Das Gemälde "Küchenszene mit Christus im Haus von Maria und Martha" von Diego Velázquez können Sie sich hier ansehen.
Mit kräftiger Hand zerstößt eine junge, bäuerliche Magd Knoblauch in einem Mörser. Schmollend blickt sie dabei auf den Betrachter. Auf dem Küchentisch neben ihr stehen ein Teller mit vier Fischen, ein weiterer Teller mit zwei Eiern und einem Löffel, ein dunkelglasierter Krug. Vor dem Mörser liegen zwei Knoblauchknollen, einige lose Zehen sowie eine verschrumpelte Peperoni.
Eine Szene aus dem Alltagsleben. 1618 hat der noch junge Diego Velázquez diese einfache Küchenszene festgehalten. Später wird er der Hofmaler Philipps IV. - und der bedeutendste Maler des spanischen Barocks.
In dunklen Erdtönen ist das Ganze gemalt. Nur die silbrigen Fischleiber, das Weiß der Eierschale und des Knoblauchs leuchten dem Betrachter hell entgegen.
Küchenszene - ein populäres Genre
"Bodegónes" wurden solche Stillleben genannt - abgeleitet von "bodegón", Schenke, einfaches Gasthaus. Es handelte sich um ein aus Nordeuropa und Italien eingeführtes Genre. Da die Niederlande damals zu Spanien gehörten, erlangten vor allem die niederländischen Küchen-Szenen und Stillleben große Beliebtheit.
Ein populäres Genre. Zugleich tut sich auf dem Bild etwas Ungewöhnliches auf. Ein fenstergroßer Durchblick rechts hinten in der Küchenwand öffnet sich auf einen fernen, hellen Raum. Eine Gruppe von drei Personen ist dort zu sehen - gleich einem Bild im Bild: Links sitzt ein junger Mann in einem Armsessel. Die linke Hand hat er zum Sprechen leicht angehoben. Zu seinen Füßen hockt eine junge Frau. Tief versunken blickt sie auf den Sprechenden. Rechts hinter ihr steht eine ältere Frau - mit mahnender Gebärde.
"Küchenszene mit Christus im Haus von Maria und Martha" lautet der Titel, den Velázquez seinem Bild gegeben hat. Der Historiker John H. Elliott:
"Seine Gemälde wecken mit ungewöhnlichen Kompositionen unsere Neugier. Bei der 'Küchenszene mit Christus im Haus von Maria und Martha' möchten wir wissen, wie sich die Küchenszene, der im Vordergrund so viel Gewicht gegeben wird, zu der winzigen Wiedergabe der biblischen Szene dahinter verhält."
Maria und Martha - Anhängerinnen Jesu
Die dargestellte Szene gibt eine Geschichte aus dem Lukasevangelium wieder. Sie handelt von den Schwestern Maria und Martha, beide waren Anhängerinnen Jesu. Lukas erzählt:
"Jesus kam in ein Dorf. Eine Frau namens Martha nahm ihn in ihr Haus auf. Sie hatte eine Schwester namens Maria. Diese setzte sich zu Füßen des Herrn und lauschte seinem Wort. Martha aber war durch vielerlei Dienste beansprucht; sie trat hinzu und sagte: Herr, macht es dir nichts, dass meine Schwester mir die Bedienung allein überlässt? Sag ihr doch, dass sie mir helfen soll."
Die Antwort Jesu wird eine lange Auslegungsgeschichte nach sich ziehen. Bei Lukas selbst heißt es weiter:
Die Antwort Jesu wird eine lange Auslegungsgeschichte nach sich ziehen. Bei Lukas selbst heißt es weiter:
"Der Herr antwortete ihr und sprach: Martha, Martha, du sorgst und beunruhigst dich um viele Dinge. Doch weniges ist notwendig, nur eines. Maria hat den guten Teil gewählt, der wird ihr nicht genommen werden."
In der Vulgata, der lateinischen Bibelübersetzung, ist sogar vom "besten Teil" - "optimam partem" - die Rede. Während Maria, die andächtig den Worten Jesu lauscht, für den guten beziehungsweise besten Teil steht, hat ihre Schwester Martha, die für das leibliche Wohl ihres Gastes sorgt, anscheinend den schlechteren Teil gewählt.
Vielleicht hat der Maler deshalb die andächtig lauschende Maria ins Zentrum der biblischen Szene platziert, während die schmollende junge Magd im Vordergrund bei ihrer Küchentätigkeit dunkel zu ahnen scheint: Auch sie ist keineswegs für "den guten Teil" ausersehen.
Bíos theoretikós und praktikós - der antike Ursprung
Eine tätige und eine betrachtende Lebensform zu unterscheiden, ist antiken Ursprungs. So bezeichnet Aristoteles das Leben, das sich in geistiger Konzentration der Betrachtung - der "theoría" - widmet, als "bíos theoretikós". Und dasjenige Leben, das durch Handeln und praktische Tüchtigkeit geprägt ist, als "bíos praktikós".
Während es in der "theoría" um die Betrachtung des höchsten und ewig Seienden geht, hat das praktische Leben vor allem mit wechselnden Handlungsanforderungen und vielfältigen Lebenslagen zu tun. Der Philosoph Gerhard Huber:
"Von diesem metaphysischen Ansatz her ist die Rangordnung zwischen theoretischer und praktischer Vernunft eindeutig vorgezeichnet. So wie das ewig Seiende als Göttliches über dem zeitlichen Wandel des Werdenden und Vergehenden steht, so ist das theoretische Erkennen der praktischen Einsicht übergeordnet."
Früh ist diese philosophische Unterscheidung von christlichen Denkern aufgegriffen worden. Früh hat man dafür auf die Maria-und-Martha-Geschichte bei Lukas zurückgegriffen. So erklärt Origenes, ein Kirchenvater der christlichen Spätantike, im 3. Jahrhundert:
"Maria ist Sinnbild des betrachtenden Lebens, Martha des tätigen Lebens."
Dazu der Theologe Dietmar Mieth:
"Man fand in der Bibel in Parallelfiguren greifbare Vorbilder des aktiven bzw. kontemplativen Lebens in Maria und Martha. Da schon die Philosophen die Theorie der Praxis vorordneten, nimmt es nicht Wunder, wenn diese Position als eine spirituelle Überlegenheit der Kontemplation und der mit ihr verbundenen Lebensform verstanden wurde."
Auch Augustinus schließt sich dem an. Zwar habe Martha keineswegs einen schlechten Teil gewählt, Maria aber den besseren. Statt sich um viele Dinge zu sorgen, beschäftige sie sich mit dem Einen. Die Vielfalt der Tätigkeiten jedoch vergehe, und nur das Eine bleibt. In seiner Auslegung der Lukasstelle erklärt Augustinus:
"Höre Martha, von dir wird dereinst die Last der Not genommen; ewig ist die Süßigkeit der Wahrheit."
Und nur das kontemplative Leben gelangt bereits im irdischen Dasein zu einer Vorwegnahme dieses Endzustandes. Im Hochmittelalter wird Thomas von Aquin, der Hauptvertreter der Scholastik, in seiner "Summa Theologica" mit acht aristotelischen Gründen noch einmal bekräftigen, ...
"(...) dass das beschauliche Leben schlechthin besser ist als das tätige Leben."
Die Umkehrung - der banale Alltag im Vordergrund
Dunkel klingt all dies für die junge Magd. Sie weiß lediglich, dass die Gewürze, die Eier, die Fische darauf warten, zu einem Mahl zubereitet zu werden. Und dass sie es ist, die dafür sorgen muss. Verdrossen blickt sie daher von ihrer Arbeit auf und aus dem Bild heraus. Als suche ihre bedrückte Seele nach einem Ausweg.
Als der junge Diego Velázquez 1618 sein Bild schuf, hatte er ein Jahr zuvor seine Meisterprüfung abgelegt und sich als Maler selbständig gemacht. Eigenständigkeit bewies er ebenso in der Gestaltung seiner "Küchenszene mit Christus im Haus von Maria und Martha". Der Historiker John H. Elliott:
"Bezeichnend ist, dass er eine Vorliebe für umgekehrte Kompositionen hatte, die zeitgenössische und biblische Szenen kombinieren, indem er das Hauptthema in den Hintergrund stellte."
Der Geist der Gegenreformation
Weshalb aber diese Umkehrung, die den banalen Alltag einer Küchenmagd in den Vordergrund stellt? Wo doch die Rangordnung von "vita activa" und "vita contemplativa" seit langem eindeutig festgelegt scheint. Tatsächlich jedoch ist diese Rangordnung keineswegs unbestritten geblieben. Der Theologe Dietmar Mieth weist darauf hin, dass das Lukasevangelium anders zu verstehen und das aktive Leben keineswegs dem kontemplativen Leben unterzuordnen sei.
"Das ist erst von der Exegese unserer Zeit erkannt worden. Danach hat die Bibelstelle ihren 'Sitz im Leben' in der Zeit der Wanderpredigten, und sie sollte betonen, dass das Hören des Wortes unter dem Gesichtspunkt des hereinbrechenden Gottesreiches wichtiger ist als die Organisation des Tisches."
Was aber bedeutet dies viele Jahrhunderte später für die junge Magd in ihrer Küche? Erscheinen deshalb die Personen in jenem anderen Raum so klein und wie in eine unendliche Ferne gerückt? Und sind deshalb die Dinge vor ihr auf dem Tisch so groß und wirklichkeitsbeherrschend?
Doch sie ist nicht alleine dort. Links hinter ihr steht eine alte Frau. Sie schaut der schmollenden Magd über die Schulter. Mit dem rechten Zeigefinger deutet sie auf deren Küchenpflichten. Oder weist ihr Finger auf die ferne Bibelszene im Hintergrund?
Der Maler lässt es in der Schwebe. In der Schwebe bleibt ebenso, ob die Geste mahnend oder ermunternd gemeint ist.
Der Maler lässt es in der Schwebe. In der Schwebe bleibt ebenso, ob die Geste mahnend oder ermunternd gemeint ist.
Christus zwischen Kochtöpfen
Der 1599 geborene Diego Velázquez wuchs in einer Zeit auf, die vom Geist der Gegenreformation sowie der innerkatholischen Reformbewegung geprägt war. In Spaniens Kirche und besonders in den Klöstern war der katholische Reformgeist bereits seit Mitte des 15. Jahrhunderts lebendig. Religiosität und Glauben sollten stärker im alltäglich gelebten Leben der Menschen verankert werden. Und hatte nicht auch die große Ordensgründerin Teresa von Ávila mit Blick auf die einfachen Tätigkeiten, die selbst in einem Kloster anfallen, aufmunternd geschrieben:
"Also, meine Töchter, auf! Den Kopf nicht hängen lassen! Wenn ihr in der Küche geschäftig tätig seid, wisset, dass der Herr auch zwischen Kochtöpfen wandelt, um euch innerlich und äußerlich zu helfen."
Es war allerdings ein deutscher Dominikanermönch und Theologe aus dem späten Mittelalter, der schon zuvor die herkömmliche Rangordnung von "vita activa" und "vita contemplativa" erschüttert hatte - Meister Eckhart mit seiner kühnen Auslegung der Maria-und-Martha-Geschichte. In einer um 1320 in deutscher Sprache gehaltenen Predigt greift er die Worte Marthas aus dem Lukasevangelium auf, deutet sie aber gegen den Strich der Tradition:
"Martha sagt: Herr, sag ihr, dass sie mir helfen soll. Martha sagte das nicht aus Ärger, sondern aus liebevollem Wohlwollen. Oder aus liebenswürdiger Neckerei."
Erklärt Meister Eckhart seiner erstaunten Zuhörerschaft und fährt fort:
"Wie das? – Merket auf! Martha sah, dass Maria umfangen war von Wonne und ihre Seele volles Genügen hatte. Martha kannte Marien besser als Maria Marthen, denn dazu hatte sie lange genug gelebt, und das Leben gibt das edelste Erkennen. Wir haben ein wenig den Verdacht, dass die liebe Maria mehr um des süßen Gefühls willen als wegen des Gewinns an Einsichten dagesessen sei."
Mit freier Seele
Wie viele fromme Menschen neigt auch Maria dazu, an Gottes Wort zu hängen und in kontemplativem Genuss zu schwelgen. Anders Martha: Sie steht aktiv sorgend im Leben, ohne dabei jedoch in der Sorge aufzugehen. Denn Martha wirkt aus langer Lebenserfahrung und mit ihrem ganzen Wesen unmittelbar aus Gott, so Eckhart. Aus diesem Grund könne sie ruhig und gelassen tätig sein.
"Martha stand in wohlgefestigter Tugend, mit freier Seele. Daher wünschte sie, dass ihre Schwester dies auch erreiche. Deshalb sprach sie: Herr, heiß sie aufstehen!, als hätte sie sagen wollen: Herr, mir wäre lieber, sie säße nicht da in Verzückung, sondern lernte zu leben, damit sie das Leben wesenhaft besäße. Heiß sie aufstehen, damit sie vollkommen werde!"
Dazu der Theologe Dietmar Mieth:
"Die Radikalität, die diesen Durchbruch durch die eingefahrene Frömmigkeitshierarchie damals auszeichnete, wird uns heute kaum bewusst. Innerlichkeit war damals wie heute für viele eine Fluchtzone statt, wie Meister Eckhart lehrt, die Quelle der Emanzipation des Menschen - nicht aus seiner Welt, sondern in seine Welt."
Auch aus den Zügen der alten Frau in Velázquez' "Küchenszene mit Christus im Haus von Maria und Martha" spricht Lebenserfahrung, Lebensweisheit. Als hätte der Maler in dieser Greisin vorne in der Küche die Martha aus der Sicht von Meister Eckhart porträtieren wollen.
Ihr greises Haar ist von einem weißen Schleiertuch bedeckt. Die Stirn, Augen- und Mundpartie sind von tiefen Falten durchzogen. Ein leises Schmunzeln nistet in ihren Mund- und Augenwinkeln, wie sie über die Schulter der jungen Magd schaut. Als wollte sie ihr sagen: "Lass ab von deinem Unmut und sieh, in welchem Glanz die Dinge ganz nah vor dir liegen – die silbrigen Leiber der Fische, das schimmernd weiße Oval der Eier, der helle Knoblauch."
Auf dem Weg in die Neuzeit
Wozu also der Blick aus dem Bild heraus und in ein unbestimmtes, fernes Irgendwo? Und hatte nicht auch Meister Eckhart betont:
"An deinem Unfrieden bist nur du selber schuld. Darum fang zuerst bei dir selber an. Die Leute sollten nicht so viel darüber nachdenken, was zu tun sei. Heiligkeit soll auf dem Sein gegründet sein. Besser wäre es, wenn sie überdächten, was sie sind. Dort wo wir wesentlich sind in unserem Sein, da heiligen wir unser gesamtes Tun, sei es nun Essen, Schlafen, Wachen oder was immer sonst."
Mut zum eigenen Verstand
Deshalb bezeichnet sich Eckhart auch als "lebmeister". Als ein unterweisender Praktiker im Sinne einer Kunst der Verlebendigung und Lebensförderung, einer "ars vivificandi". Diese Kunst aber führt nicht in eine "vita contemplativa", sondern macht frei für ein selbstgelassenes und zugleich gottgelassenes Wirken in der Welt. Fang also zuerst bei dir selbst an. Nicht von ungefähr bezieht sich der Dominikanermönch und Theologe damit auf eine Tradition, die mit dem delphischen Imperativ "gnothí seautón" ihren Anfang genommen hatte. Mit dem "Erkenne dich selbst" - dem Leitspruch philosophischen Denkens seit je.
Auch darauf mag der ausgestreckte Zeigefinger der alten Frau auf dem Bild von Velázquez hindeuten. Auf diese Aufforderung, die noch zu allen Zeiten an die Menschen ergangen ist - auch an die junge Küchenmagd.
"Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!"
Wird es Ende des 18. Jahrhunderts bei Immanuel Kant auf dem Boden der Neuzeit heißen. Als ein Appell an den Menschen, sich auf sich selbst und auf das eigene Denkvermögen zu besinnen, um aus langer, selbstverschuldeter Unmündigkeit herauszutreten.
"Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen."
Noch spricht anderes aus den Zügen der jungen Magd. Wie ein trüber Schleier hat sich ihr bedrückter Seelenzustand über die vollen Wangen gelegt. Verloren der Blick, mit dem sie aus dem Bild herausschaut. Als suche sie etwas, wisse jedoch nicht was. Denn nicht auf die kleine Bibelszene im Hintergrund hat sie ihren suchenden Blick gerichtet. Er geht ins Unbestimmte, ins Offene und damit in eine mögliche Freiheit, die zu ergreifen sie noch nicht die Entschlusskraft und den Mut gefunden hat.
Gleichwohl hat Velázquez sie groß in den Vordergrund seines Bildes gerückt. Sie und die alte Frau an ihrer Seite. Denn eine bloße Küchenszene, ein schlichtes "bodegón", ist sein Werk längst nicht mehr. Der Kunsthistoriker Kurt Gerstenberg:
"Schlagend die Unmittelbarkeit der beiden augennahen Gestalten in der Küche. Der Zusammenhang mit niederländischen Küchenstücken ist kaum noch spürbar, so sehr ist alles aus neuer Grundeinstellung gesehen. Das Einmalige im Stil des Velázquez ist die innere Größe, die er seinen Figuren mitteilt."
Zwar wählt der Maler mit seiner Anfang des 17. Jahrhunderts entstandenen "Küchenszene mit Christus im Haus von Maria und Martha" ein traditionelles biblisches Thema. Doch er dreht das Bekannte in eine gänzlich neue Sicht. Als wollte er mit den beiden einfachen Frauen aus dem Volk zugleich jene neuzeitliche Herausforderung mit ins Bild rücken: das "Habe Mut!", das sich zu seiner Zeit bereits am Horizont der Geschichte ankündigt. Oder mit den Worten der älteren Martha gesprochen, die Meister Eckhart ihr mit Blick auf ihre jüngere Schwester in den Mund gelegt hatte:
"Mir wäre lieber, sie lernte zu leben, damit sie das Leben wesenhaft besäße. Heiß sie aufstehen, damit sie vollkommen werde."