"Heute, nur heute bin ich so schön; morgen, ach morgen, muss alles vergehen." Haben wir das noch im Ohr? Oder auch dies: "Herbst ist gekommen, Frühling ist weit – Gab es denn einmal selige Zeit?" Als ganz und gar typisch für den Autor, dem wir uns hier nähern wollen, darf auch die folgende Zeile aus dem Gedicht "Hyazinthen" gelten: "Ich habe immer, immer dein gedacht. Ich möchte schlafen, aber du musst tanzen." Fehlen darf natürlich an dieser Stelle auch nicht der Beginn seines unsterblichen Oktoberliedes: "Der Nebel steigt, es fällt das Laub, schenk ein den Wein, den holden. Wir wollen uns den grauen Tag vergolden, ja vergolden."
Das alles und noch viel mehr von seiner eingängigen Wehmuts-Lyrik gehörte einst zum Kernbestand unserer Literatur, gehört es für viele Landsleute sicher noch immer. Zumindest wer heute älter als 50 ist, wuchs noch mit diesen Werken auf, bewegte diese und ähnliche Verse in seinem Herzen. Deutsche Sehnsucht, deutsches Gemüt und deutsche Innerlichkeit. Diese ganz spezifische Gefühlskultur, die kein Volk auf der Welt in diesem Ausmaß hervorgebracht hat – das alles verbindet sich mit unserem Autor wie mit keinem zweiten. Die Rede ist – Sie haben es natürlich längst erraten – von Theodor Storm.
Theodor Storm, geboren 1817 in Husum an der schleswig-holsteinischen Westküste. Den letzten Romantiker hat man ihn genannt, und in der Tat: Mit Theodor Storm, der im Juli dieses Jahres vor 125 Jahren starb, ging eine ganze Epoche künstlerischen Ausdrucks zu Ende. Eine Epoche, in der es noch möglich war, dass ein Schriftsteller seine produktive Kraft im Grunde in den Dienst von lediglich zwei Themen stellte, die er dann aber auch in allen Facetten gestaltete, bis in die letzten, differenziertesten Verästelungen hinein. Gescheitertes Leben, gescheiterte Liebe: Das waren die beiden Themen Theodor Storms, darum drehte sich das kreative Zentrum seines Denkens, Fühlens, Schreibens. Immer wieder hat er sie gestaltet, in ihrer ganzen bedrängenden Schicksalhaftigkeit. Völlig ungebrochen. Und ohne jemals bei rationalen Erklärungsversuchen seine Zuflucht zu suchen, sieht man einmal davon ab, dass er, ganz im Stil des späten wissenschaftlichen 19. Jahrhunderts, gern auf die Erbanlagen als Schicksalsmacht verwies. Immer wieder und immer wieder unumstößlich kann Theodor Storm sagen, was er als Fazit ans Ende einer seiner berühmtesten Novellen stellte: "Es ist alles doch umsonst gewesen."
Aber wie viel Zauber, wie viel verführerische Sangbarkeit liegt in diesem "umsonst"! Thomas Mann, Storm als Norddeutscher wesensverwandt, hat diesbezüglich einmal vom "Griff an die Kehle" gesprochen, denn wer Storms Gedichte liebt, der liebt sie deshalb so sehr, weil sie ihn aufschluchzen lassen. Kein anderer deutscher Dichter bringt uns so unmittelbar zum Weinen. Bei keinem können wir uns so getröstet fühlen, wenn der Kummer uns packt über uns selbst und unsere Existenz. Ein ironischer Zeitgenosse und Kollege von Theodor Storm, der das gar nicht mochte, der vielmehr große Schwierigkeiten hatten, elegische Gefühle zuzulassen, war Theodor Fontane. Er sprach darum gern von Storms "Bibber". Aber auch er musste doch zähneknirschend anerkennen, dass Storm mit seinem Gebibber vor allem seine Wirkung auf die Damen nie verfehlte. Und dass selbst seine eigene Familie dem norddeutschen Zunftgenossen zu Füßen lag, wenn einer seiner bibbernden Texte zu Gehör gebracht wurde. Als man im Herbst 1884 bei Fontanes unter der Leselampe Storms jüngstes Erzeugnis, die Novelle "Zur Chronik von Grieshuus", laut vorlas, konnte der Mann aus Berlin dem Mann aus Husum jedenfalls berichten, er (Storm) habe seine gesamte Sippschaft wieder einmal erfolgreich "unter Tränen gesetzt".
Wer wollte leugnen, dass es nicht immer edle Tränen sind, die Storm zum Fließen brachte. Seine Gefühlsbetontheit gleitet vor allem in seinen Prosatexten immer wieder ins Rührselige, in Sentimentalität ab. Das ist nicht unbemerkt geblieben, und vor allem seit sich die deutsche Literatur mit dem Siegeszug der Moderne intellektualisiert hat, haftet dem Dichter Theodor Storm bei vielen Lesern das Verdikt vom Edelkitsch an. Dass er intellektuell nicht sonderlich ergiebig ist, bemerkte übrigens schon die Generation, die nach Theodor Storm zum Zuge kam. So behauptete etwa Franziska von Reventlow, die Königin der Schwabinger Bohème um 1900, deren Vater mit Storm sehr befreundet gewesen war, nirgends in Storms weitverzweigtem Werk finde sich auch nur eine einzige "Idee, für die man sich erwärmen kann".
Da ist es natürlich auch kein Zufall, dass Storm nicht einen einzigen Essay geschrieben hat. Nichts Analytisches, Theoretisches stammt von ihm. Nur ein einziges Mal in seinem Leben, weil er sich von einem Kollegen, den er nicht schätzte, herausgefordert fühlte, machte er sich öffentlich über Literatur Gedanken. In diesem Zusammenhang entstand dann seine nachmals berühmte Definition der Novelle als der "kleinen Schwester des Dramas". Gleichzeitig verlieh er seiner Lieblingsgattung den Ehrentitel, sie sei "die gedrängteste Form der Prosa". Aber das war’ s auch schon. So viel und ausführlich Theodor Storm sich auch mit seinen Kollegen austauschte – er kannte sie alle: Theodor Fontane und Gottfried Keller; Eduard Mörike oder Paul Heyse – so blieb es dort im Wesentlichen bei einem rein handwerklichen Fachsimpeln, was die Literatur anging. Grundsätzlichere Fragen, ästhetische Diskussionen oder gar literatursoziologische interessierten ihn nicht. Auch in dieser Hinsicht war er ein Letzter: Sein Verhältnis zur Literatur und zum Schreiben war rein praktischer Natur und dabei erstaunlich naiv. Es ging ihm immer nur um die Echtheit des Gefühls, vor allem der Gefühlserschütterung. Diese Echtheit strebte er an. Und sie gelang ihm in zwei Handvoll Gedichten, in einer Handvoll Novellen wunderbar. Viel mehr darf man jedoch nicht von ihm erwarten.
Das alles und noch viel mehr von seiner eingängigen Wehmuts-Lyrik gehörte einst zum Kernbestand unserer Literatur, gehört es für viele Landsleute sicher noch immer. Zumindest wer heute älter als 50 ist, wuchs noch mit diesen Werken auf, bewegte diese und ähnliche Verse in seinem Herzen. Deutsche Sehnsucht, deutsches Gemüt und deutsche Innerlichkeit. Diese ganz spezifische Gefühlskultur, die kein Volk auf der Welt in diesem Ausmaß hervorgebracht hat – das alles verbindet sich mit unserem Autor wie mit keinem zweiten. Die Rede ist – Sie haben es natürlich längst erraten – von Theodor Storm.
Theodor Storm, geboren 1817 in Husum an der schleswig-holsteinischen Westküste. Den letzten Romantiker hat man ihn genannt, und in der Tat: Mit Theodor Storm, der im Juli dieses Jahres vor 125 Jahren starb, ging eine ganze Epoche künstlerischen Ausdrucks zu Ende. Eine Epoche, in der es noch möglich war, dass ein Schriftsteller seine produktive Kraft im Grunde in den Dienst von lediglich zwei Themen stellte, die er dann aber auch in allen Facetten gestaltete, bis in die letzten, differenziertesten Verästelungen hinein. Gescheitertes Leben, gescheiterte Liebe: Das waren die beiden Themen Theodor Storms, darum drehte sich das kreative Zentrum seines Denkens, Fühlens, Schreibens. Immer wieder hat er sie gestaltet, in ihrer ganzen bedrängenden Schicksalhaftigkeit. Völlig ungebrochen. Und ohne jemals bei rationalen Erklärungsversuchen seine Zuflucht zu suchen, sieht man einmal davon ab, dass er, ganz im Stil des späten wissenschaftlichen 19. Jahrhunderts, gern auf die Erbanlagen als Schicksalsmacht verwies. Immer wieder und immer wieder unumstößlich kann Theodor Storm sagen, was er als Fazit ans Ende einer seiner berühmtesten Novellen stellte: "Es ist alles doch umsonst gewesen."
Aber wie viel Zauber, wie viel verführerische Sangbarkeit liegt in diesem "umsonst"! Thomas Mann, Storm als Norddeutscher wesensverwandt, hat diesbezüglich einmal vom "Griff an die Kehle" gesprochen, denn wer Storms Gedichte liebt, der liebt sie deshalb so sehr, weil sie ihn aufschluchzen lassen. Kein anderer deutscher Dichter bringt uns so unmittelbar zum Weinen. Bei keinem können wir uns so getröstet fühlen, wenn der Kummer uns packt über uns selbst und unsere Existenz. Ein ironischer Zeitgenosse und Kollege von Theodor Storm, der das gar nicht mochte, der vielmehr große Schwierigkeiten hatten, elegische Gefühle zuzulassen, war Theodor Fontane. Er sprach darum gern von Storms "Bibber". Aber auch er musste doch zähneknirschend anerkennen, dass Storm mit seinem Gebibber vor allem seine Wirkung auf die Damen nie verfehlte. Und dass selbst seine eigene Familie dem norddeutschen Zunftgenossen zu Füßen lag, wenn einer seiner bibbernden Texte zu Gehör gebracht wurde. Als man im Herbst 1884 bei Fontanes unter der Leselampe Storms jüngstes Erzeugnis, die Novelle "Zur Chronik von Grieshuus", laut vorlas, konnte der Mann aus Berlin dem Mann aus Husum jedenfalls berichten, er (Storm) habe seine gesamte Sippschaft wieder einmal erfolgreich "unter Tränen gesetzt".
Wer wollte leugnen, dass es nicht immer edle Tränen sind, die Storm zum Fließen brachte. Seine Gefühlsbetontheit gleitet vor allem in seinen Prosatexten immer wieder ins Rührselige, in Sentimentalität ab. Das ist nicht unbemerkt geblieben, und vor allem seit sich die deutsche Literatur mit dem Siegeszug der Moderne intellektualisiert hat, haftet dem Dichter Theodor Storm bei vielen Lesern das Verdikt vom Edelkitsch an. Dass er intellektuell nicht sonderlich ergiebig ist, bemerkte übrigens schon die Generation, die nach Theodor Storm zum Zuge kam. So behauptete etwa Franziska von Reventlow, die Königin der Schwabinger Bohème um 1900, deren Vater mit Storm sehr befreundet gewesen war, nirgends in Storms weitverzweigtem Werk finde sich auch nur eine einzige "Idee, für die man sich erwärmen kann".
Da ist es natürlich auch kein Zufall, dass Storm nicht einen einzigen Essay geschrieben hat. Nichts Analytisches, Theoretisches stammt von ihm. Nur ein einziges Mal in seinem Leben, weil er sich von einem Kollegen, den er nicht schätzte, herausgefordert fühlte, machte er sich öffentlich über Literatur Gedanken. In diesem Zusammenhang entstand dann seine nachmals berühmte Definition der Novelle als der "kleinen Schwester des Dramas". Gleichzeitig verlieh er seiner Lieblingsgattung den Ehrentitel, sie sei "die gedrängteste Form der Prosa". Aber das war’ s auch schon. So viel und ausführlich Theodor Storm sich auch mit seinen Kollegen austauschte – er kannte sie alle: Theodor Fontane und Gottfried Keller; Eduard Mörike oder Paul Heyse – so blieb es dort im Wesentlichen bei einem rein handwerklichen Fachsimpeln, was die Literatur anging. Grundsätzlichere Fragen, ästhetische Diskussionen oder gar literatursoziologische interessierten ihn nicht. Auch in dieser Hinsicht war er ein Letzter: Sein Verhältnis zur Literatur und zum Schreiben war rein praktischer Natur und dabei erstaunlich naiv. Es ging ihm immer nur um die Echtheit des Gefühls, vor allem der Gefühlserschütterung. Diese Echtheit strebte er an. Und sie gelang ihm in zwei Handvoll Gedichten, in einer Handvoll Novellen wunderbar. Viel mehr darf man jedoch nicht von ihm erwarten.
Die Eigenheiten der Friesen
Man kann folglich heute wohl nur ein zwiespältiges Verhältnis zu diesem Dichter haben. Und da macht Storm jüngster Biograf keine Ausnahme. Jochen Missfeldt, der es jetzt übernommen hat, nach langer Zeit einmal wieder im großen Stil das Leben des Theodor Storm zu erzählen, hat ein geradezu erfrischend kritisches Verhältnis zum Gegenstand seiner Bemühungen. Zwar ist er ein Landsmann, er wurde 1941 in Satrup, einem Dorf zwischen Schleswig und Flensburg, geboren und lebt heute in Nordfriesland. Zwar schwört er seine Leser gleich auf den allerersten Seiten seiner umfangreichen Studie in langen, von Begeisterung befeuerten Passagen auf die landschaftlichen Besonderheiten einer Region ein, die mit ihren Halligen und Deichen, mit ihren tiefen Himmeln und dramatischen Wolkenbänken auch heute noch ihren festen Platz unter den unverwechselbaren Schönheiten deutscher Landschaften behaupten kann. Aber das ist dann auch bereits alles, was der Autor an identifikatorischer Annäherung an das Objekt seiner Forschung aufbringt.
Trotzdem profitiert seine Darstellung davon, dass Missfeldt Land und Leute, die Storms Umfeld abgaben, aus eigenem Erleben kennt. Denn in Nordfriesland, wo sich heute eher noch mehr als zu Storms Zeiten Hase und Igel Gute Nacht sagen, hat sich viel von dem erhalten, was schon zu Storms Lebzeiten für seine Bewohner typisch war. Zwar ist die Heide, die in so vielen seiner Gedichte und Novellen beschrieben wird, längst nicht mehr in dem Ausmaß kennzeichnend für den spröden Charme von Schleswig-Holsteins Westküste. Aber das Gefühl, ein eigener Menschenschlag zu sein, etwas konstitutionell anderes als der Rest der deutschen Bevölkerung: Das hat sich dort oben doch durchaus als Grundgefühl erhalten. Eine gewisse Dickschädeligkeit, gepaart mit antiurbanen Affekten, dürfen gleichfalls als Erbe dieser ursprünglich von Friesen besiedelten Landstriche gelten, was übrigens schon auf den Schleswig-Holsteiner von der Ostküste, vor allem auf Leute aus Kiel, befremdlich wirkt. Seit Jahrzehnten versucht man beispielsweise, die Beamten der Hauptstadt von Schleswig-Holstein damit auf Trapp zu halten, dass man ihnen die Versetzung an die "Westküste" androht. Wer sich nicht bewährt, kommt an die Westküste, wo er dann versauern kann, ist die Überlegung, die dahinter steckt.
Eigentümlichkeit und Eigensinn des Schleswig-Holsteiners von der Westküste ist allerdings in vielen Fällen der Humus gewesen, auf dem ein unverwechselbares Werk entstand. Missfeldt weist nicht zu Unrecht auf die ungewöhnlich hohe Anzahl an bedeutenden Köpfen hin, die in den abgelegenen Flecken dort geboren wurden, zum Beispiel 1813 der Dramatiker Friedrich Hebbel in Wesselburen, 1817 der Historiker und übrigens auch erste Träger des Nobelpreises für Literatur, Theodor Mommsen, in Garding, der Mundartdichter und Lyriker Klaus Groth 1819 wiederum in Heide, um nur diese zu nennen. Auch bei ihnen war die Verbundenheit mit der Heimat groß. Aber bei keinem ging sie wohl so weit wie bei Storm, der nach elf Jahren im "preußischen Exil", wie er es nannte, mit fliegenden Fahnen 1864, nach dem siegreichen Krieg gegen Dänemark, zurück nach Husum kehrte. Hier und nach seiner Pensionierung aus dem Staatsdienst dann in Hademarschen pflegte er bis ans Lebensende seine antipreußischen Ressentiments, träumte weiterhin seinen unrealistischen Traum von einem freien, stolzen, unabhängigen Schleswig-Holstein und gefiel sich ohnehin in einer Art "instinktiver verbissener Opposition nach allen Seiten" hin, wie er es in der ihm eigenen Schärfe auszudrücken beliebte – übrigens in einem Brief an den Feuilletonisten und Urberliner Ludwig Pietsch. Denn auch das gehört zu Storms Besonderheiten: Bei aller Antipathie gegen "die Preußen" hing er doch in geradezu rührender Treue an denjenigen unter ihnen, mit denen er einmal Freundschaft geschlossen hatte.
Man hat vor allem nach 1968 Storms antipreußische Affekte seinem angeblich so ausgeprägten politischen Bewusstsein zugutehalten wollen. War er unter den Nazis für die "Blut- und Boden-Dichtung" vereinnahmt worden, so kramte man nun Storms kritische Äußerungen gegen Adel und Militär hervor, die es tatsächlich hier und da in seinen Briefen gibt. Auch dass sich Storm als Richter für die Abschaffung der Todesstrafe aussprach, wurde positiv vermerkt, jedoch unterschlagen, mit welchen Argumenten das geschah: Storm war gegen die Todesstrafe, weil er fand, man könne einem zivilisierten Menschen nicht zumuten, einen anderen abzuschlachten. Er hatte also Mitleid mit dem Henker, nicht etwa mit dem Delinquenten. Darauf muss man erst mal kommen! Insgesamt wird man jedenfalls wohl dem politischen Menschen Theodor Storm ganz gut gerecht, wenn man auch hier wieder, wie bei seinem Preußenhass, die "Friesenseele" in Rechnung stellt, die Jochen Missfeldt so sehr an ihm betont:
"Warum lässt Storm immer wieder seinem Preußenhass die Zügel schießen? Wo liegt der begraben? Das über Jahrhunderte und Generationen kultivierte Freiheits- und Unabhängigkeitsbedürfnis, das Storms Friesenseele erfüllte, kennt den Gedanken des Dienens, der in Preußen über Generationen auf seine Weise kultiviert und vom Herrscher vorgelebt wurde, nicht. Dienen bedeutet für Storm, der selber Herr und Aristokrat sein will, Unterwerfung. Inbegriff der Unterwerfung ist ihm das preußische Junkertum. Storms Preußenhass, der sich verschwommen oder abwegig äußert, lebt und arbeitet in der heidnischen Gestimmtheit seines friesischen Dickschädels. Dabei ist er – wie in der Liebe – ebenso ichsüchtig und eitel wie verrannt und anmaßend, und doch ist bei ihm alles durchwirkt mit Zweifel und Leid."
Lassen wir die Liebe noch für einen Moment beiseite – von ihr wird noch ausgiebig die Rede sein. Verweilen wir noch einen Augenblick bei Storms Aristokratismus, wie Missfeldst es nennt. Es handelt sich dabei um den Aristokratismus des Bildungsbürgers. Jawohl, Storm war, wie Mörike, mit dem er sich so gern befreundet hätte, tief verwurzelt in dieser Schicht. Er gab überhaupt viel darauf, "von Familie" zu sein. Die Vorfahren Storms saßen seit Jahrhunderten als wohlhabende Kaufleute oder eben als Bildungsbürger in Nordfriesland. Storm selber brachte es mit 25 Jahren zu einer eigenen Anwaltskanzlei. Seinen beruflichen Weg ging er vollkommen geradlinig und problemlos. Umso mehr schmerzte es ihn, dass seine drei Söhne sich so schwer taten, sich in die Arbeitsgesellschaft ihrer Zeit zu integrieren. Zu Anpassern hatte er sie aber auch nicht erzogen. Vielmehr hat er sie in seinem berühmt gewordenen Gedicht "Für meine Söhne" dazu angehalten, jene stolze Unabhängigkeit im gesellschaftlichen Umgang an den Tag zu legen, die auch der Herr Papa für sich als passend in Anspruch nahm. "Erfrischend wie Gewitter" seien "zu Zeiten", reimte er in besagtem lyrischen Verhaltenskodex für den Nachwuchs, "goldene Rücksichtslosigkeiten". Mit anderen Worten: Man kann den Zeitgenossen ruhig einmal deutlich sagen, was man von ihnen hält, man muss sich nichts bieten lassen. Und ganz wichtig war Storm auch folgende Empfehlung:
"Was du immer kannst zu werden,/Arbeit scheue nicht und Wachen;/Aber hüte deine Seele/Vor dem Karriere-Machen."
Auch hier sprach der Mann von Rang, der den sozialen Aufstieg nicht mehr nötig hatte. Sprach daraus vielleicht sogar der Absteiger?
Thomas Mann zumindest, der ja immer gern in anderen Dichtern sah, was ihn selbst ausmachte, hielt Theodor Storm für den klassischen "Vollender", für einen Spätling der eigenen Sippe, in dem sich seriöse Bodenständigkeit vergeistigt und in eine künstlerische Potenz emporentwickelt, von der es im Grunde nur noch zum Absturz kommen kann. Dieser Sicht scheint sich Storms Biograf Missfeldt anzuschießen, wenn er sinniert:
"Werk und Schaffen Theodor Storms lassen sich als der Höhepunkt einer über Generationen durch tüchtiges Kaufmannsgeschick erworbenen gesellschaftlichen Achtung und Bedeutung begreifen. Am Ende seines Lebens schafft der Künstler Storm unter der Herrschaft seines Krebsleidens und angesichts der eigenen Familientragödie sein größtes, bedeutendstes Werk, den ,Schimmelreiter’: einen Roman vom Verfall und Untergang einer Familie. Schicksalshaft und zentral steht nun der Satz aus der Novelle ,Acquis Submersus` wie eine Resümee des göttlich beseelten Erzählers Hiob, der gleichzeitig Zukunft und Vergangenheit sieht: ,Es ist alles doch umsonst gewesen’. Theodor Storm stirbt kurz nach der Vollendung seines großen Werkes, und während seine Gedichte und Erzählungen sich unter den besten der deutschen Literatur behaupten, sinkt seine Familie, sinken Frau, Kinder und Kindeskinder, ins gesellschaftliche Mittelmaß hinab. Die Storms landen in Bedeutungslosigkeit und Entbehrung, in Verruf und Unglück."
Ja, so möchte man ergänzen, sogar im frühen Tod aus Lebensunfähigkeit: Dies gilt zumindest für Storms Sorgenkind Nummer eins, den Ältesten, Hans mit Namen, der wegen seines Alkoholismus’ aus allen Stellungen flog und dessen Organismus mit nur 38 Jahren aufgab – aus Erschöpfung und aus Unwillen weiterzuleben.
Trotzdem profitiert seine Darstellung davon, dass Missfeldt Land und Leute, die Storms Umfeld abgaben, aus eigenem Erleben kennt. Denn in Nordfriesland, wo sich heute eher noch mehr als zu Storms Zeiten Hase und Igel Gute Nacht sagen, hat sich viel von dem erhalten, was schon zu Storms Lebzeiten für seine Bewohner typisch war. Zwar ist die Heide, die in so vielen seiner Gedichte und Novellen beschrieben wird, längst nicht mehr in dem Ausmaß kennzeichnend für den spröden Charme von Schleswig-Holsteins Westküste. Aber das Gefühl, ein eigener Menschenschlag zu sein, etwas konstitutionell anderes als der Rest der deutschen Bevölkerung: Das hat sich dort oben doch durchaus als Grundgefühl erhalten. Eine gewisse Dickschädeligkeit, gepaart mit antiurbanen Affekten, dürfen gleichfalls als Erbe dieser ursprünglich von Friesen besiedelten Landstriche gelten, was übrigens schon auf den Schleswig-Holsteiner von der Ostküste, vor allem auf Leute aus Kiel, befremdlich wirkt. Seit Jahrzehnten versucht man beispielsweise, die Beamten der Hauptstadt von Schleswig-Holstein damit auf Trapp zu halten, dass man ihnen die Versetzung an die "Westküste" androht. Wer sich nicht bewährt, kommt an die Westküste, wo er dann versauern kann, ist die Überlegung, die dahinter steckt.
Eigentümlichkeit und Eigensinn des Schleswig-Holsteiners von der Westküste ist allerdings in vielen Fällen der Humus gewesen, auf dem ein unverwechselbares Werk entstand. Missfeldt weist nicht zu Unrecht auf die ungewöhnlich hohe Anzahl an bedeutenden Köpfen hin, die in den abgelegenen Flecken dort geboren wurden, zum Beispiel 1813 der Dramatiker Friedrich Hebbel in Wesselburen, 1817 der Historiker und übrigens auch erste Träger des Nobelpreises für Literatur, Theodor Mommsen, in Garding, der Mundartdichter und Lyriker Klaus Groth 1819 wiederum in Heide, um nur diese zu nennen. Auch bei ihnen war die Verbundenheit mit der Heimat groß. Aber bei keinem ging sie wohl so weit wie bei Storm, der nach elf Jahren im "preußischen Exil", wie er es nannte, mit fliegenden Fahnen 1864, nach dem siegreichen Krieg gegen Dänemark, zurück nach Husum kehrte. Hier und nach seiner Pensionierung aus dem Staatsdienst dann in Hademarschen pflegte er bis ans Lebensende seine antipreußischen Ressentiments, träumte weiterhin seinen unrealistischen Traum von einem freien, stolzen, unabhängigen Schleswig-Holstein und gefiel sich ohnehin in einer Art "instinktiver verbissener Opposition nach allen Seiten" hin, wie er es in der ihm eigenen Schärfe auszudrücken beliebte – übrigens in einem Brief an den Feuilletonisten und Urberliner Ludwig Pietsch. Denn auch das gehört zu Storms Besonderheiten: Bei aller Antipathie gegen "die Preußen" hing er doch in geradezu rührender Treue an denjenigen unter ihnen, mit denen er einmal Freundschaft geschlossen hatte.
Man hat vor allem nach 1968 Storms antipreußische Affekte seinem angeblich so ausgeprägten politischen Bewusstsein zugutehalten wollen. War er unter den Nazis für die "Blut- und Boden-Dichtung" vereinnahmt worden, so kramte man nun Storms kritische Äußerungen gegen Adel und Militär hervor, die es tatsächlich hier und da in seinen Briefen gibt. Auch dass sich Storm als Richter für die Abschaffung der Todesstrafe aussprach, wurde positiv vermerkt, jedoch unterschlagen, mit welchen Argumenten das geschah: Storm war gegen die Todesstrafe, weil er fand, man könne einem zivilisierten Menschen nicht zumuten, einen anderen abzuschlachten. Er hatte also Mitleid mit dem Henker, nicht etwa mit dem Delinquenten. Darauf muss man erst mal kommen! Insgesamt wird man jedenfalls wohl dem politischen Menschen Theodor Storm ganz gut gerecht, wenn man auch hier wieder, wie bei seinem Preußenhass, die "Friesenseele" in Rechnung stellt, die Jochen Missfeldt so sehr an ihm betont:
"Warum lässt Storm immer wieder seinem Preußenhass die Zügel schießen? Wo liegt der begraben? Das über Jahrhunderte und Generationen kultivierte Freiheits- und Unabhängigkeitsbedürfnis, das Storms Friesenseele erfüllte, kennt den Gedanken des Dienens, der in Preußen über Generationen auf seine Weise kultiviert und vom Herrscher vorgelebt wurde, nicht. Dienen bedeutet für Storm, der selber Herr und Aristokrat sein will, Unterwerfung. Inbegriff der Unterwerfung ist ihm das preußische Junkertum. Storms Preußenhass, der sich verschwommen oder abwegig äußert, lebt und arbeitet in der heidnischen Gestimmtheit seines friesischen Dickschädels. Dabei ist er – wie in der Liebe – ebenso ichsüchtig und eitel wie verrannt und anmaßend, und doch ist bei ihm alles durchwirkt mit Zweifel und Leid."
Lassen wir die Liebe noch für einen Moment beiseite – von ihr wird noch ausgiebig die Rede sein. Verweilen wir noch einen Augenblick bei Storms Aristokratismus, wie Missfeldst es nennt. Es handelt sich dabei um den Aristokratismus des Bildungsbürgers. Jawohl, Storm war, wie Mörike, mit dem er sich so gern befreundet hätte, tief verwurzelt in dieser Schicht. Er gab überhaupt viel darauf, "von Familie" zu sein. Die Vorfahren Storms saßen seit Jahrhunderten als wohlhabende Kaufleute oder eben als Bildungsbürger in Nordfriesland. Storm selber brachte es mit 25 Jahren zu einer eigenen Anwaltskanzlei. Seinen beruflichen Weg ging er vollkommen geradlinig und problemlos. Umso mehr schmerzte es ihn, dass seine drei Söhne sich so schwer taten, sich in die Arbeitsgesellschaft ihrer Zeit zu integrieren. Zu Anpassern hatte er sie aber auch nicht erzogen. Vielmehr hat er sie in seinem berühmt gewordenen Gedicht "Für meine Söhne" dazu angehalten, jene stolze Unabhängigkeit im gesellschaftlichen Umgang an den Tag zu legen, die auch der Herr Papa für sich als passend in Anspruch nahm. "Erfrischend wie Gewitter" seien "zu Zeiten", reimte er in besagtem lyrischen Verhaltenskodex für den Nachwuchs, "goldene Rücksichtslosigkeiten". Mit anderen Worten: Man kann den Zeitgenossen ruhig einmal deutlich sagen, was man von ihnen hält, man muss sich nichts bieten lassen. Und ganz wichtig war Storm auch folgende Empfehlung:
"Was du immer kannst zu werden,/Arbeit scheue nicht und Wachen;/Aber hüte deine Seele/Vor dem Karriere-Machen."
Auch hier sprach der Mann von Rang, der den sozialen Aufstieg nicht mehr nötig hatte. Sprach daraus vielleicht sogar der Absteiger?
Thomas Mann zumindest, der ja immer gern in anderen Dichtern sah, was ihn selbst ausmachte, hielt Theodor Storm für den klassischen "Vollender", für einen Spätling der eigenen Sippe, in dem sich seriöse Bodenständigkeit vergeistigt und in eine künstlerische Potenz emporentwickelt, von der es im Grunde nur noch zum Absturz kommen kann. Dieser Sicht scheint sich Storms Biograf Missfeldt anzuschießen, wenn er sinniert:
"Werk und Schaffen Theodor Storms lassen sich als der Höhepunkt einer über Generationen durch tüchtiges Kaufmannsgeschick erworbenen gesellschaftlichen Achtung und Bedeutung begreifen. Am Ende seines Lebens schafft der Künstler Storm unter der Herrschaft seines Krebsleidens und angesichts der eigenen Familientragödie sein größtes, bedeutendstes Werk, den ,Schimmelreiter’: einen Roman vom Verfall und Untergang einer Familie. Schicksalshaft und zentral steht nun der Satz aus der Novelle ,Acquis Submersus` wie eine Resümee des göttlich beseelten Erzählers Hiob, der gleichzeitig Zukunft und Vergangenheit sieht: ,Es ist alles doch umsonst gewesen’. Theodor Storm stirbt kurz nach der Vollendung seines großen Werkes, und während seine Gedichte und Erzählungen sich unter den besten der deutschen Literatur behaupten, sinkt seine Familie, sinken Frau, Kinder und Kindeskinder, ins gesellschaftliche Mittelmaß hinab. Die Storms landen in Bedeutungslosigkeit und Entbehrung, in Verruf und Unglück."
Ja, so möchte man ergänzen, sogar im frühen Tod aus Lebensunfähigkeit: Dies gilt zumindest für Storms Sorgenkind Nummer eins, den Ältesten, Hans mit Namen, der wegen seines Alkoholismus’ aus allen Stellungen flog und dessen Organismus mit nur 38 Jahren aufgab – aus Erschöpfung und aus Unwillen weiterzuleben.
Storm als Familienmensch
Storm hat unter den vielen Schicksalsschlägen in seiner Familie kolossal gelitten. Er war ein höchst weichherziger Ehemann und Familienvater. Wir kennen aus der Geschichte der deutschen Literatur keinen pater familias (denn als paternalistisches Familienoberhaupt fühlte er sich durchaus), der so verständnisvolle Briefe an seine Kinder geschrieben hat. Wir kennen allerdings auch keinen, der die Geschicke seines familiären Umfelds auch so stark in sein Werk mit hineinnahm wie dieser gefühlvolle Jurist. Er wusste das sogar selber und hat gegenüber seinem Altersfreund, dem Germanisten Erich Schmidt, damit kokettiert, dass er die "Befreiung à la Goethe" pflege, also sich in jenem Sinne den Kummer von der Seele schriebe, wie es der ältere Kollege vor allem im "Werther" getan hatte.
Um unerwiderte Liebe wie in Goethes Jugendroman ging es bei Theodor Storm dabei nicht. Sondern beispielsweise um die Schwierigkeiten einer zweiten Frau, in der neuen Familie Fuß zu fassen, wenn von der ersten, verstorbenen Frau bereits ein Kind da ist. Damit machte er die Integrationsprobleme seiner zweiten Gattin zum Thema, in der Novelle "Viola Tricolor". Wie im wirklichen Leben ging diese Geschichte Storms sogar gut aus, aber die jüngere zweite Frau muss durch viel seelische Not und Pein hindurchgehen, und mit besonderer Feinfühligkeit schildert der Autor auch das Fremdeln der kleinen Tochter, die sich nicht dazu entschließen kann, die neue Mutter "Mama" zu nennen. Trotzdem hat der Text auch seine befremdliche Seite: "Entwickeln" muss sich nur die neue Frau. Der Herr Gemahl schaut zu und wartet ab; Beziehungsarbeit darf man von ihm nicht erwarten.
Noch intensiver beschäftigte den besorgten Vater aber das Drama seiner Söhne. Die Erzählung "Ein stiller Musikant" reagierte umgehend auf einen verzweifelten Brief des jüngsten Sohnes Karl, der sich zum Musiker ausbildete und dabei feststellte, dass er zu scheu und schüchtern sei, um seine Talente vor Publikum zur Geltung zu bringen. Daraus wird bei Storm – durchaus die Dimensionen erweiternd – ein origineller Beitrag zur deutschen Künstlernovelle, indem er einen Musiker erfindet, der aus "Angst vor der Welt, Angst vor dem Leben" am Ende nicht nur in der Kunst, sondern auch in seiner persönlichen Existenz scheitert. Dass diesem übersensiblen Zauderer die ganze Sympathie des Erzählers gehört, könnte zu seinen Gunsten sprechen, wenn man bedenkt, dass in der Entstehungszeit von "Ein stiller Musikant", um 1875 also, zunehmend ein soldatisch-heroisches Männerbild dominiert. Doch man stößt sich an der Rührseligkeit, die hier alles überzieht, am Hang zu dem, was Fontane das Stormsche "Bibbern" nennt. Hinzukommt die Frage, die man sich unwillkürlich stellt, wenn man die Hintergründe kennt: Wie hat dieses Vorgeführtwerden wohl auf den Sohn gewirkt?
Ganz ohne jede Frage Meisterwerke sind jedoch die beiden späten Novellen geworden, die vom Werdegang Hans Storms, des Dichters Ältestem, inspiriert sind. Das Vater-Sohn-Drama, diese ganz spezielle Dynamik, die sich ergibt, wenn ein Vater sich gegen das Verderben seines Sohnes stemmt und am Ende doch nichts dagegen ausrichten kann, wird in einer mitfühlenden Variante in der Novelle "Carsten Curator" und in einer hartherzigen, in der Novelle "Hans und Heinz Kirch", durchgespielt. Der frühere Text – "Carsten Curator" entsteht, als Hans Storm lediglich zum ersten Mal durchs Examen fällt; "Hans und Heinz Kirch" hingegen einige Jahre später, als der Unglücksrabe auch noch als Arzt gekündigt wird. Auch hier entfernt sich der Dichter wieder weit vom lebensweltlichen Ereigniskern und zielt auf etwas Größeres: den "Verfall einer Familie", den Thomas Mann dann mit den "Buddenbrooks" zum Thema der Epoche machen wird. Storm gibt hier, wie sonst nur noch im "Schimmelreiter", sein Bestes, weil er das Scheitern seiner Untergeher nicht, wie im "Stillen Musikanten", zu einer auf gequälte Weise heiteren "Resignation" verkitscht, sondern weil er das Unausweichliche packend und schonungslos und mit seinem ganzen Stimmungszauber schildert, der sich noch erhöht, weil er zwei herzzerreißende Liebesgeschichten hineinverwebt.
Storm gibt in diesen Stücken wirklich alles; und er ist vielleicht auch deshalb so gut, weil ihm außer jener Empathie, zu der er in so hohem Grade fähig war, auch Schuldbewusstsein die Feder führte. Er glaubte fest daran, dass er das Scheitern seinen Söhnen mitgegeben habe, dass sich in ihnen jene Züge radikalisierten, die er auch in sich selber wusste: Zügellosigkeit, Anpassungsschwierigkeiten, Skepsis gegenüber jenem "bürgerlichen Leben", an dem die Söhne sich die Zähne ausbissen, sowie nicht zuletzt ein geheimes Abweichen vom normalen Eros. Ja, Storm liebte nicht, wie die Mehrheit liebt, und wie noch zu allen Zeiten, die das Begehren stark reglementiert, erlebte er dies als Stigma. Es gehört seit Langem zum Wissen der Forschung, dass Theodor Storm pädophil veranlagt und tief fasziniert von Mädchen im Übergang zur Pubertät war. Aber dass dieser Umstand ihn befähigte, dem Elementarversagen anderer Menschen mit Verständnis zu begegnen, das ist vielleicht denn doch noch nicht genügend berücksichtigt worden, und wir sehen nun in dieser Biografie von Jochen Missfeldt verdienstvollerweise Ansätze, dieses geheime kreative Zentrum herauszuschälen, das offenbar bei diesem Autor ähnlich werkbestimmend und wahrnehmungsprägend war wie die Homosexualität Thomas Manns oder Marcel Prousts.
Storms Pädophilie führt aber auch zu stereotypen Figuren. Da auch er einer Liebe huldigte, die – mit Oscar Wilde zu sprechen – ihren Namen nicht zu nennen wagt, schaffte der Autor sich Chiffren, schuf er immer wiederkehrende Konstellationen, um von seiner ihn bedrängenden, aber eben auch beglückenden Neigung sprechen zu können. Da wären zunächst die beständig wiederkehrenden Kinderlieben, von denen die aus der Novelle "Pole Poppenspäler" wahrscheinlich die bekannteste ist, möglicherweise nicht zuletzt auch deshalb, weil sie hier, in gebührendem zeitlichen Abstand, versteht sich, in die Ehe mündet. Aber auch wenn man sich die anderen Erzählungen näher anschaut, wird man immer wieder auf Protagonisten stoßen, die als halbe Kinder zum ersten Mal mit der Macht der Sinnlichkeit konfrontiert werden. Und oft gibt es eben auch die Ansprechbarkeit der männlichen Hauptfiguren auf Mädchen zwischen 10 und 13 Jahren. Wie leider fast immer, wenn die Hormone Regie führen, wirkt die Beschreibung von Storms geheimen Objekten der Begierde seltsam unpersönlich und ungeheuer standardisiert. Seine Kindfrauen haben alle kleine Füßchen, Händchen, Schühchen und dergleichen; aber darüber hinaus zeichnet sie eigentlich nur eines aus: Dass sie eben 13 Jahre alt sind und leidlich hübsch aussehen.
Ob das Storm bewusst gewesen ist? Der Zwang von seinem erotischen Verlangen, und sei es noch so verschlüsselt, zu sprechen, muss so stark gewesen sein, dass sein ästhetisches Bewusstsein versagte. Das unablässige Andeuten des geheimen Zentrums seines Fühlens dürfte er als Befriedigung und Schmach zugleich empfunden haben, als ambivalente Erfahrung. Aber Ambivalenzbewusstsein erzeugt eben auch oft Verständnis für das Rätselhafte im Charaktergewebe der Menschen. Und das hatte Storm. Er hat sich leider, der Konvention seiner Epoche gehorchend, in seinem Werk nicht immer auf der Höhe seines Ambivalenzbewusstseins bewegt und ist dann in Sentimentalität oder Kitsch abgerutscht. Aber in seinen besten Stücken hat er aus seiner ureigenen und sehr speziellen veranlagungsmäßigen Gemengelage hohe Funken geschlagen. Dann entsteht der unvergessliche Wehmutston seiner Lyrik, der unverwechselbare Mitleidsklang seiner Novellen um gescheiterte Existenzen. Dann ist er ganz bei sich. Und überzeugt. Und so wird unversehens auch aus diesem kanonischen realistischen Erzähler des so weit zurückliegenden 19. Jahrhunderts ein Zeitgenosse der Moderne in all seiner Gebrochenheit.
Das kann man von den Berühmtheiten seiner Zeit, die literarisch ähnlich geprägt waren, wie etwa Gottfried Keller oder Paul Heyse, nicht sagen. In ihnen saß nicht der Stachel erotischer Abweichung, und so blieben sie eben, jeder in seiner Weise, in der Ästhetik ihrer Zeit sehr stark befangen. Doch bei Storm, da gärt und bohrt etwas, da will etwas heraus aus den Beschränkungen der Bürgerwelt. Für diesen Impuls hat diese neue Biografie viel Sinn, auch aus diesem Grund ist Jochen Missfeldts Buch sehr zu begrüßen. Es kann freilich die Genüsse und Erkenntnisse nicht ersetzen, welche die Lektüre von Storm selbst verschafft. Doch wer sich Missfeldts Perspektiven auf diesen Autor zu eigen macht und dann auf Erkundung seiner Texte auszieht, der wird schnell merken: In Storm steckt weit mehr, als das Klischee vom Schulbuchautor ahnen lässt.
Jochen Missfeldt:"Du graue Stadt am Meer. Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie." Hanser Verlag, 496 Seiten, 27,90 Euro. ISBN 978-3-446-24141-1.
Um unerwiderte Liebe wie in Goethes Jugendroman ging es bei Theodor Storm dabei nicht. Sondern beispielsweise um die Schwierigkeiten einer zweiten Frau, in der neuen Familie Fuß zu fassen, wenn von der ersten, verstorbenen Frau bereits ein Kind da ist. Damit machte er die Integrationsprobleme seiner zweiten Gattin zum Thema, in der Novelle "Viola Tricolor". Wie im wirklichen Leben ging diese Geschichte Storms sogar gut aus, aber die jüngere zweite Frau muss durch viel seelische Not und Pein hindurchgehen, und mit besonderer Feinfühligkeit schildert der Autor auch das Fremdeln der kleinen Tochter, die sich nicht dazu entschließen kann, die neue Mutter "Mama" zu nennen. Trotzdem hat der Text auch seine befremdliche Seite: "Entwickeln" muss sich nur die neue Frau. Der Herr Gemahl schaut zu und wartet ab; Beziehungsarbeit darf man von ihm nicht erwarten.
Noch intensiver beschäftigte den besorgten Vater aber das Drama seiner Söhne. Die Erzählung "Ein stiller Musikant" reagierte umgehend auf einen verzweifelten Brief des jüngsten Sohnes Karl, der sich zum Musiker ausbildete und dabei feststellte, dass er zu scheu und schüchtern sei, um seine Talente vor Publikum zur Geltung zu bringen. Daraus wird bei Storm – durchaus die Dimensionen erweiternd – ein origineller Beitrag zur deutschen Künstlernovelle, indem er einen Musiker erfindet, der aus "Angst vor der Welt, Angst vor dem Leben" am Ende nicht nur in der Kunst, sondern auch in seiner persönlichen Existenz scheitert. Dass diesem übersensiblen Zauderer die ganze Sympathie des Erzählers gehört, könnte zu seinen Gunsten sprechen, wenn man bedenkt, dass in der Entstehungszeit von "Ein stiller Musikant", um 1875 also, zunehmend ein soldatisch-heroisches Männerbild dominiert. Doch man stößt sich an der Rührseligkeit, die hier alles überzieht, am Hang zu dem, was Fontane das Stormsche "Bibbern" nennt. Hinzukommt die Frage, die man sich unwillkürlich stellt, wenn man die Hintergründe kennt: Wie hat dieses Vorgeführtwerden wohl auf den Sohn gewirkt?
Ganz ohne jede Frage Meisterwerke sind jedoch die beiden späten Novellen geworden, die vom Werdegang Hans Storms, des Dichters Ältestem, inspiriert sind. Das Vater-Sohn-Drama, diese ganz spezielle Dynamik, die sich ergibt, wenn ein Vater sich gegen das Verderben seines Sohnes stemmt und am Ende doch nichts dagegen ausrichten kann, wird in einer mitfühlenden Variante in der Novelle "Carsten Curator" und in einer hartherzigen, in der Novelle "Hans und Heinz Kirch", durchgespielt. Der frühere Text – "Carsten Curator" entsteht, als Hans Storm lediglich zum ersten Mal durchs Examen fällt; "Hans und Heinz Kirch" hingegen einige Jahre später, als der Unglücksrabe auch noch als Arzt gekündigt wird. Auch hier entfernt sich der Dichter wieder weit vom lebensweltlichen Ereigniskern und zielt auf etwas Größeres: den "Verfall einer Familie", den Thomas Mann dann mit den "Buddenbrooks" zum Thema der Epoche machen wird. Storm gibt hier, wie sonst nur noch im "Schimmelreiter", sein Bestes, weil er das Scheitern seiner Untergeher nicht, wie im "Stillen Musikanten", zu einer auf gequälte Weise heiteren "Resignation" verkitscht, sondern weil er das Unausweichliche packend und schonungslos und mit seinem ganzen Stimmungszauber schildert, der sich noch erhöht, weil er zwei herzzerreißende Liebesgeschichten hineinverwebt.
Storm gibt in diesen Stücken wirklich alles; und er ist vielleicht auch deshalb so gut, weil ihm außer jener Empathie, zu der er in so hohem Grade fähig war, auch Schuldbewusstsein die Feder führte. Er glaubte fest daran, dass er das Scheitern seinen Söhnen mitgegeben habe, dass sich in ihnen jene Züge radikalisierten, die er auch in sich selber wusste: Zügellosigkeit, Anpassungsschwierigkeiten, Skepsis gegenüber jenem "bürgerlichen Leben", an dem die Söhne sich die Zähne ausbissen, sowie nicht zuletzt ein geheimes Abweichen vom normalen Eros. Ja, Storm liebte nicht, wie die Mehrheit liebt, und wie noch zu allen Zeiten, die das Begehren stark reglementiert, erlebte er dies als Stigma. Es gehört seit Langem zum Wissen der Forschung, dass Theodor Storm pädophil veranlagt und tief fasziniert von Mädchen im Übergang zur Pubertät war. Aber dass dieser Umstand ihn befähigte, dem Elementarversagen anderer Menschen mit Verständnis zu begegnen, das ist vielleicht denn doch noch nicht genügend berücksichtigt worden, und wir sehen nun in dieser Biografie von Jochen Missfeldt verdienstvollerweise Ansätze, dieses geheime kreative Zentrum herauszuschälen, das offenbar bei diesem Autor ähnlich werkbestimmend und wahrnehmungsprägend war wie die Homosexualität Thomas Manns oder Marcel Prousts.
Storms Pädophilie führt aber auch zu stereotypen Figuren. Da auch er einer Liebe huldigte, die – mit Oscar Wilde zu sprechen – ihren Namen nicht zu nennen wagt, schaffte der Autor sich Chiffren, schuf er immer wiederkehrende Konstellationen, um von seiner ihn bedrängenden, aber eben auch beglückenden Neigung sprechen zu können. Da wären zunächst die beständig wiederkehrenden Kinderlieben, von denen die aus der Novelle "Pole Poppenspäler" wahrscheinlich die bekannteste ist, möglicherweise nicht zuletzt auch deshalb, weil sie hier, in gebührendem zeitlichen Abstand, versteht sich, in die Ehe mündet. Aber auch wenn man sich die anderen Erzählungen näher anschaut, wird man immer wieder auf Protagonisten stoßen, die als halbe Kinder zum ersten Mal mit der Macht der Sinnlichkeit konfrontiert werden. Und oft gibt es eben auch die Ansprechbarkeit der männlichen Hauptfiguren auf Mädchen zwischen 10 und 13 Jahren. Wie leider fast immer, wenn die Hormone Regie führen, wirkt die Beschreibung von Storms geheimen Objekten der Begierde seltsam unpersönlich und ungeheuer standardisiert. Seine Kindfrauen haben alle kleine Füßchen, Händchen, Schühchen und dergleichen; aber darüber hinaus zeichnet sie eigentlich nur eines aus: Dass sie eben 13 Jahre alt sind und leidlich hübsch aussehen.
Ob das Storm bewusst gewesen ist? Der Zwang von seinem erotischen Verlangen, und sei es noch so verschlüsselt, zu sprechen, muss so stark gewesen sein, dass sein ästhetisches Bewusstsein versagte. Das unablässige Andeuten des geheimen Zentrums seines Fühlens dürfte er als Befriedigung und Schmach zugleich empfunden haben, als ambivalente Erfahrung. Aber Ambivalenzbewusstsein erzeugt eben auch oft Verständnis für das Rätselhafte im Charaktergewebe der Menschen. Und das hatte Storm. Er hat sich leider, der Konvention seiner Epoche gehorchend, in seinem Werk nicht immer auf der Höhe seines Ambivalenzbewusstseins bewegt und ist dann in Sentimentalität oder Kitsch abgerutscht. Aber in seinen besten Stücken hat er aus seiner ureigenen und sehr speziellen veranlagungsmäßigen Gemengelage hohe Funken geschlagen. Dann entsteht der unvergessliche Wehmutston seiner Lyrik, der unverwechselbare Mitleidsklang seiner Novellen um gescheiterte Existenzen. Dann ist er ganz bei sich. Und überzeugt. Und so wird unversehens auch aus diesem kanonischen realistischen Erzähler des so weit zurückliegenden 19. Jahrhunderts ein Zeitgenosse der Moderne in all seiner Gebrochenheit.
Das kann man von den Berühmtheiten seiner Zeit, die literarisch ähnlich geprägt waren, wie etwa Gottfried Keller oder Paul Heyse, nicht sagen. In ihnen saß nicht der Stachel erotischer Abweichung, und so blieben sie eben, jeder in seiner Weise, in der Ästhetik ihrer Zeit sehr stark befangen. Doch bei Storm, da gärt und bohrt etwas, da will etwas heraus aus den Beschränkungen der Bürgerwelt. Für diesen Impuls hat diese neue Biografie viel Sinn, auch aus diesem Grund ist Jochen Missfeldts Buch sehr zu begrüßen. Es kann freilich die Genüsse und Erkenntnisse nicht ersetzen, welche die Lektüre von Storm selbst verschafft. Doch wer sich Missfeldts Perspektiven auf diesen Autor zu eigen macht und dann auf Erkundung seiner Texte auszieht, der wird schnell merken: In Storm steckt weit mehr, als das Klischee vom Schulbuchautor ahnen lässt.
Jochen Missfeldt:"Du graue Stadt am Meer. Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie." Hanser Verlag, 496 Seiten, 27,90 Euro. ISBN 978-3-446-24141-1.