Archiv


Der Mantel, der zum Schlafsack wird

2008 haben 97 Prozent der Detroiter Obama gewählt, was wohl auch damit zu tun haben dürfte, dass 80 Prozent der Bevölkerung Afroamerikaner sind. Viele von ihnen haben kein Dach über dem Kopf. Diese Not soll nun ein neues Hilfsprojekt lindern.

Von Andreas Main | 02.11.2012
    "This is the new Empower Coat."

    Julie Benac, Produktmanagerin bei "The Empowerment Plan". Sie führt jenen Mantel vor, der Obdachlosen über den Winter hilft: Es ist eine voluminöse Steppjacke.

    Auseinandergefaltet wird der Mantel zu einem warmen Schlafsack. Julie Benac trainiert rund zehn Frauen, die diesen Schlafsack-Mantel nähen. Der wird an Bedürftige verschenkt.

    "Bei Empowerment Plan geht es nicht nur um den Mantel, sondern um die Frauen, die mit uns arbeiten. Wir stellen Obdachlose ein. So schaffen sie es, sich aus ihrer Lage zu befreien. Einige haben jetzt wieder eigene Wohnungen, können sich um ihre Kinder kümmern. Ja, der Mantel ist großartig, aber die Frauen hier – die machen das möglich."

    Annis Mitchell zum Beispiel. Sie näht gerade Taschen an den Mantel, der auch ein Schlafsack ist. Sie lebt nicht mehr auf der Straße. Annis ist überzeugt, dass es sich bei diesem Projekt tatsächlich um Empowerment handelt. Empowerment – ein Wort, für das es im Deutschen kaum eine angemessene Übersetzung gibt. Selbsthilfe passt wohl noch am besten. Annis Mitchell:

    "Ja, wirklich. Das ist Empowerment! Im besten Sinne des Wortes. Diese Arbeit gibt mir die Kraft, wieder auf eigenen Beinen zu stehen – mit Stolz und Würde. Für andere etwas tun zu können - das bereichert mein Leben. Ich werde dafür bezahlt, anderen zu helfen."

    Annis war fast zwei Jahre lang obdachlos. Diese Zeit hat tiefe Spuren hinterlassen in ihrem Gesicht. Sie weiß, wie hart das Leben auf der Straße sein kann. Jeder zweiundvierzigste Detroiter ist obdachlos. Es gibt zwar überall verlassene Häuser, in denen Obdachlose Unterschlupf finden. Aber diese Ruinen haben weder Heizung noch Wasser noch Strom.

    "Der Schlafsack ist vor allem für die, die die kein Obdachlosenasyl finden oder nicht dorthin gehen wollen. Für die ist dieser Mantel. Wenn sie draußen schlafen, dann haben sie wenigstens einen guten Schlafsack. Denn viele legen sich einfach auf Pappkartons und haben weder einen Mantel noch Decken, um sich zu schützen."

    800 Schlafsäcke haben die Frauen in diesem Jahr genäht. Das funktioniert nur, weil The Empowerment Plan von einem Textil- und einem Autokonzern mit Material unterstützt wird. Auch die Miete ist niedrig. Ein Jungunternehmer, der schon einiges bewegt hat in Detroit, kaufte jüngst diesen ruinösen Gewerbebau und vermietet ihn nun zum Preis von einem halben Dollar monatlich pro Quadratmeter, inklusive Nebenkosten - aber nur an junge Kreative, die Jobs schaffen in Detroit. Eine der Mieterinnen ist die 26-jährige Veronika Scott. Sie war 21, als sie The Empowerment Plan gegründet hat. Zunächst als Non-Profit-Firma, also als gemeinnütziges Unternehmen sozusagen. Die können in den Vereinigten Staaten von Steuern befreit werden. Dutzende solcher kleiner Non-Profit-Firmen gibt es in Detroit. Sie dürfen Gewinne nicht ausschütten. Viele dieser Firmen orientieren sich an der sozialphilosophischen Idee des Kommunitarismus, die die Verantwortung des Individuums gegenüber der Gemeinschaft betont. Einige Jungunternehmer wie Veronika Scott wollen aber mittelfristig raus aus dem Status der Gemeinnützigkeit. Nur so könne das Projekt wachsen, sagt Veronika Scott. Innerhalb der näch¬sten drei Jahre will sie den Schlafsack-Mantel nicht nur verschenken, sondern auch verkaufen. Wer dann einen Mantel erwirbt, muss einen zweiten spenden. Auch eine Form des Teilens. Veronika Scott:

    "Wir wollen noch mehr Frauen eine Chance geben und einen Job. Sie qualifizieren sich hier – und das macht Detroit und seine Wirtschaft vielfältiger. Dann werden wir beweisen, dass wir auch etwas anderes produzieren können als Autos. Und dass wir neue Firmen gründen können, in denen auch Afroamerikaner Arbeit finden. Wir sollten die echten Detroiter nicht rausdrängen, sondern sie unterstützen, im Sinne des Gemeinwohls."

    Veronika Scott hat diesen Mantel, der Winterjacke und Schlafsack in einem ist, während des Studiums entwickelt. Die Designstudenten sollten etwas entwerfen, das Detroit nützt. Was brauchen Obdachlose, fragte sich Veronika Scott und ging in ein Obdachlosenasyl. Zunächst wurde sie von den Obdachlosen bestenfalls ignoriert. Veronika Scott blieb hartnäckig: Dreimal die Woche über mehrere Monate hinweg versuchte sie, mit den Leuten zu reden. Das hat sie geprägt und politisiert.

    "Dass wir diesen Mantel verschenken und ihn verteilen an die, die auf der Straße leben, also dieser Ansatz des Teilens ist gut, aber ich will mehr. Mir geht es auch um soziale Gerechtigkeit. Wenn wir diesen Mantel später wirklich verkaufen – also auch an Reiche – und das Kreise zieht, dann wird jedem bewusst: Letztlich sind wir alle gleich.

    Obdachlose sind Menschen. Die haben Erfahrungen gemacht, die jeder von uns machen kann. Es gibt nicht DEN Grund, warum jemand obdachlos wird. Es gibt viele Wege dorthin. Und es macht mich ausgesprochen wütend, wenn all diese Individuen über einen Kamm geschoren werden."

    Mehr zum Thema:
    Die US-Wahl in den Programmen des Deutschlandradios
    Portal US-Wahl 2012
    Der Verlauf der US-Wahl - Zahlen, Daten, Fakten, Liveticker