O-Ton Ivan Nagel: "Im Theater, aber gleichzeitig auch noch stärker in der Theaterkritik findet eine ungeheuer sich ausbreitende Profillosigkeit oder ein Mangel an Parteinahmen – und sei es an der Kreation von fiktiven Parteien -, breitet sich aus."
Karin Fischer: Die Stimme von Ivan Nagel, der gestern im Alter von 80 Jahren in Berlin gestorben ist. Er war einer der bedeutendsten Köpfe, die im Theater gewirkt und für und über das Theater gedacht und geschrieben haben. Er war Kritiker, Intendant, Theaterleiter und Theaterentdecker, außerdem Autor und Schriftsteller kluger Essays über Literatur, Theater oder Musik, unter anderem hat er eine brillante Studie über Mozart verfasst. Eine Persönlichkeit europäischen Ranges hat die Lebensbühne verlassen, wir würdigen Ivan Nagel gleich zu Beginn der Sendung. Das Anderssein vielleicht war es, das ihn zur Kunst und zum Theater und zum unbedingten Glauben an deren kritische Funktion brachte. Ivan Nagel wurde 1931 in Budapest geboren, die jüdische Familie musste nach dem Einmarsch der Nazis untertauchen. Nagel ging in der Schweiz zur Schule, später studierte er in Paris, Heidelberg und Frankfurt am Main Soziologie, unter anderem bei Adorno. Die ersten Aufsätze und Theaterkritiken erschienen Ende der 50er-Jahre. Er war links, manchen zu links, er war homosexuell, er war "anders". In autobiographischen Gesprächen, aufgenommen noch vor Kurzem beim Deutschlandradio Kultur, erzählt er dazu:
O-Ton Ivan Nagel: "Ich gehörte zu drei Minderheiten: als Jude, als Staatenloser, als Homosexueller. Mit dem Judesein, das war eine aufgezwungene Identität. Ich fühlte mich nicht hundertprozentig, nie in meinem Leben als hauptsächlich Jude, als hundertprozentig Jude. Staatenloser, das ist die Nichtidentität selbst. Man wird es so schnell los, wie es irgendwie möglich ist. Aber ich wusste und erkannte und stand dazu, dass ich als Homosexueller so bleiben werde, wie ich bin. Das heißt, dass meine Identität damit engstens zusammenhängt. Da war der Angriff, da war das Problem. Ich erinnere mich: ich war frisch bei den Kammerspielen, erste Premiere 'Der rote Hahn' von Gerhart Hauptmann mit der Giehse in der Hauptrolle, bei der Premierenfeier war mit der Giehse ihre lebenslange Freundin, Geliebte auch, die Tochter von Brecht, Hanne Hiob, auch eingeladen und Schweikert setzte mich zwischen die beiden. Und dann guckt er sie an und sagt, ihr braucht keine Angst vor dem zu haben. – Das sagte alles, es wurde gelacht, ich dachte, ich versinke in den Boden. Aber das Problem ist der Alltag, wenn man plötzlich den Blick auf irgendjemanden, der einem gefällt, abwenden muss, weil man denkt, man wird dafür zusammengeschlagen."
Fischer: Als 23-Jähriger stand Nagel wegen einer Anklage nach dem damaligen Paragrafen 175 vor Gericht. - Mit Ivan Nagel ist also nicht weniger als ein halbes Jahrhundert Kultur- und Theatergeschichte zu besichtigen, was wir mit dem größten Kenner dieser Geschichte zusammentun wollen. Günther Rühle hat Ivan Nagel sehr gut gekannt, er hat einen ähnlichen Werdegang als Kritiker und Theaterleiter, und er hat erst vor Kurzem die Laudatio für ihn anlässlich der Verleihung des Hermann-Sinsheimer–Preises gehalten. Herr Rühle, was hat Ivan Nagel für Sie zu einem großen Kritiker gemacht?
Günther Rühle: Wir Kritiker, wenn ich mal so beginnen darf, schreiben meistens aus dem Erlebnis und aus dem Temperament heraus. Was wir abends aufladen, wollen wir am nächsten Morgen los werden. Das war bei Ivan Nagel ganz anders. Solange er Theaterkritiken schrieb, brauchte er drei, vier Tage Zeit, um nachzudenken, nachzulesen, noch mal sorgfältig zu analysieren, und seine Ergebnisse waren dann das Besondere. Auch in der Geschichte der Theaterkritik im letzten Jahrhundert war diese Nachdenklichkeit, diese hohe Reflexion, die Ruhe seiner Überlegungen das Besondere. Und er fiel auch durch diese besondere Art der Einlässlichkeit auf dem Fritz Kortner, und ich glaube, Fritz Kortner stand am Beginn seiner Karriere im deutschen Theater.
Fischer: Sie haben, Herr Rühle, Kurt Hübner mal einen "Menschensammler" genannt. Was war Ivan Nagel während seiner aktiven Zeit am Theater. 1971 war er ja Intendant am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg, später dann in Stuttgart und es gab auch ein kurzes Intermezzo, eine kleine Gastspielzeit in Salzburg.
Rühle: Das Vordringliche war nicht der Menschensammler, sondern der Anspruch, den er ans Theater und an seine Inszenierungen gestellt hat. Er hat natürlich dafür die besten Leute gesucht, also Luc Bondy, Peter Zadek. Er hat immer Menschen um sich gehabt, denen er Anspruch vermitteln konnte und die er dann im Gespräch auch zu sich selber entwickelt hat. So hat er große Inszenierungen zustande gekriegt – er hat ja selber nicht inszeniert in Hamburg -, angefangen von dem ersten Thomas-Bernhard-Stück bis zu Peter Zadek, zum "Othello", was das Signal eigentlich seiner Hamburger Zeit war. Das war eine so signifikante Inszenierung wie die nachher von Peter Stein. Ich werde Ivan Nagel wegen einer einzigen kurzen Sequenz nicht vergessen. Es war im Jahr 1966 in Bremen, als Peter Stein den "Tasso" machte. Und ich glaube, er wusste selber nicht, wie ihm das gelungen war, es gab eine Diskussion, es gab große Unruhe im Saal, weil das ein Stück war ohne jede Anlehnung an die Konvention, und man fürchtete, der Abend steht auf der Kippe. Und da stand Ivan Nagel, den damals noch niemand kannte, er war Chefdramaturg an den Münchner Kammerspielen, auf und brachte das Publikum zur Räson und sagte, ihr seht hier etwas Außerordentliches, und wenn ihr nicht klug handelt, werdet ihr bedauern, dass ihr das nicht zu Ende gesehen habt. Und das war für einen Kritiker damals eine mutige Geschichte, denn er selber hatte dem Stein gesagt, mach dieses Stück nicht, das ist keine Sicherheit, da kannst du mit reinfallen. Nun sah der Ivan Nagel auf der Bühne selber diese Inszenierung und musste total umdenken und war gebannt von dem, was er gesehen hat.
Fischer: Sie haben den Hamburger "Othello" als signifikante Inszenierung bezeichnet, Günther Rühle. Das ist ein ganz kleines bisschen untertrieben. In der Tat haben wir es hier mit einem der größten Theaterskandale aller Zeiten – so ist es jedenfalls in den Analen vermerkt – zu tun. Was war passiert?
Rühle: Der "Othello" hatte nichts mehr von der tragischen Liebesgeschichte, sondern es war eine sehr rüde Szene. "Othello" spielte in schwarzgefärbt, die Farbe durfte abfärben, er hängte seine Desdemona nachher tot über eine Wäscheleine, es war eine provokante Szene, es war ein ganz rüdes Stück. Und Zadek hatte ja aus England eine andere Ansicht zu Shakespeare, nämlich er ging vom Theater aus. Die deutschen Theater sind immer wieder von Shakespeares Texten ausgegangen, als wenn sie einen Text überliefern müssten.
Fischer: Zadek hat das aber verlebendigt.
Rühle: Zadek hat das Theater von Shakespeare überliefert und erneuert. Und das waren damals so bahnbrechende Inszenierungen, die er machte - sein "Hamlet" war ja was Ähnliches - und das gab diesen Skandal, die Empörung im Publikum.
Fischer: Ivan Nagel hat zuletzt ein Buch über Kunst veröffentlicht, und auch in den Bildern eines Giotto, Masaccio oder Leonardo das Dramatische gewürdigt. In dem Moment, in dem die Historienmalerei, sagt er, von der Darstellung von Individuen abgelöst wurde, in dem jemand im Bild sozusagen "Ich bin" sagt, gewinnt diese Person Autonomie und verbindet sich die Malerei mit dem Drama. Demgegenüber wird das Individuum auf der Bühne heute geradezu schmählich vernachlässigt. Hat Ivan Nagel das auch immer wieder kritisiert?
Rühle: Nein, so weit kam er nicht, während seiner Intendanzen nicht, denn während seiner Intendanzen war das Individuum auf der Bühne noch unbeschädigt. Er ist Theaterleiter gewesen vor der Wende. Die Wende war ein großer Einschnitt im deutschen Theater. Plötzlich ging eine ganze Theaterkultur weg. Ivan Nagel hat aber sehr darauf geachtet, dass die Personen und vor allen Dingen die Handlungen der Personen so deutlich wurden, dass sie dem Publikum im Für und Wider zum Erlebnis wurden. Er hat also auch darauf gedrungen, eine kräftige Inszenierung zu machen. Er war ja Kortner-Schüler. Er hat bei Kortner das Lesen von Texten gelernt und das Erkennen von Wörtern, was sie dramatisch bedeuten. Und diese Schule hat sich ja bei ihm so weitergebildet bis in seine späten Bücher über, was Sie eben gerade zitiert haben, diese Renaissance-Malerei. Er hatte dort den Theaterblick und er erlebte plötzlich die Bilder, meinetwegen den "Zinsgroschen" von Masaccio, so plastisch, dass er sie in das Drama des Augenblicks zurückverwandeln konnte, den das Bild darstellte.
Fischer: Ivan Nagel war ja nicht nur hoch musikalisch zum Beispiel und ein ganz guter Pianist; er war auch Schriftsteller, Essayist, von 1989 bis 1996 hatte er den neu gegründeten Lehrstuhl für Ästhetik und Geschichte der darstellenden Künste in Berlin inne. Welche Gedanken sind Ihnen aus seinen Essays als bemerkenswert in Erinnerung geblieben?
Rühle: Dass er vor allen Dingen immer darauf gedrungen hat, dass der Text einen Subtext hat, den man erkennen muss im Theater. Also das, was wir so sagen, da steht alles zwischen den Zeilen, das hat er bei Kortner gelernt. Das hat er zu vermitteln versucht, dass ein Drama ein in sich bewegtes Bild ist, dass es also an unser ästhetisches Vergnügen appellieren muss, egal ob die Handlung böse oder gut ist, das Vergnügen, zu sehen, Bilder zu sehen und menschliche Bewegungen zu sehen, menschliche Bewegungen zu erkennen. Er war ein sehr großer Beobachter von menschlichen Gesten, von Gebärden und von dem Antworten von Körpern aufeinander. Und diesen Blick, den er nachher auch dann in die Bücher umgesetzt hat, den hat er zu vermitteln versucht.
Fischer: Günther Rühle, Ivan Nagel spielte auch eine bedeutende Rolle in der Institutionengeschichte des Theaters in der Bundesrepublik. Er hat das "Theater der Nationen" erfunden, heute "Theater der Welt" genannt, er hat unter anderem den "Rat für die Künste" in Berlin mit begründet. Was hat er da gewollt?
Rühle: Er hat natürlich gesehen, weil er doch einen internationalen Blick hatte, dass das deutsche Theater für sich nicht mehr bestehen kann. Das deutsche Theater in den 20er-Jahren war ziemlich verschlossen gegen alles das, was um Deutschland herum geschah. In den 30er-Jahren wurde es ja total abgeschlossen. Und er sah natürlich durch seinen ganzen Werdegang – er kam von draußen nach Deutschland -, dass dieses Theater in den 50er-Jahren sich vollsog mit Stoff von draußen, dass es sich also regeneriert hat an dem Stoff, der von draußen kam. Und nun sagte er, die Nationen sind sowieso nicht mehr zu halten, wir haben einen Kunstbegriff, der sich über die ganze Welt ausdehnt. Und dann hat er geguckt, da gibt es Theater, da gibt es Theater, es war die Weitung des deutschen Blicks über die Grenzen hinaus, den er mit dem "Theater der Nationen" weitergetrieben hat, also über das pure Spielen von Stücken hinaus. Er sammelte jetzt von außen, das war die zweite Welle der – wie soll ich sagen? – Erweiterung des deutschen Bewusstseins durch das Theater.
Fischer: Das war Günther Rühle zum Tod von Ivan Nagel. Herzlichen Dank für das Gespräch. - Deutschlandradio Kultur sendet übrigens diese Woche eine erst kürzlich aufgenommene "AutoBiografie in sechs Gesprächen" mit Ivan Nagel, auch heute und noch bis 13. April in der "Werkstatt", von Mitternacht bis ein Uhr.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Karin Fischer: Die Stimme von Ivan Nagel, der gestern im Alter von 80 Jahren in Berlin gestorben ist. Er war einer der bedeutendsten Köpfe, die im Theater gewirkt und für und über das Theater gedacht und geschrieben haben. Er war Kritiker, Intendant, Theaterleiter und Theaterentdecker, außerdem Autor und Schriftsteller kluger Essays über Literatur, Theater oder Musik, unter anderem hat er eine brillante Studie über Mozart verfasst. Eine Persönlichkeit europäischen Ranges hat die Lebensbühne verlassen, wir würdigen Ivan Nagel gleich zu Beginn der Sendung. Das Anderssein vielleicht war es, das ihn zur Kunst und zum Theater und zum unbedingten Glauben an deren kritische Funktion brachte. Ivan Nagel wurde 1931 in Budapest geboren, die jüdische Familie musste nach dem Einmarsch der Nazis untertauchen. Nagel ging in der Schweiz zur Schule, später studierte er in Paris, Heidelberg und Frankfurt am Main Soziologie, unter anderem bei Adorno. Die ersten Aufsätze und Theaterkritiken erschienen Ende der 50er-Jahre. Er war links, manchen zu links, er war homosexuell, er war "anders". In autobiographischen Gesprächen, aufgenommen noch vor Kurzem beim Deutschlandradio Kultur, erzählt er dazu:
O-Ton Ivan Nagel: "Ich gehörte zu drei Minderheiten: als Jude, als Staatenloser, als Homosexueller. Mit dem Judesein, das war eine aufgezwungene Identität. Ich fühlte mich nicht hundertprozentig, nie in meinem Leben als hauptsächlich Jude, als hundertprozentig Jude. Staatenloser, das ist die Nichtidentität selbst. Man wird es so schnell los, wie es irgendwie möglich ist. Aber ich wusste und erkannte und stand dazu, dass ich als Homosexueller so bleiben werde, wie ich bin. Das heißt, dass meine Identität damit engstens zusammenhängt. Da war der Angriff, da war das Problem. Ich erinnere mich: ich war frisch bei den Kammerspielen, erste Premiere 'Der rote Hahn' von Gerhart Hauptmann mit der Giehse in der Hauptrolle, bei der Premierenfeier war mit der Giehse ihre lebenslange Freundin, Geliebte auch, die Tochter von Brecht, Hanne Hiob, auch eingeladen und Schweikert setzte mich zwischen die beiden. Und dann guckt er sie an und sagt, ihr braucht keine Angst vor dem zu haben. – Das sagte alles, es wurde gelacht, ich dachte, ich versinke in den Boden. Aber das Problem ist der Alltag, wenn man plötzlich den Blick auf irgendjemanden, der einem gefällt, abwenden muss, weil man denkt, man wird dafür zusammengeschlagen."
Fischer: Als 23-Jähriger stand Nagel wegen einer Anklage nach dem damaligen Paragrafen 175 vor Gericht. - Mit Ivan Nagel ist also nicht weniger als ein halbes Jahrhundert Kultur- und Theatergeschichte zu besichtigen, was wir mit dem größten Kenner dieser Geschichte zusammentun wollen. Günther Rühle hat Ivan Nagel sehr gut gekannt, er hat einen ähnlichen Werdegang als Kritiker und Theaterleiter, und er hat erst vor Kurzem die Laudatio für ihn anlässlich der Verleihung des Hermann-Sinsheimer–Preises gehalten. Herr Rühle, was hat Ivan Nagel für Sie zu einem großen Kritiker gemacht?
Günther Rühle: Wir Kritiker, wenn ich mal so beginnen darf, schreiben meistens aus dem Erlebnis und aus dem Temperament heraus. Was wir abends aufladen, wollen wir am nächsten Morgen los werden. Das war bei Ivan Nagel ganz anders. Solange er Theaterkritiken schrieb, brauchte er drei, vier Tage Zeit, um nachzudenken, nachzulesen, noch mal sorgfältig zu analysieren, und seine Ergebnisse waren dann das Besondere. Auch in der Geschichte der Theaterkritik im letzten Jahrhundert war diese Nachdenklichkeit, diese hohe Reflexion, die Ruhe seiner Überlegungen das Besondere. Und er fiel auch durch diese besondere Art der Einlässlichkeit auf dem Fritz Kortner, und ich glaube, Fritz Kortner stand am Beginn seiner Karriere im deutschen Theater.
Fischer: Sie haben, Herr Rühle, Kurt Hübner mal einen "Menschensammler" genannt. Was war Ivan Nagel während seiner aktiven Zeit am Theater. 1971 war er ja Intendant am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg, später dann in Stuttgart und es gab auch ein kurzes Intermezzo, eine kleine Gastspielzeit in Salzburg.
Rühle: Das Vordringliche war nicht der Menschensammler, sondern der Anspruch, den er ans Theater und an seine Inszenierungen gestellt hat. Er hat natürlich dafür die besten Leute gesucht, also Luc Bondy, Peter Zadek. Er hat immer Menschen um sich gehabt, denen er Anspruch vermitteln konnte und die er dann im Gespräch auch zu sich selber entwickelt hat. So hat er große Inszenierungen zustande gekriegt – er hat ja selber nicht inszeniert in Hamburg -, angefangen von dem ersten Thomas-Bernhard-Stück bis zu Peter Zadek, zum "Othello", was das Signal eigentlich seiner Hamburger Zeit war. Das war eine so signifikante Inszenierung wie die nachher von Peter Stein. Ich werde Ivan Nagel wegen einer einzigen kurzen Sequenz nicht vergessen. Es war im Jahr 1966 in Bremen, als Peter Stein den "Tasso" machte. Und ich glaube, er wusste selber nicht, wie ihm das gelungen war, es gab eine Diskussion, es gab große Unruhe im Saal, weil das ein Stück war ohne jede Anlehnung an die Konvention, und man fürchtete, der Abend steht auf der Kippe. Und da stand Ivan Nagel, den damals noch niemand kannte, er war Chefdramaturg an den Münchner Kammerspielen, auf und brachte das Publikum zur Räson und sagte, ihr seht hier etwas Außerordentliches, und wenn ihr nicht klug handelt, werdet ihr bedauern, dass ihr das nicht zu Ende gesehen habt. Und das war für einen Kritiker damals eine mutige Geschichte, denn er selber hatte dem Stein gesagt, mach dieses Stück nicht, das ist keine Sicherheit, da kannst du mit reinfallen. Nun sah der Ivan Nagel auf der Bühne selber diese Inszenierung und musste total umdenken und war gebannt von dem, was er gesehen hat.
Fischer: Sie haben den Hamburger "Othello" als signifikante Inszenierung bezeichnet, Günther Rühle. Das ist ein ganz kleines bisschen untertrieben. In der Tat haben wir es hier mit einem der größten Theaterskandale aller Zeiten – so ist es jedenfalls in den Analen vermerkt – zu tun. Was war passiert?
Rühle: Der "Othello" hatte nichts mehr von der tragischen Liebesgeschichte, sondern es war eine sehr rüde Szene. "Othello" spielte in schwarzgefärbt, die Farbe durfte abfärben, er hängte seine Desdemona nachher tot über eine Wäscheleine, es war eine provokante Szene, es war ein ganz rüdes Stück. Und Zadek hatte ja aus England eine andere Ansicht zu Shakespeare, nämlich er ging vom Theater aus. Die deutschen Theater sind immer wieder von Shakespeares Texten ausgegangen, als wenn sie einen Text überliefern müssten.
Fischer: Zadek hat das aber verlebendigt.
Rühle: Zadek hat das Theater von Shakespeare überliefert und erneuert. Und das waren damals so bahnbrechende Inszenierungen, die er machte - sein "Hamlet" war ja was Ähnliches - und das gab diesen Skandal, die Empörung im Publikum.
Fischer: Ivan Nagel hat zuletzt ein Buch über Kunst veröffentlicht, und auch in den Bildern eines Giotto, Masaccio oder Leonardo das Dramatische gewürdigt. In dem Moment, in dem die Historienmalerei, sagt er, von der Darstellung von Individuen abgelöst wurde, in dem jemand im Bild sozusagen "Ich bin" sagt, gewinnt diese Person Autonomie und verbindet sich die Malerei mit dem Drama. Demgegenüber wird das Individuum auf der Bühne heute geradezu schmählich vernachlässigt. Hat Ivan Nagel das auch immer wieder kritisiert?
Rühle: Nein, so weit kam er nicht, während seiner Intendanzen nicht, denn während seiner Intendanzen war das Individuum auf der Bühne noch unbeschädigt. Er ist Theaterleiter gewesen vor der Wende. Die Wende war ein großer Einschnitt im deutschen Theater. Plötzlich ging eine ganze Theaterkultur weg. Ivan Nagel hat aber sehr darauf geachtet, dass die Personen und vor allen Dingen die Handlungen der Personen so deutlich wurden, dass sie dem Publikum im Für und Wider zum Erlebnis wurden. Er hat also auch darauf gedrungen, eine kräftige Inszenierung zu machen. Er war ja Kortner-Schüler. Er hat bei Kortner das Lesen von Texten gelernt und das Erkennen von Wörtern, was sie dramatisch bedeuten. Und diese Schule hat sich ja bei ihm so weitergebildet bis in seine späten Bücher über, was Sie eben gerade zitiert haben, diese Renaissance-Malerei. Er hatte dort den Theaterblick und er erlebte plötzlich die Bilder, meinetwegen den "Zinsgroschen" von Masaccio, so plastisch, dass er sie in das Drama des Augenblicks zurückverwandeln konnte, den das Bild darstellte.
Fischer: Ivan Nagel war ja nicht nur hoch musikalisch zum Beispiel und ein ganz guter Pianist; er war auch Schriftsteller, Essayist, von 1989 bis 1996 hatte er den neu gegründeten Lehrstuhl für Ästhetik und Geschichte der darstellenden Künste in Berlin inne. Welche Gedanken sind Ihnen aus seinen Essays als bemerkenswert in Erinnerung geblieben?
Rühle: Dass er vor allen Dingen immer darauf gedrungen hat, dass der Text einen Subtext hat, den man erkennen muss im Theater. Also das, was wir so sagen, da steht alles zwischen den Zeilen, das hat er bei Kortner gelernt. Das hat er zu vermitteln versucht, dass ein Drama ein in sich bewegtes Bild ist, dass es also an unser ästhetisches Vergnügen appellieren muss, egal ob die Handlung böse oder gut ist, das Vergnügen, zu sehen, Bilder zu sehen und menschliche Bewegungen zu sehen, menschliche Bewegungen zu erkennen. Er war ein sehr großer Beobachter von menschlichen Gesten, von Gebärden und von dem Antworten von Körpern aufeinander. Und diesen Blick, den er nachher auch dann in die Bücher umgesetzt hat, den hat er zu vermitteln versucht.
Fischer: Günther Rühle, Ivan Nagel spielte auch eine bedeutende Rolle in der Institutionengeschichte des Theaters in der Bundesrepublik. Er hat das "Theater der Nationen" erfunden, heute "Theater der Welt" genannt, er hat unter anderem den "Rat für die Künste" in Berlin mit begründet. Was hat er da gewollt?
Rühle: Er hat natürlich gesehen, weil er doch einen internationalen Blick hatte, dass das deutsche Theater für sich nicht mehr bestehen kann. Das deutsche Theater in den 20er-Jahren war ziemlich verschlossen gegen alles das, was um Deutschland herum geschah. In den 30er-Jahren wurde es ja total abgeschlossen. Und er sah natürlich durch seinen ganzen Werdegang – er kam von draußen nach Deutschland -, dass dieses Theater in den 50er-Jahren sich vollsog mit Stoff von draußen, dass es sich also regeneriert hat an dem Stoff, der von draußen kam. Und nun sagte er, die Nationen sind sowieso nicht mehr zu halten, wir haben einen Kunstbegriff, der sich über die ganze Welt ausdehnt. Und dann hat er geguckt, da gibt es Theater, da gibt es Theater, es war die Weitung des deutschen Blicks über die Grenzen hinaus, den er mit dem "Theater der Nationen" weitergetrieben hat, also über das pure Spielen von Stücken hinaus. Er sammelte jetzt von außen, das war die zweite Welle der – wie soll ich sagen? – Erweiterung des deutschen Bewusstseins durch das Theater.
Fischer: Das war Günther Rühle zum Tod von Ivan Nagel. Herzlichen Dank für das Gespräch. - Deutschlandradio Kultur sendet übrigens diese Woche eine erst kürzlich aufgenommene "AutoBiografie in sechs Gesprächen" mit Ivan Nagel, auch heute und noch bis 13. April in der "Werkstatt", von Mitternacht bis ein Uhr.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.