Es ist schwarz – einfach nur schwarz und viereckig – schwarz und viereckig auf weißem Grund – und sonst nichts.
Das "Schwarze Quadrat" zählt zu den Ikonen der modernen Malerei. Ein Viereck von nicht ganz 80 x 80 Zentimetern. Es ist kein exaktes Quadrat – seine Außenkanten verlaufen nicht genau parallel zum Bildrand. 1915 stellt Malewitsch es der Öffentlichkeit vor, zusammen mit Werken von 14 anderen Künstlern in einer Galerie in St. Petersburg, dem damaligen Petrograd.
Programmatisch ist schon die Hängung: Malewitsch platziert das "Schwarze Quadrat" im sog. "schönen Winkel", d.h. übereck in Schrägposition unterhalb der Decke. Also dort, wo traditionellerweise in einer russischen Wohnstube die Ikone angebracht ist. Selbstbewusst erklärt er:
"Ich habe die nackte Ikone meiner Zeit gemalt."
Ballast des Gegenständlichen
Wie zu erwarten, löst sein Bild blankes Unverständnis aus. Malewitsch selbst notiert dazu:
"Als ich in meinem verzweifelten Bestreben, die Kunst von dem Ballast des Gegenständlichen zu befreien, zu der Form des Quadrats flüchtete, seufzte die Kritik und mit ihr die Gesellschaft: "Alles, was wir geliebt haben, ist verloren gegangen. Wir sind in einer Wüste!""
Jene berühmte Gruppen-Ausstellung, in der das "Schwarze Quadrat" von Malewitsch erstmals zu sehen ist, trägt den Titel: "0, 10". Lediglich zehn Künstler sollten ursprünglich teilnehmen. Die Null dagegen bezeichnet den Ausgangspunkt von Malewitschs Malerei: Etwas Neues, etwas Anderes soll beginnen. Dazu schreibt der Philosoph Wolfram Hogrebe:
"Malewitsch wollte die Kunst nicht nur aus der Knechtschaft der Gegenständlichkeit befreien, sondern aus jeder Dienststellung. Der Künstler war weder feudaler Hofkünstler, noch bürgerlicher Salonkünstler, auch nicht politischer Gesellschaftskünstler."
Malewitsch selbst erlebt diesen Akt der Befreiung so:
"Der Aufstieg zu den gegenstandslosen Höhen der Kunst ist mühselig und voller Qualen. Auch mich erfüllte eine Art Scheu bis zur Angst, mich von der Bilder-, Willens- und Vorstellungswelt zu trennen, in der ich lebte und die ich für die Wirklichkeit hielt."
Tabula rasa
Ein Jahr zuvor – 1914: Malewitsch hatte gerade ein Gemälde so gut wie beendet, als er sich entschließt, das ganze Bild schwarz zu übermalen. Es ist nicht bekannt, was auf dem Bild zu sehen war, bevor er alles mit seinem Schwarz übermalt. Eins jedoch fällt auf, so der Kunsthistoriker Horst Bredekamp:
"Da Malewitsch das Bild übermalte, noch bevor es getrocknet war, musste er wissen, dass sich ein Craquelé einstellen würde. Auf Grund von Materialuntersuchungen ist nahegelegt worden, dass die feinen Risse, die sich in dem Dunkel der schwarzen Farbe bald abzeichneten, von Beginn an angelegt waren."
Riskieren wir einen zweiten Blick und schauen noch einmal auf das "Schwarze Quadrat":
Ja, es ist schwarz – einfach nur schwarz. Aber schwindet beim erneuten Hinsehen nicht doch der Eindruck völliger Schwärze? Seltsame hauchdünne Linien sind jetzt zu erkennen, die die schwarze Fläche wie ein feines, weißes Netz überziehen.
Von Malewitsch selbst gibt es dazu keinen Kommentar. Doch beabsichtigt oder nicht – eins jedenfalls ist auf diese Weise in seinem "Schwarzen Quadrat" erhalten geblieben: Die schöpferische Geste eines Künstlers, der – einem radikalen Bilderstürmer gleich – sich daran macht, alles Bildhafte vor ihm zu negieren und auf der "tabula rasa" seiner Leinwand einen Neuanfang zu wagen.
Kasimir Malewitsch: "Das schwarze Quadrat ist der Keim aller Möglichkeiten."
"Es werde Licht!"
Vielleicht hat es deshalb den Anschein, als würden die feinen Risse Licht durchlassen und als würde allmählich Helligkeit durch Dunkelheit und Schwärze hindurchbrechen – zuerst nur ein wenig, doch dann weiter und immer weiter.
"Und so ins Unendliche – Et sic in infinitum."
Ins Unendliche… Diese Worte stammen nicht von Malewitsch, aber sie stehen an den vier Seiten eines anderen schwarzen Quadrats. Es handelt sich um einen Kupferstich aus dem Jahr 1617. Als Bild für den dunklen Urstoff sollte das schwarze Viereck – es ist ebenfalls leicht lichtdurchlässig – den Beginn der Schöpfung aus dem Nichts illustrieren.
Geschaffen wurde der Kupferstich für ein Traktat über die Entstehung des Kosmos, verfasst von dem englischen Theosophen und Arzt Robert Fludd. Denn heißt es nicht bereits im ersten Schöpfungsbericht der "Genesis":
"Finsternis lag über dem Abgrund. Da sprach Gott: "Es werde Licht!" Und es ward Licht. Gott sah, dass das Licht gut war, und Gott schied zwischen dem Licht und der Finsternis."
1878 wird Kasimir Malewitsch als Sohn polnischer Eltern in der Ukraine, in Kiew, geboren. Er wächst mit seinen fünf Geschwistern in bescheidenen Verhältnissen heran. Die Mutter ist Hausfrau, sein Vater arbeitet als Vorarbeiter in einer Zuckerfabrik.
Doch schon als Kind scheinen die Höhen es ihm angetan zu haben. So entdeckt er das Malen von der Höhe eines Daches aus. In seinen "Autobiographischen Notizen" erzählt er:
"Aus irgendeinem Grunde fiel meine Aufmerksamkeit auf den Maler, der das Dach anstrich und ein Grün mischte wie die Bäume, wie der Himmel. Das brachte mich auf den Gedanken, dass man mit dieser Farbe Baum und Himmel wiedergeben könne. Während der Mittagspause stahl ich mich aufs Dach und begann zu malen. Es kam allerdings nichts dabei heraus."
Alles Gegenständliche tilgen
Mehr als dreißig Jahre braucht es, bis er als Künstler dahin gelangt, die Bäume, den Himmel, das Grün, das Blau, alles Gegenständliche überhaupt aus seiner Kunst zu tilgen. Denn wozu soll es gut sein, diese Dinge noch einmal auf die Leinwand zu bringen? Mehr als dreißig Jahre, bis er die gegenstandslosen Höhen der Kunst erklommen hat und von dort der Gesellschaft zuruft:
"Ich habe das blaue Unterfutter des Himmels überwunden, ich habe es heruntergerissen und die Farben in den daraus gemachten Sack gesteckt und ihn zugeknotet. Fliegt! Vor uns erstreckt sich die Unendlichkeit."
Der Kunsthistoriker Werner Haftmann:
"Dieses veränderte Denken kam aus einer existenziellen Erfahrung, die die schöpferische Unruhe des 20. Jahrhunderts begründet. Es ist die Erfahrung, dass die uns sichtbar umstellende, praktische, einzig auf den Menschen hin orientierte Welt nur eine mögliche Figuration einer viel umfassenderen Wahrheit und Wirklichkeit ist."
Jenseits der Gegenständlichkeit zur Wahrheit
Malewitsch ist keineswegs der erste, den es in solche Höhen treibt. Ist nicht der erste, der versucht, das Sichtbare zu überschreiten und jenseits aller Gegenständlichkeit zu einer umfassenderen Wahrheit zu gelangen. So findet sich Ende des 18. Jahrhunderts bei dem englischen Maler, Dichter und Visionär William Blake in seiner Schrift "Die Hochzeit von Himmel und Hölle" die Zeile:
"Würden die Pforten der Wahrnehmung geläutert, würde alles den Menschen erscheinen, wie es ist – unendlich."
Und weiter heißt es: "Denn der Mensch hat sich selbst eingeschlossen und sieht alle Dinge durch die engen Spalten seiner Höhle."
Blake spielt damit an auf Platons "Höhlengleichnis" aus dem Dialog "Der Staat". Platon hatte in seinem Gleichnis beschrieben, dass die Menschen in der Welt wie in einer Höhle lebten, in die kaum Licht hineindringt. Von Kindheit an seien sie daran gewöhnt und hielten das, was sie wahrnähmen, und ebenso die Vorstellungen, die sie sich von allem machten, für die einzige Wirklichkeit und Wahrheit. Und schon Platon wusste, wie mühsam es ist, einen der Höhlenbewohner hinauf ans Licht zu bringen:
"Wenn man nun einen von ihnen gewaltsam den holprigen und steilen Aufgang aufwärts schleppt, würde er sich nicht dagegen sträuben, und wenn er an das Licht käme, würde er dann nicht, geblendet von alledem, was ihm jetzt als das Wahre angegeben wird, nichts, aber auch gar nichts zu erkennen vermögen?"
"Suprematismus"
Doch Malewitsch geht es nicht um eine platonische Ideenschau. "Wir sind in einer Wüste!" hatten Kritik und Gesellschaft gestöhnt, als sie vor dem "schwarzen Quadrat" standen, gleichsam geblendet vom blanken Nichts, wohin Malewitsch sie geführt hat. Eins aber hatten sie nicht wahrgenommen:
"Die Wüste ist erfüllt vom Geiste der gegenstandslosen Empfindung, der alles durchdringt."
"Suprematismus" nennt Malewitsch seine neue Kunst. Das Wort stammt ab vom lateinischen "supremus", der "Höchste", und verweist zugleich auf den Begriff der "Suprematie" – auf "Oberhoheit" und "Vormachtstellung"."
"Unter Suprematismus verstehe ich die Suprematie der reinen Empfindung. Das beglückende Gefühl der befreienden Gegenstandslosigkeit riss mich fort in die Wüste, wo nichts als die Empfindung Tatsächlichkeit ist. Und so steht die neue Kunst da als Ausdruck reiner Empfindung, die keine praktischen Werte, keine Ideen, kein 'gelobtes Land' sucht."
Schauen wir also noch einmal auf das "Schwarze Quadrat".
Undurchdringlich schwarz erschien es zuerst. Doch dann verlor es seine Undurchdringlichkeit, und man sah ein wenig Licht durch die Farbe hindurchbrechen. Licht, das jetzt auch die Wahrnehmung zu läutern beginnt – bis nichts als reine Empfindung übrigbleibt.
Die Farbe dafür aber ist – weiß.
Malewitsch: "Alles kommt zum weißen Zustand."
Wie Freunde und Verwandte des Künstlers berichten, liebt Malewitsch die Musik. Liebt es, den Klängen der Klaviersonaten von Beethoven zu lauschen, aber ebenso den neuen, zeitgenössischen Musikklängen eines Prokofjew. Womöglich kommt für ihn die gegenstandslose Tonkunst dem am nächsten, wohin er mit seiner gegenstandslosen Malkunst gelangen will.
"Weißes Quadrat auf weißem Grund"
1917 malt Malewitsch sein erstes "Weißes Quadrat auf weißem Grund". Das neue Bild zeigt ein etwas schräg zum rechten Bildrand hin gekipptes, weißes Viereck auf weißer Leinwand.
Zwei Weiße aufeinander – unterschieden nur durch eine leise Abschattung von Weiß. Wie schwerelos scheint das weiße Quadrat über dem weißen Grund zu schweben. Wie ein helles Fensterviereck über einer horizontlosen, lichten Unendlichkeit.
Oder in den Worten von Kasimir Malewitsch:
"Die Leinwand bildet einen weißen Raum. Der blaue Raum ergibt keine Vorstellung des Unendlichen. Die Sichtstrahlen stoßen quasi an eine Kuppel und können nicht ins Unendliche dringen. Das unendliche Weiß lässt den Sichtstrahl laufen, ohne dass er an eine Barriere stößt."
Dafür hatte Malewitsch nicht nur das "blaue Unterfutter des Himmels" überwinden müssen, sondern hatte ebenso das "Schwarze Quadrat" hinter sich gelassen.
"Das Schwarze lässt noch immer eine Hoffnung offen für etwas zu Entdeckendes, Unbekanntes, das weiße Quadrat weist darauf hin, dass alles hell ist und aus ihm nichts hervorgeht in Gestalt eines Gegenstandes."
Werfen wir auch auf das "Weiße Quadrat auf weißem Grund" einen zweiten Blick:
Erweckt es nicht den Anschein, als könnte man durch das weiße Viereck hindurch in eine Sphäre reinen, unendlichen Lichts schauen? In ein weißes, unerschöpfliches Strömen von Licht lange bevor sich im Licht etwas abzeichnet und Farbe und Form gewinnt?
Vom Licht – vom ewigen, unerschöpflich schöpferischen Licht Gottes – spricht ebenso die religiöse Tradition, in der Malewitsch aufgewachsen ist. Durch sein polnisches Elternhaus und seine Kindheit in der Ukraine war er gleichermaßen vertraut mit dem katholischen wie dem orthodoxen Christentum. Aber auch die Gottesvorstellungen der Kirchen und Konfessionen hatte Malewitsch hinter sich gelassen.
"Gott ist nicht gestürzt"
Doch sein Bildersturz gilt lediglich den Bildern und den damit verbundenen religiösen Vorstellungen, keineswegs dem Sturz Gottes.
"Gott ist nicht gestürzt. Zerstört wird der Anschein, nicht jedoch das Wesen! Das Wesen ist unzerstörbar. Die Kunst wirft den Ballast der religiösen Ideen von sich und gelangt zu sich selbst. Ich sage zu allen: Fliegt! Wir, die Suprematisten, bahnen euch den Weg. Beeilt euch. Denn schon morgen werdet ihr uns nicht mehr erkennen."
Denn höher hinauf als bis in die bilderlos weiße Sphäre reinen Lichts kann man nicht gelangen. "Siehe, ich mache alles neu", hatte es auch in der "Apokalypse des Johannes" geheißen, wenn am Ende aller Zeiten der erste Himmel und die erste Erde nicht mehr sein werden.
Ein radikaler Neuanfang sollte es ebenfalls bei Malewitsch werden. Ein Akt zugleich der Befreiung, der Sinne und Geist läutern und die Menschen offen für eine neue Welt und Wirklichkeit machen will.
"Gegenkraft des Kommunismus"
Doch der Zeitgeist spricht eine ganz andere Sprache. Zwar wurde Malewitsch nach der Oktoberrevolution 1917 zum Vorsitzenden der Kunstabteilung des Moskauer Sowjets ernannt, aber schnell klaffen die Gräben zwischen Kunst und Politik unüberbrückbar auseinander, wie der Kunstkritiker Heiner Stachelhaus betont:
"Der Suprematismus von Malewitsch musste zur Gegenkraft des Kommunismus werden, weil er ebenfalls den neuen Menschen wollte – allerdings nicht den materialistisch funktionierenden und von der Partei gelenkten, sondern den befreiten, geistigen Menschen."
Der Absturz aus der reinen, weißen Sphäre seiner Kunst in die ideologisch eingefärbte Welt politischer Wirklichkeit erfolgt rasch. Nach dem Tod Lenins wird Malewitsch mit seinem Reformprogramm systematisch kaltgestellt. Er verliert seine Ämter, darf allerdings weiter lehren und ausstellen.
Rückkehr zu Farbe und figurativer Darstellung
1929 widmet ihm die "Staatliche Tretjakow-Galerie" in Moskau eine Retrospektive. Dort zeigt er zum ersten Mal Bilder, auf denen wieder Farbe und figurative Darstellungen zu sehen sind. 1931 schreibt Malewitsch an einen Freund:
"Ich beabsichtige, zur Malerei zurückzukehren, um symbolische Bilder zu malen. Ich versuche, ein gültiges Bild zu schaffen."
Seine Rückkehr zu Farbe und figurativer Darstellung wirft bis heute Fragen auf. Er selbst hat sich dazu nicht geäußert. Ist es das Eingeständnis seines Scheiterns? Ein Ausdruck von Resignation? Eine Verbeugung vor der Staatsmacht? Oder zieht er darin – ungebeugt – die Summe seiner künstlerischen Bestrebungen?
Zwei Jahre vor seinem Tod, 1933, – Malewitsch ist bereits an Krebs erkrankt – malt der Fünfundvierzigjährige ein rätselhaftes Selbstporträt. Der Kunsthistoriker Gilles Néret:
"Das Selbstbildnis stellt ihn in Haltung und Kleidung eines Reformators dar, was er uns mit der Geste der Hand zu verstehen gibt. Seine rechte Hand deutet die Form des abwesenden Quadrats an wie eine Hoffnung. Damit fasst er noch einmal all das zusammen, was er in die Geschichte der Malerei eingebracht hat."
Ruhig und würdig wirkt die Geste seiner leeren Hand – voller Bedeutung aber ist sie für alle, die sie zu deuten wissen. Sein ernster, fester Blick führt aus dem Bild hinaus in eine unbestimmte Ferne. Ganz unten jedoch, rechts im Bild, kaum zu sehen und winzig klein – entdeckt man das schwarze Quadrat auf weißem Grund.