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Duldsame Geschöpfe
Der Mensch und sein Domestizierungsbaukasten

Menschen und Tiere, Haustiere, Tiere, die in der Nähe gehalten werden. Ein Essay über die Haustierwerdung von Wildtieren, von Menschen gemacht.

Von Patricia Görg |
Bill Travers mit Otter in dem Film "Ring Of Bright Water" (1969), der auf Gavin Maxwells gleichnamigem Buch basiert.
Würden Sie mit einem Otter spazieren gehen? (imago images / Everett Collection )
Autorin Patricia Görg unternimmt einen Streifzug durch einige Gatter und seltsam bevölkerte Zimmer, in denen matte, lustige oder zähnefletschende Tiere wohnen – und ein paar Überlegungen zur Zucht, von Darwin "das größte biologische Experiment der Menschheit" genannt. Fazit: Ohne domestizierte Tiere würde es unsere Lebensform nicht geben, aber ohne die Existenz des Undomestizierten wären wir noch viel ärmer.
Patricia Görg, geboren 1960, lebt in Berlin und ist als Schriftstellerin und Autorin für Radio tätig. Letzte Buchveröffentlichungen "Handbuch der Erfolglosen" (2012) und "Glas. Eine Kunst"(2013) sowie das Hörspiel "Die Gesänge der Raumfahrer. Ein Fernlehrgang" (Dlf Kultur 2019).

Würden Sie mit einem Otter spazieren gehen?
Für den schottischen Lebemann Gavin Maxwell war das keine Frage. Er teilte im Laufe der 1950er und -60er Jahre Haus und Bett mit diesem kleinen, von vielen als putzig empfundenen Raubtier, nannte sich "manisch fixiert" auf ihr Beisammensein, schrieb darüber ein Buch, das bis heute ein Bestseller der angelsächsischen Literatur ist.
Es heißt Ein Ring aus hellem Wasser, und stellt die Bestandsaufnahme einer skurrilen Beziehung dar, aber auch eine Reflexion über unser Verhältnis zur Natur.
Aus niederem schottischen Landadel und aus den Lowlands stammend war Maxwell von seiner frühen Jugend an Jäger. Die Highlands im Norden bildeten den Ort seiner Sehnsüchte – und der Pirsch auf Rotwild. Er schildert, wie er und gleichgesinnte Kommilitonen selbst während des Studiums in Oxford schwere, genagelte Geländeschuhe sowie Jagdanzüge trugen, und dass sie ihre Stuben mit den Trophäen erlegter Hirsche schmückten.
Liest man das Buch als Entwicklungsroman, ähnelt jener Teil entfernt den Frühphasen der Menschheit, beschwört den Anklang an die Dämmerung herauf, in der Jäger und große Tiere noch existenziell miteinander verbunden waren, im Kreis hintereinander herliefen wie archetypische Schattenrisse auf einer Lampe im Kinderzimmer. Doch der Autor wurde älter. Als er nicht mehr mit ständig gespannter Büchse unterwegs war, bot sich ihm die Gelegenheit, ein vollkommen einsam gelegenes Haus an der schottischen Westküste zum Rückzugsort zu machen. Ergriffen beschreibt er seine erste Begegnung mit diesem abgeschiedenen Refugium, nahe der Insel Skye in einer der zerklüfteten, fjordähnlichen Buchten versteckt, aus denen quasi die ganze Küste besteht. Es scheint ihm schmerzhaft schön, was sich vor ihm ausbreitet: Auf blendend weißem Muschelsand wartet ein neuer Lebensabschnitt auf ihn.
In Schottlands Norden kommt die Landschaft über weite Strecken ohne Menschen aus. Einzig das schnell wechselnde Wetter führt auf der riesigen, kargen Seelenbühne Stimmungsstücke auf, welche pittoresk bemänteln, warum es hier so ruhig ist: Nach der gewaltsamen Vertreibung der zahlreichen Kleinpächter durch die Großgrundbesitzer, den sogenannten "clearances" während des 18. und 19. Jahrhunderts, blieb kaum ein Stein auf dem anderen und kaum jemand übrig, diese Gegend zu besiedeln.
Stattdessen kamen die Schafe. Als die sich nicht mehr rechneten, kamen die Jagdpachten.
Heute: Ölförderung vor der Küste und Tourismus im Landesinneren.
Die Highlands – so selbstgenügsam und entvölkert ihre Heideflächen, kahlen Felsen, zerfallenden Burgen und ihr grandioses Licht schweigen, so beredt werden sie verehrt als Außenposten einer Natur, die an sich selbst zurückgefallen ist.
Und dann, während vom Regen klar gewaschenes Abendleuchten über dem Land und dem Meer liegt, kommen Möwen ins Bild. Und Highland-Kühe. Und einige Schafssprenkel.
Gavin Maxwell nimmt das völlig unmöblierte Cottage, ohne Strom oder Wasser, in Besitz. Seine nächste Nachbarsfamilie, das einzige andere Haus im Umkreis bewohnend, ist eineinhalb Kilometer entfernt.
Im Kontrast dazu umgeben ihn so viele Tiere, als wäre die Arche Noah angelandet. Er hört den Flügelschlag und das Schnattern zutraulicher Wildgänse, erblickt morgens aus dem Fenster die prächtigen Geweihe einer Gruppe furchtloser Hirsche, sieht überall Kaninchen umherhoppeln, die von ebenso allgegenwärtigen Füchsen gefressen werden, und aus dem Meer lugen die neugierigen Köpfe brauner Robben.
All diese Geschöpfe betrachtet er als seine eigentlichen Nachbarn. Er weidet sich daran, nur das Rauschen eines Wasserfalls, das Auflaufen der Brandung, Vogelrufe sowie das Klopfen der Kaninchen auf den Boden wahrzunehmen.
Begleitet wird er dabei von einem Gefährten, den der Mensch seit der Steinzeit aus der Wildnis entnommen und sich dienstbar gemacht hat: einem Hund. In Maxwells Fall ist es der Springer Spaniel Jonnie, der schwarzweiß gefleckt vor seinen Füßen läuft.
Springer Spaniel sind Jagdhunde, genauer gesagt Apportierhunde, die für den Jäger geschossenes Wild, zum Beispiel Rebhühner oder Enten, aufstöbern und ihm bringen. Ihre Rassemerkmale lauten: "Unglaublich anpassungsfähige, fröhliche Vierbeiner". Schon Jonnies Vater und Großvater arbeiteten für Maxwell. Jonnies Aufgabe ist es nun nur noch, ihm Gesellschaft zu leisten. In der ersten harten, unmöblierten Phase am Meer liegt der Kopf des Mannes beim Schlafen auf dem Körper seines Hundes.
Aus der Vorzeit, unkalkulierbar weit zurück, grüßen Wölfe, die sich an menschlichen Abfällen zu schaffen machen. Sie kommen allmählich immer näher, verlieren etwas von ihrer Scheu, schließen sich lose dem Zweibeiner-Rudel an, teilen sich vielleicht sogar die Jagdanstrengungen mit ihm, kultivieren das Nebeneinander, bis eines Tages Wolfswelpen in menschliche Obhut genommen werden und man sie sich, geschlechtsreif geworden, untereinander paaren lässt. Diesen Moment könnte man als den Urknall der Domestizierung bezeichnen. Zum ersten Mal isoliert der Affennachfahre ein paar Vertreter einer anderen Spezies von ihren Artgenossen, beginnt mit der gezielten Züchtung erwünschter Eigenschaften. Beim Wolf sind das vor allem Zahmheit, Aggressionshemmung und Gehorsam.
Lange gingen die Forscher davon aus, Mensch und Wolf hätten während der sogenannten neolithischen Revolution zueinander gefunden, als die ersten Jäger und Sammler sesshaft wurden und anfingen, Landwirtschaft zu betreiben. Genetische Untersuchungsergebnisse legen jedoch nahe, dass dies viel früher geschah. Und so kann man sich nomadisierende Wildbeuter vorstellen, deren Lager vielleicht schon von bellenden Wölfen beschützt wurden, bevor später Hütehunde Schafs- und Ziegenherden beaufsichtigten.
Rätselhaft blieb jedoch, wie die physiologischen und Verhaltensänderungen in ihrer ganzen Breite auf dem Weg vom Wolf zum Hund entstanden. Um dies genauer zu verstehen, startete der russische Genetiker Dmitri Konstantinowitsch Beljajew 1959 ein berühmt gewordenes Zuchtexperiment. In der Nähe abgelegener sibirischer Pelztierfarmen begann er, Silberfüchse konsequent auf ihre Zahmheit zu selektieren, Generation für Generation nur die am wenigsten scheuen miteinander zu verpaaren. Schon 1963 hatte sich bei diesen Tieren, die als unzähmbar galten, etwas Entscheidendes getan: Der erste Silberfuchs wedelte freudig mit dem Schwanz, wenn sich ihm ein Betreuer näherte – ein Verhalten, das man bis dato nur von Hunden kannte. Im weiteren Verlauf begannen die Füchse, menschliche Hände zu lecken, sich auf den Rücken zu legen, um am Bauch gekrault zu werden, zu winseln und zu jaulen, um Aufmerksamkeit zu erregen. Damit nicht genug änderte sich auch ihr Aussehen: Fellfärbungen traten auf, die man noch nie bei wilden Exemplaren gefunden hatte, der Kopf wurde kürzer mit breiterer Schnauze, Hängeohren und sogar Ringelschwänze entstanden.
Die Geschwindigkeit dieser Modifikationen zeigte, dass es sich nicht nur um genetische Mutationen, die durch Auswahl weitervererbt werden, handeln konnte. Stattdessen entdeckte man das Prinzip der sogenannten Genkaskade: Durch Zucht beeinflusste Gene sind außer für Verhaltensmerkmale gleichzeitig beispielsweise für Fellfärbungen verantwortlich. Ein Eingriff kann also eine Kaskade von Wirkungen auslösen. Des Weiteren verfolgte man die Theorie, dass der signifikant niedrigere Adrenalinspiegel domestizierter Tiere bestimmte Gene aktiviert, die in freier Wildbahn durch ständigen Stress, also durch hohe Adrenalinspiegel, unterdrückt beziehungsweise deaktiviert sind – und auch dies kann zu raschen und deutlichen physiognomischen Veränderungen führen.
Insgesamt zeigt Beljajews Versuchsanordnung also, dass Domestizierung nicht zwangsläufig bedeutet, jahrtausendelang erwünschte Merkmale herauszuzüchten, sondern eine Art Evolution im Zeitraffer auslöst, in deren Folge durchaus auch Unerwartetes auftritt.
Obwohl er selbst nicht mehr lebt, wird sein Experiment bis heute fortgeführt. Ergebnis ist mittlerweile eine Fuchspopulation, von der ein Teil als sehr teure Haustiere angeboten wird. Im Gegensatz zu undomestizierten Silberfüchsen, die jeden direkten Augenkontakt als Aggression und Kampfansage auffassen, suchen sie den menschlichen Blick und erwidern ihn. Ein neuer treuer Gefährte ist entstanden.
In der schottischen Oase, in der sich zunächst nur Mann und Hund einquartiert haben, zieht der Frühling ein. Gavin Maxwell erkundet, wohin er geraten ist. Er erfährt, dass im weiteren Umkreis die fast unauffindbaren Reste anderer Häuser verborgen sind, sein Cottage also früher einmal Teil eines Dorfes war. Wie an so vielen Orten Schottlands ist dieses Dorf nicht nur physisch ausgelöscht, sondern sogar aus der Erinnerung verschwunden. Maxwell freut sich, nicht allein zu sein. Neben ihm, aufmerksam auf seine Wünsche gerichtet, läuft gutgelaunt Jonnie.
Springer Spaniel sind eine Hunderasse, die sogar Fingerzeige versteht. Man kann in die Richtung deuten, in der etwas zu Holendes außerhalb ihres Sichtfelds liegt, und sie werden es finden. Speziell solch eine Kommunikation über die Artengrenzen hinweg ist ungewöhnlich, muss der Hund doch ein für ihn völlig abstraktes Zeichensystem lesen lernen. Natürlich ist auch diese Fähigkeit das Resultat einer strikten Zuchtauswahl. Jonnie und seine Kollegen sollen Jagdbeute aufscheuchen, vor allem aber aus Busch und Sumpf apportieren, auch wenn sie nicht sehen können, wohin der geschossene Vogel niederfiel.
Dass sie ein langes seidiges Fell sowie Pendelohren mit Dauerwelle haben, bildet eine Dreingabe, auf der jeder Käufer eines Springer Spaniels besteht, ist es doch teuer genug, einen reinrassigen Hund zu erwerben.
Gemessen an der langen, ruhigen Geschichte der Domestikation, gemessen an ihren Schafsgattern, in denen mal weiß-, mal schwarzköpfige Woll- und Fleischlieferanten die Köpfe heben; an ihren Weiden, auf denen magere Rinder mit Rieseneuter oder fette Tiere ohne Hörner grasen; an Zwingern, in denen Wach-, Hüte- oder Jagdhunde bellen – gemessen an all diesen Zuchtvarianten, die hauptsächlich um den Nutzen kreisen, entwickeln sich die zahllosen Hunderassen wie eine Explosion. Erst 200 Jahre ist es her, dass ihre heutige Vielfalt in Angriff genommen wurde. Seit klar war, wie sehr sich das äußere Erscheinungsbild eines Hundes schon ungewollt durch die Zucht verändert, begann man, dieses Ziel zu forcieren. Ein Interessent kann jetzt durch das Kompendium der Rassehunde blättern wie durch einen Mode- oder Tapetenmusterkatalog: Für jeden Geschmack ist etwas dabei.
Die Körpergröße variiert vom Chihuahua (ab 15 cm) bis zur Deutschen Dogge (Widerristhöhe des Champions: 103,5 cm); Schnauzen können jede Form bis zum gänzlichen Verschwinden annehmen (zum Beispiel beim Mops); Fellfarben und ‑strukturen bedienen das gesamte Register – das Gleiche gilt für Hoch- und Kurzbeinigkeit, Ohren, Ruten und Charakter. Auch die Preise oszillieren, je nach Nachfrage.
Wölfe, für lange Zeit fast völlig ausgerottet, haben ihr Erbe an einen Zirkus übergeben, der aberwitzige Verwandlungskunststücke vorführt. Verbände wachen streng über das Reglement. Und während des ganzen proteischen, an den Launen des Menschen ausgerichteten Treibens vermurkst er mit seinem unbekümmert eingesetzten Werkzeugkoffer die Lebensfähigkeit vieler Rassen immer mehr.
Permanent nach Luft röchelnde Möpse und Bulldoggen, durch die abfallende Rückenlinie von Arthrose gepeinigte Schäferhunde, wegen häufiger Bandscheibenvorfälle gelähmte Dackel und so manche andere sind Qualzuchten. Auch das Erzeugen exotischer Fellfärbungen wie Silber, bläulich oder vollkommen bunt gescheckt (der sogenannte Merle-Faktor) ist mehr als fragwürdig. Durch die entsprechenden genetischen Manipulationen kommt es gleichzeitig häufig zu Blindheit, Taubheit oder anderen schwerwiegenden organischen Krankheiten.
Schon die Inzucht, um bestimmte ästhetische Merkmale rein zu erhalten, schwächt das Material. Spontane Modeanforderungen geben dem bunten Reigen den Rest. Ob ein erprobter, mittelgroßer Straßenhundmischling einen dauerzitternden Zwergrehpinscher wohl noch als seinesgleichen erkennt?
Gavin Maxwell, seelisch eingebettet in die Wildnis rund um sein Cottage, richtet allmählich sein temporäres Leben dort ein. Er improvisiert Möbel aus Treibgut, holt Wasser aus einem Bach, entzündet Petroleumlampen. Er befreundet sich mit der Familie, die oberhalb im nächstgelegenen Haus wohnt, den Steilhang hoch in eineinhalb Kilometern Entfernung. Dort holt er seine Post, gibt Bestellungen für Lebensmittel auf und lässt Jonnie in Obhut, sobald er wieder abreist.
Die zwei jungen Söhne der Familie bringen ihm manchmal Benötigtes, der Hausherr erzählt die weltweisen Anekdoten der Gegend, und die Frau hat ein besonderes Verhältnis zu Tieren, ist darum auch sofort Bezugsperson für den periodisch zurückgelassenen Spaniel Jonnie.
Ihr Haus liegt direkt an der schmalen, einspurigen Straße. Parallel zur Küstenlinie ragt einer der sanften, aber nicht zu unterschätzenden schottischen Bergzüge auf. An seinen Hängen, scheinbar völlig sich selbst überlassen, grasen ganzjährig Hochlandrinder: hellbraune Punkte in der Ferne, die sich langsam hin und her bewegen. Stoische Bestandteile der Landschaft, die sich weder durch Regen, Sturm noch Kälte aus ihrem Gleichmut bringen lassen, im Liegen wiederkäuend und dabei aufs Meer weit draußen schauend.
Zuerst verlieren sie ihre Autonomie, dann ihre Widerstandsfähigkeit. Domestizierte Tiere leben fast völlig abhängig vom Menschen, sind nicht nur körperlich, sondern auch kognitiv eingeschränkt. Die Mehrzahl der Zuchtformen weist gegenüber der Wildform einen verkürzten, verbreiterten Gesichtsschädel auf, in dem die Gehirnmasse reduziert und weniger differenziert ausgebildet ist, sodass deutlich weniger Sinneseindrücke verarbeitet werden können.
Hinter den Einfriedungen, vor den Futtertraufen, an den Leinen: Rückschritt.
Wirtschaftlich oder spielerisch definierte Gestalten.
Schwarzweiße Kühe, zum Stumpfsinn verdonnert, drängen sich im Hochsommer auf schattenloser Weide zusammen, stieren bewegungslos ins Leere. Nimmt man ihnen ihr neugeborenes Kalb weg, schreien sie eine Woche lang verständnislos nach ihm, bevor sie wieder ruhig werden. Die aufreizende Sanftmut setzt sich fort, wenn sie in den Lastwagen geladen werden, der sie zum Schlachthof bringt. Duldsamkeit und Dummheit, Fleischleistung und Milchleistung formen Betriebsfaktoren.
Die Rinderrasse Charolais, viereckige, schwere Gesellen, so sehr auf Verwertbarkeit als Steak gezüchtet, dass ihre monströs großen Kälber nicht mehr durch den Geburtskanal passen, müssen regelmäßig Kaiserschnitte erleiden.
Währenddessen grasen die kleinen schottischen Hochlandrinder einigermaßen unbehelligt, als Scheinselbständige bei jeder Jahreszeit draußen gelassen. Ihr dickes Zottelfell schützt sie vor Wetterunbilden und ihr Aussehen erinnert nicht nur entfernt an den Stammvater der Rinder, den Auerochsen, sondern sie tragen sogar als eine der ganz wenigen Rassen tatsächlich noch einen Rest Erbgut des Urs in sich.
Wie zu erwarten, haben Züchter auch die sportliche Herausforderung angenommen, den ausgestorbenen Auerochsen wieder auferstehen zu lassen. Entlang seiner äußeren Merkmale kreuzten sie so lange Ähnliches, bis beispielsweise das Heckrind entstand: ein mit gewaltigen Hörnern versehener, ahnungsweiser Wiedergänger dessen, was frühe Höhlenmalereien feiern. Genetisch hat das Heckrind jedoch nichts mit dem Auerochsen gemein. Es ist eine sogenannte Abbildzüchtung, ein sentimentales Gespenst aus dem Evolutionsbaukasten.
Nachdem Jonnie gestorben ist, ist der Platz eines Haustiers an Maxwells Seite verwaist.
Es ergibt sich, dass er sich während einer Reise in den Irak einen schon länger gehegten, ungewöhnlichen Wunsch erfüllt: Man bringt ihm einen ganz jungen Fischotter. Maxwell ist entzückt. Entsprechend traurig reagiert er, als das Tierchen aufgrund seiner Unerfahrenheit und daraus resultierender Fütterungsfehler nur kurz überlebt. Um Ersatz bemüht, gelangt er schließlich an ein weiteres junges Exemplar, das er Mijbel nennt.
Otter, früh genug an den Menschen gewöhnt, also auf ihn geprägt, werden völlig handzahm, suchen viel Körperkontakt, haben einen quasi nie erlahmenden Spiel- und Erkundungstrieb, kurz: halten die gesamte Umgebung, in die sie nicht gehören, auf Trab. Als Tiere mit enorm hochtourigem Stoffwechsel brauchen sie außerdem täglich ein Kilogramm Fisch, und ihr Gebiss, das Fischköpfe zermalmt, kann mühelos Finger abbeißen. Maxwell ist jedoch am Ziel seiner Wünsche, schreibt liebevoll, er lebe "in der Knechtschaft von Ottern".
Irgendwann soll Mijbel vom Irak nach London und später weiter an die schottische Küste transportiert werden. Die Schilderung, wie der verstörte Gefangene aus seiner Reisekiste in den vollbesetzten Passagierraum eines Flugzeugs ausbricht und dort für Chaos sorgt, ist an Komik schwer zu überbieten – zumindest, wenn man nicht dabei gewesen ist.
Und dann beginnt das Zusammenleben von Mensch und Wassermarder.
Würden Sie mit einem Otter spazieren gehen? Maxwell tut es mit Hingabe.
Er baut sowohl seine Londoner Stadtwohnung als auch das Refugium an der Küste ottergerecht um, was vor allem heißt, dem Zerstörungstrieb Herr zu werden, und er widmet seinem neuen Gefährten, dem bald noch weitere seiner Art folgen sollen, enorm viel Zeit und Energie. Dabei eignet er sich immer mehr zoologisches – man könnte auch sagen: anekdotisches – Wissen über diese Spezies an, denn es ist durchaus nicht klar, ob ein in Gefangenschaft gehaltener Fischotter dieselben Verhaltensweisen zeigt wie ein in Freiheit lebender. Maxwell liefert regelrechte Charakterstudien. Und in der Tat: Betrachtet man Fotos von Mijbels Nachfolgerin Edal, wie sie mit perfekt dem Kindchenschema entsprechendem Kopf auf dem Rücken, ihre Arme vor der Brust verschränkt, in einem Schlafsack liegt, kann man sich der Vermenschlichung kaum entziehen. Noch weniger, wenn man Geschichten von diebischem Witz und Schläue liest.
Aber es bleibt ein unbeherrschbarer Rest. Es bleiben unkalkulierbare Reaktionen, die jedem domestizierten Tier längst ausgetrieben worden wären.
Der amerikanische Philosoph Mark Rowlands kauft in den 90er Jahren illegalerweise einen Wolfswelpen. Er hat viel Erfahrung im Umgang mit Hunden, ist schon im Elternhaus mit riesigen Deutschen Doggen aufgewachsen, nähert sich auch ihm unbekannten Tieren kundig und furchtlos. Was er mit diesem Wolfswelpen nach der Rückkehr in sein Haus erlebt, ist jedoch neu. Binnen Minuten, berichtet er, erhöht sich die Kaufsumme von 500 Dollar um weitere 500 Dollar durch Schäden im, am und unter seinem Haus.
Dennoch gelingt es ihm, den Wolf Brenin mit Hilfe professioneller Tiertrainer‑Methoden in kürzester Zeit so zu erziehen, dass er ohne Leine an seiner Seite geht, weiß, wann Spiel oder Jagd beendet sind, und ihn überallhin begleitet. Letzteres ist unabdingbar, da Brenin zeit seines Lebens, irgendwo alleingelassen, seine jeweilige Umgebung komplett zerlegt. Er akzeptiert Rowlands jedoch als Alpha‑Tier, lässt sich von ihm noch nach Welpenmanier am Nackenfell hochheben, als er schon 54 Kilo wiegt.
Furchterregend unberechenbar verlaufen nur Kämpfe mit großen Hunden. In diesen blitzschnellen Momenten zeigt Brenin, dass er nach wie vor ein Wolf ist, und einzig Rowlands‘ beherztem Ganzkörpereinsatz unter Inkaufnahme schwerer Verletzungen ist es zu verdanken, dass keine Leichen den Weg seines Haustiers pflastern.
Rowlands, Philosophieprofessor, ist fasziniert von der Kraft und Schönheit, letztlich von der Autonomie des vierbeinigen Gefährten, der die meisten Dinge, zu denen man Hunde abrichten kann, für völlig unter seiner Würde hält. Der Philosoph und der Wolf heißt das Buch, das er über ihr elfjähriges Zusammenleben schreibt. Brenin ist ihm steter Anlass, über die Unterschiede äffischer – sprich menschlicher – und wölfischer Weltauffassungen nachzudenken, gipfelnd in der Erkenntnis:
"Wir sind Geschöpfe der Zeit, doch Wölfe sind Geschöpfe des Augenblicks. Und wir empfinden Augenblicke als transparent. Wir strecken die Hand durch sie hindurch aus, wenn wir versuchen, Besitz von den Dingen zu ergreifen. Für uns sind Momente nie ganz real."
Während Mark Rowlands also im waghalsigen Schulterschluss mit einem wilden Tier, das er zu seinem Glück im Griff hat, auf intensive Weise über das Leben nachdenkt, gibt es auch Grenzgänger, die ein solches Unterfangen zerrbildhaft ad absurdum führen.
Werner Herzog porträtiert in seinem Dokumentarfilm "Grizzly Man" den selbsternannten Naturschützer Timothy Treadwell, der 13 Sommer lang nach Alaska reist, um dort in Nationalparks, unter Missachtung sämtlicher Vorschriften, in unmittelbarer Nähe von Grizzlys zu zelten. Er nimmt egomane Videos auf, beschimpft darin die ganze Welt, die Bären zu bedrohen, präsentiert sich als ihr Retter, erklärt, jedes Individuum zu kennen.
Lange sind sie im Hintergrund der Videos gleichmütig bei der Nahrungssuche zu sehen, aber im 13. Jahr werden Treadwell und seine Begleiterin, die sich noch mit einer Bratpfanne zu wehren versucht, von einem Grizzly getötet und teilweise gefressen.
Es fällt schwer, diesen Mann, der sich mit übersteigerten Gefühlen an die Wildnis anzubiedern versucht, nicht als tragischen Clown zu sehen. Auf eine verrückte Art vereinnahmt er die Bären, will sich gewissermaßen in ihnen spiegeln.
Er glaubt sogar, ihr Mienenspiel lesen zu können.
Werner Herzog kommentiert diesen Glauben lakonisch:
"Ich entdecke keinerlei Verwandtschaft, kein Verstehen, keine Gnade. Ich sehe einzig die überwältigende Gleichgültigkeit der Natur."
Die Otter-Idylle an der schottischen Küste ist mittlerweile zu einer regelrechten Wohngemeinschaft angewachsen. Wie Gavin Maxwell in einem Folgebuch beschreibt, beherbergt er zeitweise vier von ihnen gleichzeitig, außerdem hat er mehrere ständige Helfer bei ihrer Betreuung, schließlich auch eine Ehefrau, die dieses Leben mit ihm teilt.
Es geschieht in jener Zeit, dass die vertrauten und verspielten Otter plötzlich, ohne Vorwarnung, aggressiv werden und ernsthaft zubeißen. Einer der jungen Betreuer verliert mehrere Finger. Schwere Knöchelverletzungen finden statt.
Maxwell erklärt sich solche Attacken als Folge von Eifersucht. Damit schließt er den Kreis der Vermenschlichung, meint, die Persönlichkeiten seiner Tiere zu verstehen. Ob das zutrifft, steht dahin.
Er benutzt auch den Begriff "domestiziert", um sein Zusammenleben mit den Ottern zu charakterisieren – was eindeutig falsch ist. Edal und ihre Kollegen leben lediglich in einem Haus, sind an Menschen gewöhnt und handzahm, mehr nicht.
Domestikation ist nicht Zahmheit, sondern die sexuelle Isolierung der Kleingruppe einer Tierart und ihre genetische Beeinflussung.
Domestikation bedeutet zwar eine Gewöhnung an den Menschen, vor allem aber das Brechen der Flucht- und Verteidigungsreflexe.
Domestikation ist biologische Bildhauerarbeit.
Als Ergebnis leben heute geschätzt zwischen einer und zwei Milliarden Hausrinder und -büffel, über 700 Millionen Schweine und 17 Milliarden Hühner auf der Erde.
Ihre endlose kontrollierte Reproduktion bildet einen Tsunami der Verwertung, einen überquellenden Viehmarkt, auf dem neben den braven, erschöpften Nutztieren in den Seitengassen auch Gefährten fürs Gemüt angeboten werden.
Hauskatzen beispielsweise, die im allgemeinen ihrer Stammform, der ägyptischen Falbkatze, äußerlich noch stark ähneln, haben durch die Zuchtwahl ebenso gravierende Verhaltensänderungen erfahren wie andere Tierarten.
Sie sind in ihren Bewegungen wesentlich weniger schnell als die Falbkatze. Sie haben ein stark variierendes Beutefangverhalten, bis hin dazu, dass sie, unabhängig vom Futterangebot, teils gar nicht mehr jagen. Und sie setzen ihre Lautäußerungen anders ein als wilde Katzen. Das Schnurren zum Beispiel bleibt in der Stammform einzig den Jungtieren im Kontakt zur Mutter vorbehalten, bei erwachsenen Tieren hört man es nie. Auch die Hauskatzen sind also durch das modelliert, was Darwin "das größte biologische Experiment der Menschheit" nannte.
Eines Tages fischt Maxwell während einer Bootsfahrt das dem Ertrinken nahe Exemplar einer jungen Wildkatze aus dem Wasser und überlässt ihr zur Erholung sein Schlafzimmer.
Die Wildkatze, ein völlig undomestiziertes europäisches Kleinraubtier, meidet Menschen strikt, doch Maxwell, keinem Abenteuer abgeneigt, sieht die Sache als Herausforderung. Er will das Tier zwar nicht behalten, es aber zumindest eine Weile beobachten. Was er erlebt, ist zunächst die Verwüstung seines Schlafzimmers, außerdem, dass die wieder zu Kräften gekommene Katze sich absolut nicht berühren lässt und stets den unzugänglichsten Teil des Zimmers, einschließlich des Kaminaufstiegs, aufsucht, von wo aus sie den totalen Krieg erklärt.
Maxwell erfährt ein Inbild des Unzähmbaren.
Mit dieser Episode endet sein Buch.
Vielleicht ist die Domestizierung manchmal ein wechselseitiger Prozess, eine freiwillige wechselseitige Annäherung.
Es existiert das sehr interessante Phänomen möglicher Selbstdomestikation von Füchsen in Großstädten. Schon länger kann man dort ihre nachlassende Scheu beobachten. Sie werden am helllichten Tag beim Überqueren von Straßen gesehen, und sie finden in Menschennähe so viele und reichhaltige Nahrungsangebote, dass sie sich dort dauerhaft einrichten. Nun haben Untersuchungen an bereits länger in der Stadt lebenden Fuchspopulationen gezeigt, dass sie kürzere Schnauzen und eine geringere Gehirnmasse aufweisen als ihre Verwandten in Wald und Feld.
Vielleicht wiederholt sich gerade neben uns eine Situation, die den Wolf einst in die Reichweite menschlicher Siedlungen brachte – und den Hund aus ihm machte.
Noch lassen sich Stadtfüchse allerdings nicht streicheln.
Am Nordatlantik, an einem verwunschenen Ort, liegen zwei Felsen als Grabsteine. Der eine erinnert an Gavin Maxwell, der voller Selbstironie seine Erfahrungen in diesem weltabgeschiedenen, zugleich großartigen wie rauen Paradies schilderte. Die erste deutsche Übersetzung seines Buchs wählte den robinsonhaften Untertitel: "Allein mit meinen Tieren an Schottlands Küste". Tatsächlich erlebte er dort Grundformen der Beziehung zwischen Mensch und Tier: Von der loyalen Verbindung mit Hunden, der gleichmütigen Kenntnisnahme wiederkäuender Rinder, den koboldhaften Capricen seiner Otter-Gäste bis hin zum kompromisslosen Zähnefletschen einer Wildkatze.
Der zweite Stein erinnert an Edal, einen Fischotter, der sich eine Weile mit Gavin Maxwell vergnügte.