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Der "Mann ohne Gesicht"

Markus Wolf, in der DDR für 33 Jahre Chef der Stasi-Spionage, danach Schriftsteller, war schon zu Lebzeiten zur Legende geworden - umstritten, respektiert, gefürchtet, geliebt und gehasst. Wenige Monate vor seinem unerwarteten Tod konnte Hans-Dieter Schütt, Feuilleton-Redakteur des Neuen Deutschland, ausführliche Gespräche mit ihm führen, in denen Wolf sein ereignisreiches Leben bilanziert hat. Eine Rezension von Karl Wilhelm Fricke über "Letzte Gespräche".

    Ein interessantes Buch - zweifellos. Die "Letzten Gespräche" mit dem langjährigen DDR-Spionagechef und Stasi-Vizeminister führte Hans-Dieter Schütt in fünf Begegnungen zwischen Juli und Oktober vorigen Jahres. Zu einem sechsten Gespräch, das bereits verabredet war, sollte es nicht mehr kommen: Markus Wolf starb letztjährig in der Nacht zum 9. November im Alter von 83 Jahren. So geriet das Buch, eigentlich Rückblick und Reflexion auf ein bewegtes, ereignisreiches Leben, zur publizistischen Hinterlassenschaft des prominenten Toten. Ein interessantes Buch, wie gesagt, wenn auch nicht frei von Verklärung und Selbstverklärung, banaler Selbstgerechtigkeit und elitärer Eitelkeit. Immerhin hilft es, den Grundwiderspruch in der Biographie von Markus Wolf aufzulösen, nämlich den Widerspruch, wie er, ein intellektueller, literarisch gebildeter, ja - auch sensibler Mensch, es dreiunddreißig Jahre lang mit sich vereinbaren konnte, einem Unterdrückungssystem zu dienen - die meiste Zeit zumal unter einem Kretin wie Erich Mielke, weiland Minister für Staatssicherheit. In seiner legendären Rede auf dem Berliner Alexanderplatz am 4. November 1989 hat sich Wolf ausdrücklich dazu bekannt:

    " ... ich kann und will natürlich nicht verschweigen, dass ich dreiunddreißig Jahre General im Ministerium für Staatssicherheit war (laute Pfiffe), und ich bekenne mich zu meiner Verantwortung für diese Tätigkeit bis zu meinem Ausscheiden vor drei Jahren aus diesem Dienst. (Beifall, Pfiffe). Wenn wir diesen Weg der Erneuerung mit Vernunft und Besonnenheit weitergehen wollen, dann muss ich mich hier dagegen wenden, dass viele Mitarbeiter dieses Ministeriums, die ich aus langen Jahren kenne, nun zu Prügelnaben der Nation gemacht werden sollen.(Laute Pfiffe)."

    In den "Letzten Gesprächen" kommt Wolf noch einmal auf jene Kundgebung zurück: Zitat:

    "Die Proteste während meines Redebeitrages waren so stark, dass ich fürchtete, mit meiner Ansprache gar nicht zu Ende zu kommen. Aber es war mein fester Entschluss, weiter zu sprechen. Was ich mir zu sagen vorgenommen hatte, wollte ich dennoch sagen. Gegen alle Pfiffe."

    Auch sein Gesprächspartner Hans-Dieter Schütt, der Interviewer, räumt seine seinerzeitige Verunsicherung auf dem Alex ein. Er habe sich als damaliger Chefredakteur der FDJ-Zeitung "Junge Welt" "sehr unwohl gefühlt". Es wäre "wie Spießrutenlauf" gewesen. Das ist nachvollziehbar. Sein Buch mit den in Frage und Antwort wiedergegebenen Gesprächen gliedert sich in fünf Kapitel, wobei er dem letzten den Text eines Vortrages voranstellt, den Wolf, mittlerweile zum Schriftsteller mutiert, in der Reihe "Berliner Lektionen" im November 1995 im hauptstädtischen Renaissance-Theater gehalten hat und der vor neun Jahren in dem Wolf'schen Sammelband "Die Kunst der Verstellung" allerdings bereits einmal veröffentlicht wurde. Es ist in der Tat ein aufschlussreicher Text insofern, als er die Konflikte ahnen lässt, mit denen Markus Wolf, sein Vater, der geächtete Jude, Kommunist und Dramatiker Friedrich Wolf sowie sein Bruder, der Filmregisseur Konrad Wolf, im sowjetischen Exil zu Lebzeiten Stalins und danach konfrontiert waren.

    "Wie konnten Menschen, die ihre Augen vor der Deformierung ihrer Ideale nicht mehr verschließen konnten, die von vielen im Namen des Sozialismus unter Stalin und später begangenen Verbrechen wussten, weiter und so lange an diese gesellschaftliche Alternative glauben?"

    Dies ist, von Wolf selber gestellt, eine politische Kernfrage. Seine Antwort: :

    "Das durch die Lebenssituation oft verengte Wirklichkeitsbild, die Abhängigkeit von fremdbestimmten Entscheidungen, die latente Bedrohung des eigenen Lebens und der Hoffnung, die Rückkehr nach Deutschland noch zu erleben, Opportunismus, Feigheit und Verrat in den eigenen Reihen, Furcht vor dem Verlust der mit der Sowjetunion verbundenen Ideale und des Glaubens daran - das alles war von den Menschen nur schweigend zu ertragen; und ein nicht geringes Maß an Verdrängung war dabei."

    Die Argumentation ist plausibel, aber überzeugt sie auch? Oder war es eher die Parteidisziplin, die gläubige Kommunisten damals und später schweigen und gehorchen ließ? In einem Gespräch mit dem Publizisten Günter Gaus hat Wolf dies 1990 jedenfalls angedeutet:

    "Diese Disziplin war unser Übel, das Übel derer, die vieles sahen, vieles anders sahen, anders machen wollten, verändern wollten und dann trotzdem vor dem Schritt zurückschreckten, der sie in Konflikt mit der Parteidisziplin, also auch mit dem Beschlossenen, mit dem Üblichen gebracht hätte."

    Eine simple Ausrede. Sie wird durch die Haltung jener Kommunisten widerlegt, die in der DDR gegen die Politik der Führung opponiert, die Widerstand geleistet haben und die dafür diskriminiert oder verfolgt wurden - von Paul Merker und Walter Janka bis Rudolf Bahro und Robert Havemann. Auch für Wolf hat sich die Frage des Widerstands gestellt. Seine Erwiderung auf einen entsprechenden Vorhalt von Günter Gaus:

    "Wenn Sie mich jetzt fragen, welchen Widerstand hätte Markus Wolf leisten müssen, und wie hätte er aussehen müssen, dann hätte ich schon Schwierigkeiten, darauf eine knappe und schlüssige Antwort zu geben. Allein, glaube ich nicht. Mit anderen - sicher ja. ( ... ) Man konnte reden, mit wem man wollte, bis in die oberen Etagen hinein - ich möchte einige ausnehmen auf der allerhöchsten Etage -, und alle hatten diese Meinung. Bloß getan hat sich nichts. Auch bei denen, die etwas hätten tun müssen. Da schließe ich mich ein."

    Problematisch wird dieses Defizit an Zivilcourage dadurch, dass Wolf durch seine Position in der Staatssicherheit selber an der Repression Andersdenkender mitgewirkt und sich mitschuldig gemacht hat, selbst sogar noch zu einer Zeit, als er sich der kritischen Situation in der DDR und der existenziellen Krise des realen Sozialismus bewusst geworden sein will. Jedenfalls hat er das seinem Interviewer zugestanden:

    "Immer heftiger wird in mir die Frage brennen: Was hat meine Generation falsch gemacht? Gab es einen Punkt, an dem unsere Erkenntnisse, das zunehmende Wissen um das Übel des Systems, das wir so lange für den Sozialismus hielten, eine Grenze erreicht haben mussten, jenseits derer hätte gehandelt werden müssen? Wo war diese Grenze gewesen? Hätten wir, die diese Übel, diese Entartung der Führer, immer klarer erkannten, uns früher auflehnen müssen? "

    Früher auflehnen? Im Grunde genommen hat Wolf sich nie aufgelehnt, er hat sich allenfalls zurückgezogen und trat erst im Herbst '89 handelnd aus der Reserve. Umso stärker mag ihn die Einsicht in die Sinnlosigkeit seiner Arbeit als Stasi-General und Geheimdienst-Chef frustriert haben, die er in seinen letzten Dienstjahren gewinnen musste:

    "Ich hielt unsere Arbeit mehr und mehr für sinnlos. Nicht vom Ansatz oder vom Ziel her, aber wie die Politik mit den Resultaten unserer Tätigkeit, mit unseren mühsam, oft unter Gefahr erarbeiteten Informationen umging, das war deprimierend. Wir sorgten uns um die äußere Sicherheit, und die Führung ruinierte den Staat von ihnen her. Der außenpolitische Nachrichtendienst als vergeudete Kraft."

    Eine Erkenntnis, die das Nachdenken lohnt. Solche und ähnliche Äußerungen und Reflexionen sind es, die den "Letzten Gesprächen" mit Wolf zeitgeschichtlichen Aussagewert verleihen, auch seine Einschätzungen zu Walter Ulbricht, Erich Honecker und nicht zuletzt zu Erich Mielke oder zu Zeitgenossen wie Egon Bahr oder Wolfgang Leonhard. Manches, was notiert wurde, ist belanglos, anekdotenhaft, persönliche Reminiszenz, manches ist auch widersprüchlich - so wenn Wolf die gegen ihn wegen Freiheitsberaubung in Tateinheit mit Körperverletzung und Nötigung ergangene Strafe von zwei Jahren Gefängnis, die zur Bewährung ausgesetzt wurde, einerseits als "Siegerjustiz" abqualifiziert und andererseits offenbart, er hätte mit zehn Jahren Gefängnis gerechnet. Eine seiner zahlreichen Selbsttäuschungen. Mit einer Selbsttäuschung ist er auch gestorben: Er hielt das Ende des Sozialismus bis zu seinem Tode für "ein vorläufiges Ende."

    Karl Wilhelm Fricke über Markus Wolf: Letzte Gespräche. Herausgegeben von Hans-Dieter Schütt im Verlag Das Neue Berlin, 220 Seiten zum Preis von 14 Euro und 90 Cent.