, wie war es möglich, dass ein solcher Mann wenige Jahre später so etwas wie der Literaturpapst, der "Samuel Johnson" der amerikanischen Westküste wurde?
    Warum war gerade in einer Zeit, in der die Vereinigten Staaten - vor allem im Westen - von tatkräftigen Pragmatikern, Draufgängern und Optimisten geprägt wurde, einer ihrer populärsten und einflussreichsten, aber auch umstrittensten und gehasstesten Journalisten und Literaten ein so abgrundtiefer Skeptiker, Pessimist und Zyniker? Gegen Ende des 19. Jahrhunderts galt er als ebenso bedeutend wie Mark Twain; zwischen den Weltkriegen war er fast ganz vergessen; heute gilt er als Klassiker der amerikanischen Short Story - wenn auch mit nur wenigen Geschichten. Für ihn war der Firnis der Zivilisation, die das wahre Wesen des Menschen verdeckt, äußerst dünn. Darunter gähnen schauderhafte Abgründe.
    Ambrose Gwinnett Bierce wird am 24. Juni, 1842 in einem Holzhaus in Horce Cave Creek, Ohio, geboren. Er ist das zehnte von dreizehn Kindern sehr frommer, armer und wenig tüchtiger Farmer. Sein Vater Marcus Aurelius Bierce hat aus irgendeinem Grund - einige vermuten wegen seiner Vorliebe für Gedichte mit Alliteration - die fixe Idee, all seinen Kindern einen Vornamen zu geben, der mit dem Buchstaben A beginnt. Abigail, Amelia, Ann, Addison, Aurelius usw. Als Ambrose dann geboren wird, sind die gebräuchlichen Namen mit A vergeben, und er bekommt den ungewöhnlichen Namen Ambrose verpasst.
    Als Ambrose vier Jahre alt ist, zieht die Familie um auf eine Farm in Indiana.
    Ambrose geht bis 1856 auf eine High School in Warsaw, Indiana. Das ist seine gesamte reguläre Schulbildung. Dieses von ihm zeitlebens immer schmerzlich empfundene Defizit versucht er während seines gesamten Lebens durch gieriges und sehr unsystematisches Lesen zu kompensieren. Schon als Kind und Jugendlicher liest er eine Menge. Er kann sich in der für einen Farmer des Mittleren Westens stattlichen Büchersammlung seines Vaters bedienen. Dieser fromme und gottesfürchtige Mann liest beileibe nicht nur Religiöses und Erbauliches, sondern hat eine Vorliebe für Pope, Byron und für romantische Schauerromane, die sogenannten gothic novels. Er besitzt daneben englische Übersetzungen lateinischer Klassiker.
    Bierce hat später zeitlebens eine abgrundtiefe Abneigung vor der Umgebung seiner Kindheit, vor seiner Mutter und vor allem vor seinem Vater, der ein überzeugter frommer Anhänger der Prügelpädagogik gewesen zu sein scheint. Möglicherweise ist hier auch ein Grund dafür zu suchen, warum Bierce schon früh den christlichen Glauben seiner Eltern verlor. Auf jeden Fall kannte er aber die Bibel sehr gut und zitierte später oft aus ihr. Wenn ihm auch jede institutionalisierte Religion zeitlebens ein Graus war, so hatte er doch eine besondere Hochschätzung für den Menschen Jesus.
    Aus dem Wörterbuch des Teufels:
    KINDHEIT: Jene Periode des Menschenlebens, die zwischen der Idiotie der Säuglingszeit und dem Wahnsinn der Jugend liegt - zwei Grad entfernt von der Sünde des Mannestums, und drei von der Reue des Alters.
    Einige Biografen erklären mit dieser schwierigen und oft einsamen und unverstandenen Kindheit auch, warum Bierce später introvertiert, verschlossen, mürrisch und empfindlich war und sich fast systematisch gegen jede Art Autorität auflehnte. Woran er sich später vor allem erinnerte, wenn er an seine Kindheit zurückdachte, sind Armut, Schmutz, Unwissenheit, soziale und geistige Enge. Ein weiterer Grund für den Hass auf seine Kindheit ist sicher auch die Tatsache, dass der kleine Ambrose nicht nur unter Asthma, sondern auch unter schrecklichen Alpträumen litt.
    Ambrose Bierce
    Des Teufels Wörterbuch
    Übersetzung u. Nachw. von Gisbert Haefs.
    2013 Manesse
    Hämischer, sarkastischer und politisch unkorrekter als Ambrose Bierce hat wohl kaum jemand die Welt beschrieben. In gewitzten Stichworten von A wie "Abendland" bis Z wie "Zyniker" erklärt er den Lauf der Dinge, gesehen durch die Brille eines schwarzhumorigen Pessimisten.
    Bei der Zusammenstellung seiner Misanthropismen ließ "Bitter Bierce" die reine Willkür walten. So folgt auch in der Übersetzung auf die "Braut" das "Brechmittel", auf "Betragen" das Wort "betrügen" und auf den "Erzbischof" der "Esel". Bierce Spott gilt sozialen, politischen und charakterlichen Missständen, seine Geißel triff t Machthaber und Autoritäten jeden erdenklichen Kalibers. Mit weit über 1000 Stichworten präsentiert die vorliegende Ausgabe diesen Klassiker der satirischen Literatur so umfangreich wie nie zuvor in deutscher Sprache.
    Ambrose Bierce
    Gesammelte Werke
    Jubiläumsausgabe. Übersetzung: Beyer, Werner; Böhnke, Reinhild; Cramer-Nauhaus, Barbara u. a.
    2014 Anaconda
    Das Beste zum 100. Todestag - die Welt des Ambrose Bierce. Bei seinen amerikanischen Zeitgenossen war Ambrose Bierce (1842-1914) berühmt-berüchtigt. Er galt als bitterböser Zyniker und brillanter Stilist, dessen Zorn niemand auf sich ziehen wollte. Neben journalistischen Arbeiten schuf der Meister der Short Story ein bedeutendes literarisches Werk. 'Mein Ruf als unbekannter Autor ist weltweit', sagte Bierce über sich selbst. Dieser Band lädt zur Entdeckungstour ein. Er versammelt seine 'Erzählungen von Soldaten und Zivilisten', zahlreiche Horrorgeschichten und große Teile seines 'Wörterbuchs des Teufels', außerdem Fabeln, Essays und Gedichte.
    Auszug aus dem Manuskript der dritten Stunde:
    Dieser 1,80 m große Mann ist mit seinen 71 Jahren immer noch ein stattlicher und - wenn er kein Asthma hat - rüstiger Mann.
    Ende des Jahres kommt Bierce in New Orleans an. Nach einem kurzen Aufenthalt dort überquert er vermutlich die mexikanische Grenze, um Zeuge des mexikanischen Bürgerkriegs zu werden - und verschwindet auf Nimmerwiedersehen. Seinen letzten Brief schickt er von Chihuahua, abgestempelt am 26. Dezember, 1913. Hatte er als Beobachter Pancho Villas Armee in Ciudad Juárez die Schlacht bei Tierra Blanca erlebt? Oder wurde er von einem Exekutionskommando erschossen? Ob eine dieser Vermutungen zutrifft - oder ob er noch ein ganz anderes Ende gefunden hat, zum Beispiel durch Selbstmord -, wird wohl für immer ungeklärt bleiben.
    Als der berühmte Journalist und Schriftsteller nicht wieder auftauchte, entstanden und verbreiteten sich sehr schnell die abenteuerlichsten Gerüchte. Viele Menschen hatten wohl das Gefühl, dass sie diesen seltsamen und eigenwilligen Mann, für den der Tod ein so wichtiges Lebensthema gewesen war, erst dann recht verstehen würden, wenn sie wüssten, wie er gestorben ist. Ein Gerücht besagte, er sei nach Südamerika gegangen. Jemand wollte ihn sogar in Europa gesehen haben. Einiges spricht tatsächlich dafür, dass einer seiner hartnäckigsten Wünsche wahr geworden war. Er hatte sich immer einen plötzlichen Tod gewünscht. Als er den Entschluss fasste, nach Mexiko zu gehen, schrieb er an eine Freundin die folgenden Bemerkungen, die in keiner Bierce-Biographie fehlen.
    "Ich gedenke nach Südamerika zu gehen, es vielleicht zu durchqueren - möglicherweise über Mexiko, sofern ich durchkomme, ohne irgendwo an die Wand gestellt und als Gringo erschossen zu werden. Aber das ist besser, als im Bett zu sterben, stimmt’s?"
    Und am 1. Oktober schrieb er an Lora Bierce:
    "Leb wohl! Wenn du hören solltest, dass man mich vor eine mexikanische Mauer gestellt und in Fetzen geschossen hat, dann bedenke bitte, dass ich es für eine recht angenehme Art halte, aus diesem Leben zu scheiden. Besser als ein Greisenalter mit Krankheiten oder die Kellertreppe herunter zu fallen. Ein Gringo in Mexiko - ah, das ist Euthanasie!"
    Zu Spekulationen hat auch folgende Passage aus einem Brief an D. Blake, Verkäufer eines Buchladens in San Francisco angeregt:
    "Schreiben Sie mir nicht; ich breche in ein oder zwei Tagen nach Mexiko auf. Wenn ich hereinkomme (und wieder heraus), schiffe ich mich von einem Hafen an der Westküste nach Südamerika ein. Vermutlich wird man mich eher herein- als wieder heraus lassen, aber alle guten Gringos kommen in den Himmel, wenn sie durch eine Kugel fallen."
    Aus einer Bierceschen Bemerkung ("Meine Gebeine wird nie jemand finden.") haben manche den Schluss gezogen, dass er seinen Tod oder sein Verschwinden von langer Hand vorbereitet und inszeniert hat. Das Thema Selbstmord hatte ihn ein Leben lang fasziniert. Und vieles spricht in der Tat dafür, dass er nicht mehr sehr am Leben hing: Er war alt und asthmakrank. Sein Familienleben war ein einziger Scherbenhaufen. Seine Verachtung für das moderne Leben, ja für das Leben überhaupt war grenzenlos. Seine Art Journalismus verabscheute er mehr und mehr. Seine literarischen Ambitionen hatten sich nicht erfüllt. Er konnte nichts Großes mehr erwarten. Mit einem Wort: Er war fertig mit dem Leben.
    Bierces literarischer Ruhm beruht heute auf seinem "Devil’s Dictionary", zwei Sammlungen von Kurzgeschichten: "Tales of Soldiers and Civilians" (1891) und "Can Such Things Be?" (1893) und seinen Berichten über den Bürgerkrieg, von denen einige (zum Beispiel "What I Saw of Shiloh") zum Besten gehört, was er geschrieben hat und auch heute noch mit Interesse und Gewinn gelesen werden können.
    Bierce war der einzige bedeutende amerikanische Schriftsteller, der den Bürgerkrieg von Anfang bis Ende als aktiver Soldat mitgemacht hat. Walt Whitman und Herman Melville hatten zwar auch eigene Erfahrungen mit dem Krieg gemacht, aber er spielt in ihrem Werk nur eine untergeordnete Rolle. Der Autor des wohl bedeutendsten amerikanischen Bürgerkriegsromans: "The Red Badge of Courage, "Stephen Crane, konnte dagegen auf keinerlei persönliche Erfahrungen mit dem Bürgerkrieg zurückgreifen, da er erst 1871 geboren wurde. Bierces Bürgerkriegsgeschichten haben selbst da, wo man ihnen eine besondere literarische Qualität absprechen muss, immer etwas spürbar Authentisches. In seinen Berichten über den Bürgerkrieg, etwa "What I saw at Shiloh", schildert er das grauenvolle Geschehen aus der Perspektive von unmittelbar Beteiligten. Dabei verzichtet er auf allgemeine historische Betrachtungen oder Wertungen und konzentriert sich voll auf das konkrete Geschehen. Für Bierce war nicht der Krieg böse, sondern der Mensch, und folglich war der Krieg der dem Menschen angemessene Zeitvertreib.