Giorgio Agamben findet die moderne Gesellschaft auf einem verhängnisvollen Weg: In einer unheilvollen Allianz zielen die Wirkkräfte Politik, Recht, Medien und angewandte Wissenschaft auf die Zersetzung unserer personalen Identität. Wir werden vor allem auf biometrisch erfasste Wesen reduziert, auf eine jederzeit gerichtlich verwertbare nackte Tatsache, objektiviert an Hand von Fingerabdrücken, medizinischen Daten und der DNS.
Es mutet beklemmend an, wenn eine Untersuchung über Nacktheit so beginnt, denken wir dabei doch erst ein Mal an den nackten Körper, der in uns Gedanken an Schönheit, Schutzbedürftigkeit und Begehren weckt. Agamben findet diese menschlichen Regungen indes überwuchert von einer Bio-Politik, die uns bis ins Mark trifft.
"Die Reduktion des Menschen auf nacktes Leben ist mittlerweile so weit fortgeschritten, dass auch die Identität, die der Staat seinen Bürgern zuerkennt, auf ihm beruht. Wie der nach Auschwitz Deportierte keinen Namen und keine Nationalität mehr hatte und nur noch Nummer war, die ihm auf den Arm tätowiert wurde, so wird der sich in der anonymen Masse verlierende, als potentieller Verbrecher behandelte Bürger unserer Tage von nichts anderem bestimmt als seinen biometrischen Daten und letzten Endes von etwas, das noch undurchschaubarer und unverständlicher ist, als das antike Fatum war, seiner DNA."
Für Agamben tragen diese Fehlentwicklungen eindeutig eine theologische Signatur, die auf die biblische Genesis zurückgeht: Adam und Eva schämen sich nach dem Sündenfall ihrer Nacktheit. Für den Kirchenlehrer Augustinus bot dieses Ereignis Anlass für eine folgenschwere Interpretation: Das nackte Paar habe vor dem Sündenfall ein Gnadenkleid Gottes getragen. Nach dem Sündenfall sei ihnen dieses Gnadenkleid entzogen worden. So blieben sie nackt zurück, gezwungen in eine Natur, die das Böse in sich trägt, weil sie sich mit der Libido verbündet und dem Willen nicht fügt. Agamben zeigt allerdings noch eine andere theologische Interpretation des Geschehens auf.
"Der Sündenfall ist kein Sündenfall des Fleisches, sondern einer des Geistes; die verlorene Unschuld und die Nacktheit betreffen keine Form der Sexualität, sondern Hierarchie und Modalitäten der Erkenntnis."
Der Mensch - so hat man das zu verstehen - erkennt sich im Paradies plötzlich als ein Mängelwesen. Er tauscht die behäbige Kontemplation im Garten Eden mit der neuen Fähigkeit des Erkennens ein. Eine ebenso folgenreiche Entscheidung, denn nun wird Nacktheit in mehrfacher Weise Thema der menschlichen Geschichte: sie bezeichnet den dümmlichen Zustand vor aller Erkenntnis, setzt selbst als nackte Erkenntnis Impulse für die Zukunft. Vor allem aber wird der nackte Mensch fortan Objekt der Erkenntnis und später der Wissenschaften.
Leider entwickelt Agamben diese Überlegungen nicht zwingend weiter an dieser Stelle. Stattdessen springt er unvermittelt in eine Beschreibung der Gegenwart. Da dominiert plane Verfügung, was die Politik des nackten Körpers betrifft : der Kampf um den richtigen Körper führt zu stählernen Konstruktionen oder körperfeindlicher Bulimie: der entblößte Mensch gerät ins Blickfeld der Gerichtsbarkeit , der Medizin, und der Mode: Mannequins verweigern jede Anmutung von Individualität und Verletzbarkeit, sie sehen nackt genau so angezogen aus wie bekleidet. Es ist, als ob das coole Zur-Schau-tragen des Körpers dem alten Gnadenkleid Gottes entspräche. Der entblößte Mensch wird aber auch ein entrechteter Mensch kraft einer Doktrin, die das nackte Leben vom bedeutsamen Leben absondert.
Zur Einstimmung in diese Analyse liefert Agamben die Exegese eines Kafka-Textes. In der Erzählung "Der Prozess" ist K in eine juristisch verwaltete Welt geworfen, die ihm keinen anderen Ausweg gestattet als sich selbst zu verleumden und anzuklagen. Damit will K nach Meinung Agambens indes vermeiden, ein Schuldbekenntnis abzulegen und so in den Wahrheitsanspruch der juristischen Welt einzuwilligen. Der verzweifelte Versuch, ein Stückchen Autonomie zu bewahren. Dies ist eine recht eigenwillige Interpretation, die den radikalen Ansatz verdeutlicht, mit dem Agamben der Geschichte begegnet. Eine Radikalität, die er auch für seine Position als kritischer Autor beansprucht. Hier sieht er sich in der Tradition der unzeitgemäßen Denker, die ihre Zeit in Gedanken erfassen konnten. Bei all diesen methodischen und metaphorischen Ausuferungen des Themas bleibt eine Frage offen: Lässt sich überhaupt eine Nacktheit denken jenseits der zivilisatorischen Verzerrungen?
"Was wir wiederfinden müssen, ist Adams Nacktheit, bevor Gott ihm das Glorienkleid überstreifte. Jedoch weder als verlorenen Naturzustand noch als Verheißung eines kommenden, sondern als etwas, das wir hier und heute Stück für Stück von dem theologischen Gewebe befreien müssen, das es umhüllt."
Die Forderungen führen Agamben auf das schwierige Feld der engeren philosophischen Diskussion um Schönheit und Erhabenheit , die besonders in Deutschland geführt wurde. Am stärksten fühlt er sich hier Walther Benjamin verwandt. Jenem Benjamin, der in seinen späteren Jahren darum bemüht war, einen marxistischen Blick auf die Phänomene mit einem Messianismus der Erlösung zu vereinen. Auf die Nacktheit bezogen besagt dies: Wie Benjamin möchte Agamben die schöne Nacktheit als Vorschein der Erlösung deuten - fern aller Ideologie von Theologie und gesellschaftlicher Zurichtungen.
Agamben will so die Nacktheit humanisieren. Höchst fragwürdig erscheint indes der männliche Blick, den er gelegentlich dabei einnimmt. Da tritt ihm etwa die Frau vor Augen, die ihre Schönheit selbst kalt abtut und so den intellektuellen Mann erst verrückt macht; und da ist der Knabe, der in seinem absichtslos schönen Gesang im Manne die Anmutung von nackter Reinheit hervorruft. Warum ist es nicht ein Mädchen? Sollte hier ein Subtext angelegt sein, in dem die Nacktheit mit der Libido kämpft - einer Libido, die Agamben ansonsten ausblendet? An deren Stelle tritt bei ihm eine ganze Philosophie der Nacktheit. Sie reiht sich auf zu einer Kette aus lauter Nichts: Mit Nacktheit gibt der Mensch sich eine positive Blöße, verweigert sich der Macht, gesteht seine Ohnmacht und sein Nichtkönnen ein. All dies erinnert stark an Adornos "Negative Dialektik" beeinträchtigt aber den konkreten Gewinn, den man durchaus aus diesen Untersuchungen ziehen kann.
Giorgio Agamben: "Nacktheiten", Übersetzung von Andreas Hiepko, S. Fischer Verlag 2010, 192 Seiten, 19,95 Euro
Es mutet beklemmend an, wenn eine Untersuchung über Nacktheit so beginnt, denken wir dabei doch erst ein Mal an den nackten Körper, der in uns Gedanken an Schönheit, Schutzbedürftigkeit und Begehren weckt. Agamben findet diese menschlichen Regungen indes überwuchert von einer Bio-Politik, die uns bis ins Mark trifft.
"Die Reduktion des Menschen auf nacktes Leben ist mittlerweile so weit fortgeschritten, dass auch die Identität, die der Staat seinen Bürgern zuerkennt, auf ihm beruht. Wie der nach Auschwitz Deportierte keinen Namen und keine Nationalität mehr hatte und nur noch Nummer war, die ihm auf den Arm tätowiert wurde, so wird der sich in der anonymen Masse verlierende, als potentieller Verbrecher behandelte Bürger unserer Tage von nichts anderem bestimmt als seinen biometrischen Daten und letzten Endes von etwas, das noch undurchschaubarer und unverständlicher ist, als das antike Fatum war, seiner DNA."
Für Agamben tragen diese Fehlentwicklungen eindeutig eine theologische Signatur, die auf die biblische Genesis zurückgeht: Adam und Eva schämen sich nach dem Sündenfall ihrer Nacktheit. Für den Kirchenlehrer Augustinus bot dieses Ereignis Anlass für eine folgenschwere Interpretation: Das nackte Paar habe vor dem Sündenfall ein Gnadenkleid Gottes getragen. Nach dem Sündenfall sei ihnen dieses Gnadenkleid entzogen worden. So blieben sie nackt zurück, gezwungen in eine Natur, die das Böse in sich trägt, weil sie sich mit der Libido verbündet und dem Willen nicht fügt. Agamben zeigt allerdings noch eine andere theologische Interpretation des Geschehens auf.
"Der Sündenfall ist kein Sündenfall des Fleisches, sondern einer des Geistes; die verlorene Unschuld und die Nacktheit betreffen keine Form der Sexualität, sondern Hierarchie und Modalitäten der Erkenntnis."
Der Mensch - so hat man das zu verstehen - erkennt sich im Paradies plötzlich als ein Mängelwesen. Er tauscht die behäbige Kontemplation im Garten Eden mit der neuen Fähigkeit des Erkennens ein. Eine ebenso folgenreiche Entscheidung, denn nun wird Nacktheit in mehrfacher Weise Thema der menschlichen Geschichte: sie bezeichnet den dümmlichen Zustand vor aller Erkenntnis, setzt selbst als nackte Erkenntnis Impulse für die Zukunft. Vor allem aber wird der nackte Mensch fortan Objekt der Erkenntnis und später der Wissenschaften.
Leider entwickelt Agamben diese Überlegungen nicht zwingend weiter an dieser Stelle. Stattdessen springt er unvermittelt in eine Beschreibung der Gegenwart. Da dominiert plane Verfügung, was die Politik des nackten Körpers betrifft : der Kampf um den richtigen Körper führt zu stählernen Konstruktionen oder körperfeindlicher Bulimie: der entblößte Mensch gerät ins Blickfeld der Gerichtsbarkeit , der Medizin, und der Mode: Mannequins verweigern jede Anmutung von Individualität und Verletzbarkeit, sie sehen nackt genau so angezogen aus wie bekleidet. Es ist, als ob das coole Zur-Schau-tragen des Körpers dem alten Gnadenkleid Gottes entspräche. Der entblößte Mensch wird aber auch ein entrechteter Mensch kraft einer Doktrin, die das nackte Leben vom bedeutsamen Leben absondert.
Zur Einstimmung in diese Analyse liefert Agamben die Exegese eines Kafka-Textes. In der Erzählung "Der Prozess" ist K in eine juristisch verwaltete Welt geworfen, die ihm keinen anderen Ausweg gestattet als sich selbst zu verleumden und anzuklagen. Damit will K nach Meinung Agambens indes vermeiden, ein Schuldbekenntnis abzulegen und so in den Wahrheitsanspruch der juristischen Welt einzuwilligen. Der verzweifelte Versuch, ein Stückchen Autonomie zu bewahren. Dies ist eine recht eigenwillige Interpretation, die den radikalen Ansatz verdeutlicht, mit dem Agamben der Geschichte begegnet. Eine Radikalität, die er auch für seine Position als kritischer Autor beansprucht. Hier sieht er sich in der Tradition der unzeitgemäßen Denker, die ihre Zeit in Gedanken erfassen konnten. Bei all diesen methodischen und metaphorischen Ausuferungen des Themas bleibt eine Frage offen: Lässt sich überhaupt eine Nacktheit denken jenseits der zivilisatorischen Verzerrungen?
"Was wir wiederfinden müssen, ist Adams Nacktheit, bevor Gott ihm das Glorienkleid überstreifte. Jedoch weder als verlorenen Naturzustand noch als Verheißung eines kommenden, sondern als etwas, das wir hier und heute Stück für Stück von dem theologischen Gewebe befreien müssen, das es umhüllt."
Die Forderungen führen Agamben auf das schwierige Feld der engeren philosophischen Diskussion um Schönheit und Erhabenheit , die besonders in Deutschland geführt wurde. Am stärksten fühlt er sich hier Walther Benjamin verwandt. Jenem Benjamin, der in seinen späteren Jahren darum bemüht war, einen marxistischen Blick auf die Phänomene mit einem Messianismus der Erlösung zu vereinen. Auf die Nacktheit bezogen besagt dies: Wie Benjamin möchte Agamben die schöne Nacktheit als Vorschein der Erlösung deuten - fern aller Ideologie von Theologie und gesellschaftlicher Zurichtungen.
Agamben will so die Nacktheit humanisieren. Höchst fragwürdig erscheint indes der männliche Blick, den er gelegentlich dabei einnimmt. Da tritt ihm etwa die Frau vor Augen, die ihre Schönheit selbst kalt abtut und so den intellektuellen Mann erst verrückt macht; und da ist der Knabe, der in seinem absichtslos schönen Gesang im Manne die Anmutung von nackter Reinheit hervorruft. Warum ist es nicht ein Mädchen? Sollte hier ein Subtext angelegt sein, in dem die Nacktheit mit der Libido kämpft - einer Libido, die Agamben ansonsten ausblendet? An deren Stelle tritt bei ihm eine ganze Philosophie der Nacktheit. Sie reiht sich auf zu einer Kette aus lauter Nichts: Mit Nacktheit gibt der Mensch sich eine positive Blöße, verweigert sich der Macht, gesteht seine Ohnmacht und sein Nichtkönnen ein. All dies erinnert stark an Adornos "Negative Dialektik" beeinträchtigt aber den konkreten Gewinn, den man durchaus aus diesen Untersuchungen ziehen kann.
Giorgio Agamben: "Nacktheiten", Übersetzung von Andreas Hiepko, S. Fischer Verlag 2010, 192 Seiten, 19,95 Euro