Während sie diese Strophen purer Wehklage anstimmte, starrte seine Mutter ihn wieder direkt an. Ihre Stimme wurde jetzt sogar noch leidenschaftlicher als bisher, aber niemals zu dramatisch oder effekthascherisch. Sie wandte den Blick nicht von Noel, als sie zur berühmten letzten Strophe kam. Er seinerseits hatte sich eine Oberstimme zurechtgelegt, mit der er ihren Gesang begleiten konnte. Er stellte sich mit aller Inbrunst vor, wie es zu schaffen wäre, wie ihre Stimme sich einer solchen Begleitung entziehen und sie vielleicht bewusst auszuspielen versuchen würde, aber er war überzeugt, wenn er bereit wäre, in dem entscheidenden Moment noch eine Spur höher oder tiefer zu gehen, wäre es zu schaffen gewesen. Trotzdem hütete er sich, den Mund aufzumachen, und sah sie schweigend an, während sie ihm in die Augen blickte; er wusste, dass jeder sie ansah, während sie von ihrer Liebe sang, die ihr Nord genommen und Süd genommen, Ost genommen und West genommen hatte, und jetzt - sie senkte wieder den Kopf und sprach die letzten Worte beinah - hatte die Liebe ihr auch Gott genommen.
Der Junge stimmt nicht in den Gesang seiner Mutter ein. Er gibt sich ihr nicht zu erkennen. In der Erzählung "Das Lied" aus Colm Toibins Erzählband "Mütter und Söhne" hat der Sohn seine Mutter noch nie gesehen. Sie verließ die Familie, als er ein Kleinkind war, um ihre Karriere als Sängerin zu verfolgen.
Jahre später sieht er sie auf der Bühne einer der Jazzkneipen, in denen er selbst auftritt. Mutter und Sohn sehen sich an, aber die Begegnung findet nicht statt. Auch in den anderen Erzählungen von Toibins erstem Erzählungsband sind die Begegnungen zwischen Mutter und Sohn verfehlt. Sie werden angstvoll oder glühend ersehnt, nüchtern vorgestellt und meistens verpasst. In keiner davon ist Glück.
Geht es in den zehn Geschichten überhaupt um Liebe und nicht um Vereinnahmung oder Aggression, dann bleibt die Liebe unausgesprochen, Gefühle werden nicht erwidert. Die Söhne sind vernachlässigt, die Mütter überfordert. Die Mütter meinen es so gut, dass die Söhne es nicht aushalten. Die Söhne verlieren ihre Mütter oder haben in ihnen nie eine Mutter gehabt. Die Mütter wollen von ihren Söhnen nicht an die eigene Vergangenheit erinnert werden, und die Söhne kommen von ihrer eigenen Mutter-Vergangenheit nicht so leicht frei. Der irische Autor zeichnet ein komplexes psychologisches Geflecht nach, für das es in der Literatur nicht allzu viele berühmte Beispiele gibt.
Während Vater-Sohn-Beziehungen in der Literatur häufig vorkommen und gern als Allegorie verwendet werden, um Generationenkonflikte innerhalb einer Gesellschaft zu verdeutlichen, sind Mutter-Sohn-Beziehungen, die Literaturgeschichte geschrieben haben, selten.
Im Sturm-und-Drang war die Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn die Folie, auf der eine überholte Lebensmoral, veraltete religiöse Ideen und eine neue Vorstellung vom Individuum verhandelt wurden. Mütter kommen so gut wie nie vor. Sie sind wie im Falle Werthers, der bei seiner Mutter aufwächst, nur die gütige Schattengestalt oder stehen für die Unveränderlichkeit des Alten, im Falle von Lessings spätaufklärerischem Stück "Emilia Galotti" für die Unveränderlichkeit religiös-orthodoxer Weltbilder.
Eine Ausnahme ist die griechische Tragödie. Hier darf die Mutter immerhin Anstifterin von Verbrechen sein, wie beispielsweise Thetis, die ihren Sohn Achill davon überzeugt, sich im Trojanischen Pferd zu verstecken, um die Griechen zu besiegen. Auch Marcel Proust schlägt einen etwas anderen Ton an, wenn er seinen jungen Helden in "Die Suche nach der verlorenen Zeit" sich sehnsüchtig nach der Mutter verzehren lässt. Dieser sich von seiner Mutter verloren glaubende Sohn dürfte dem Vorhaben Toibins näher gelegen haben, als die Auseinandersetzung mit revolutionären gesellschaftlichen Tendenzen.
Der Titel "Mütter und Söhne" hat einen Anklang an Iwan Turgenjews Roman "Väter und Söhne". Toibins Geschichten, die bereits einzeln in Zeitschriften und Anthologien publiziert wurden, erschienen gemeinsam 2006 unter dem englischen Titel "Mothers and Sons". Der russische Autor Turgenjew verhandelte in seinem Roman das Aufbegehren der jüngeren, von westlichen Denkmodellen beeinflussten Generation gegen die russisch-nationalistische geprägte Einstellung ihrer Väter. Um die Schilderung umwälzender gesellschaftlicher Veränderungen geht es dem irischen Autor allerdings nur in zweiter Linie. In erster Linie geht es um die Auseinandersetzung mit der speziellen Begehrensstruktur, in der die Mutter die erste Geliebte des Mannes ist, für die die wohl noch immer berühmteste Mutter-Sohn Geschichte als Anregung gedient haben mag: Ödipus von Homer.
Toibin interessieren die Spuren, die dieses frühkindliche Begehren in Mutter und Sohn hinterlässt, und darüber hinaus beschäftigt ihn ganz grundsätzlich jenes beharrliche Schweigen, das die Mitglieder einer Familie mindestens ebenso aneinander bindet wie Alltag, Zuneigung und Blut.
Die Geschichten seiner kleinbürgerlichen Helden siedelt er im katholisch geprägten Dorfleben Irlands an, mit Ausnahme einer Geschichte, die in Spanien spielt. Es gibt Kleinkriminelle und Geistliche, es gibt Jazzsänger und Bauern, und häufig sind die Berufe der Söhne mit den Berufen der Mütter auf unterschwellige Weise verknüpft. Die Väter sind abwesend, tot, haben die Familie verlassen oder spielen eine unwesentliche Rolle.
In der Erzählung "Die Parole" bleibt Nancy, die Mutter, nach dem Tod ihres Mannes mit einem Berg Schulden zurück. Ihr Mann hatte ohne Wissen der Familie eine Hypothek auf den kleinen familiären Supermarkt aufgenommen. Jetzt stehen sie kurz vor dem Bankrott. Einziger Ausweg ist der Vorschlag eines Lieferanten, eine Fish-and-Chips-Bude zu eröffnen.
An der persönlichen Geschichte Nancys zeichnet Toibin die Sozialgeschichte eines irischen Ortes nach, der sich langsam in eine moderne Zeit hinein verändern und sich einer neuen Marktsituation öffnen muss: familiäre Traditionen, und die durch Familienbesitz begründeten Hierarchien gehen verloren. Nancy wird von den Einwohnern angefeindet, die ihr immer noch übelnehmen, unstandesgemäß in eine reiche Familie eingeheiratet zu haben. Sie gönnen ihr den Erfolg ihrer Imbissbude nicht. Also steckt sie ihre ganze Energie in den Traum von einem unabhängigen Leben in Dublin, für den sie eines Tages die Imbissbude zu einem guten Preis verkaufen will. Aber ihr Sohn will nicht auf die Universität gehen, sondern das Geschäft übernehmen.
Der Generationenkonflikt scheint hier umgekehrt: Die Emanzipation der Mutter, die sich der neuen Zeit anverwandelt und Unabhängigkeit anstrebt, entsetzt den Sohn, der sich auf die Traditionen besinnt, auf die Heimat, und in die Fußstapfen des Vaters treten will. In der Vergangenheit sucht er seine Zukunft, während die Mutter der Veränderung anhängt.
"Wenn du älter bist, wirst du dankbar dafür sein", sagte sie.
"Also das eine kann ich dir sagen, ich werde nie dankbar sein. Dankbar dafür, dass ich nirgendwo hingehören werde, kein Zuhause haben werde, rein gar nichts haben werde?"
Er war noch immer den Tränen nah.
"Wenn Daddy wüsste, was du da tust."
"Fang nicht damit an."
"Gott, er schaut jetzt bestimmt zu uns herunter", sagte er.
"Ich muss arbeiten gehen", sagte sie.
"Gott, wenn Daddy dich jetzt sehen würde!" sagte er.
Sie ging an ihm vorbei und stellte fest, dass die zwei Mädchen schon da waren. Sie sagte ihnen, dass sie gleich wieder zurück sein würde, und ging hinaus auf den Platz. Anfangs wusste sie nicht, wohin sie ging. Die meisten Geschäfte waren dabei zu schließen, und es herrschte nicht viel Verkehr. Ohne bestimmte Absicht begann sie, die Schaufenster entlangzugehen, sah sich anfangs, um sich abzulenken, die Auslagen an, nahm aber schon bald mehr als alles andere ihr eigenes Spiegelbild in den Schaufenstern wahr.
Sie sah sich an, als wäre sie eine Fremde, jemand, der einfach ihren Blick erwiderte, weder mitfühlend, noch froh, sie zu sehen, feindselig fast. Dieser Blick beruhigte sie, aber trotzdem ging sie weiter von Schaufenster zu Schaufenster. Sie würde durch die Stadt bummeln, dachte sie, als würde sie vielleicht nie wieder die Gelegenheit dazu haben. Und am Montag würde sie das Schild anbringen lassen, auf dem stand, dass das Geschäft zu verkaufen war. Sie war gerettet, dachte sie. Sie konnte jetzt nach Hause gehen und die abendliche Arbeit beginnen. Heute Abend würde viel los sein, besonders später. Sie würde ihre ganze Energie benötigen.
Auch in der ersten Erzählung in Toibins Erzählband "Der Gebrauch der Vernunft" ist der Vater abwesend. Der Sohn ist ein Kleinkrimineller, der sich und seine Mutter durch Diebstahl finanziert. Er hat sich ein ausgeklügeltes System an Verbindungsmännern geschaffen und geht ohne Risiko vor, lässt sich aber eines Tages doch dazu verlocken, einen Kunstraub zu begehen. Er entwendet drei teure Gemälde, für die er keine Käufer hat.
Dieser Bruch mit seinen eigenen Prinzipien, das Eingehen eines Risikos, bringt Unruhe in sein geordnetes Leben und stellt die einzige emotionale Erschütterung dar, zu der dieser Mann, der einen Teil seiner Kindheit in einem katholischen Erziehungsheim verbrachte, überhaupt in der Lage ist. Selbst seiner Mutter gegenüber bleibt er distanziert, schon als Kind angewidert von ihrer hysterischen Stimme und ihren alkoholisierten Gefühlsausbrüchen.
Den Vater ersetzen in der Erziehungsanstalt die Mönche. Ihre Autorität allerdings ist eine scheinbare. Sie bricht in dem Moment, in dem der Junge sie dabei beobachtet, wie sie sich an den Züchtigungsmaßnahmen aufgeilen.
Sie masturbierten. Sie wandten kein Auge von der Szene, die sich vor ihnen abspielte - von dem Jungen, der bestraft wurde und jedes Mal aufschrie, wenn der Riemen ihn traf. Bis dahin hatte er es verabscheut, wenn Mitzöglinge bestraft wurden. Er hatte es verabscheut, sich inmitten des allgemeinen Schweigens und der Angst so ohnmächtig zu fühlen. Aber er war fast zu dem Glauben gelangt, diese Bestrafungen wären notwendig, Teil einer naturgegebenen Ordnung, für deren Aufrechterhaltung die Brüder verantwortlich waren. Jetzt wusste er, dass dabei noch etwas anderes im Spiel war, etwas, was er nicht begriff und über das nachzudenken er einfach nicht über sich brachte. Das Bild war ihm wie eine fotografische Aufnahme im Kopf geblieben: Die zwei Brüder in der Sicherungskammer sahen nicht wie für irgend etwas verantwortliche Männer aus, sie sahen eher wie hechelnde alte Hunde aus.
In dieser Erzählung klingt vielleicht am deutlichsten eine der Fragen an, die alle Texte dieses Buches unterschwellig verbinden: Was geschieht, wenn der Mann nicht länger das Gesetz darstellt, wenn seine Rolle als Initiator der gesellschaftlichen Ordnung an Gültigkeit verliert?
In Toibins Universum scheinen Männer nur als Söhne zu existieren. Söhne in einer seltsam leeren Abhängigkeit, Söhne, die sich fremd sind und immer schon erwachsen. Der namenlose Erzähler in "Der Gebrauch der Vernunft" hat schon als Kind einen gnadenlosen Pragmatismus entwickelt, seine Methoden, sich andere Kinder zu unterwerfen, sind allein zweckorientiert: Es trifft nicht die, die er hasst, oder die, die er mag, sondern die, die er brauchen kann. Dieser Junge hat die Regeln der Ordnung verinnerlicht, um sie gegen diese Ordnung anzuwenden, zum eigenen Nutzen.
Als erwachsener Mann verkörpert er sie nicht länger, sondern unterhöhlt sie. Und hier lässt sich Colm Toibins Erzählband doch als gesellschaftskritisches Buch lesen. Die Auseinandersetzung zwischen Müttern und Söhnen wird zur Auseinandersetzung mit einer Welt, in der sich geschlechterpolitische Einstellungen verschieben, in der die patriarchale Ordnung an Einfluss verliert.
Gehen den Söhnen die Mütter verloren, sind sie hilflos, orientierungslos wie Fergus, der Protagonist in der Erzählung "Drei Freunde", der sich nach der Beerdigung seiner Mutter auf einem Techno-Konzert am Strand mit Drogen zudröhnt. Zu Lebzeiten konnte er sich der Mutter nie nähern und mit ihrem Tod ist nun auch die Chance dazu für immer vergeben. Der Sex mit einem seiner Freunde gibt ihm wieder eine Richtung vor, eine Lebensrichtung, auch wenn sie auf die Triebrichtung der Körper beschränkt bleibt.
Gleichzeitig scheint dieser Sex nichts weiter zu sein als das unbekümmerte Spiel von Kindern, das mit dem Tod der Mutter unmöglich geworden ist und das es vielleicht zu ihren Lebzeiten so gar nicht gegeben hat. Toibin ist ein Meister des Uneindeutigen; bei größtmöglicher Konkretheit bleiben am Ende alle seine Geschichten offen.
Der Sohn aus der Erzählung "Eins minus eins" ist nach dem Tod seiner unerreichbaren, gleichgültigen Mutter dagegen erleichtert, dass es für jeden Versuch einer Annäherung endgültig zu spät ist. Allerdings braucht er sechs Jahre, um sich das einzugestehen.
Für Miguel, den Sohn in der längsten Erzählung des Buches, "Ein langer Winter", werden das Bild, das er von seiner Mutter hat, und sein eigenes Leben plötzlich in Frage gestellt, als die Mutter ohne Vorwarnung in einen Schneesturm hinausläuft. Sie flieht vor der familiären Enge, vor dem Einerlei auf dem Bauernhof. Der Alkohol und die Liebe zu ihrem jüngsten Sohn taugen nicht länger als Fluchtmöglichkeit. Der Jüngste wurde zur Armee eingezogen, und den Alkoholvorrat schüttet ihr Mann eines Tages weg, wodurch ihr jahrelang angestauter Hass in einem einzigen Satz hervorbricht.
Diese kraftvolle, lähmend langsame Geschichte ist eine der stärksten in Toibins Buch. Sie erzählt davon, wie ein Sohn durch den Verlust seiner Mutter und die Suche nach ihr zu sich selbst findet. Die verzweifelten Märsche und Fahrten durch den Schneesturm, durch wegelosen Tiefschnee, in dem die Orientierung verloren zu gehen droht, wird zur Metapher für die Suche nach der Person, die die Mutter wirklich ist. Die sie als Individuum hinter ihrer Rolle ist.
Sie fuhren die enge Straße entlang aus dem Dorf hinaus; die Scheibenwischer arbeiteten auf Hochtouren, aber trotzdem behinderte der Schnee die Sicht, und die Scheinwerfer beleuchteten Schwaden von Weiß. Wäre sie ihnen auf der Straße entgegengekommen, selbst mit ausgebreiteten Armen, hätten sie sie nicht gesehen. Es musste seinem Vater klar sein, dass ihre Fahrt so gut wie keinen Sinn hatte. Ihre einzige Hoffnung, dachte Miguel, war, dass sie später losgegangen war, als Mateu gesagt hatte. Er dachte kurz darüber nach und dann über die Möglichkeit, dass sie langsam gegangen war oder an irgendeinem Punkt kehrtgemacht hatte, und dann verweilte er bei einer weiteren Möglichkeit - dass sie im Gegenteil schnell gegangen und sogar noch früher aufgebrochen war, als Mateu gesagt hatte, und dass sie schon in der Nähe von Pallosa war, dass sie die alten Pfade so gut es ging hinunterkletterte, langsam und vorsichtig. Sie kannte sich in dem Gelände aus; es war unwahrscheinlich, dachte Miguel, dass sie sich verirren würde. Aber sicher war er sich nicht.
In den meisten der Erzählungen von Colm Toibin läuft die Suche nach der Person hinter der Mutter ins Leere. Alle diese Frauen füllen den Söhnen gegenüber eine Rolle aus, wie vielleicht auch die Söhne, weniger bewusst, gegenüber den Müttern. Als Menschen sind sie dagegen unbeschrieben und tatsächlich weiß wie der Schnee. Aber auch die Mutterrollen sitzen nicht richtig. Es scheint, als versuchten die Frauen verzweifelt etwas nachzuspielen, wovon sie die Vorlage gar nicht kennen. Sie ahnen nur, dass sie es spielen müssen, weil es verlangt wird, ohne dass klar wäre, von wem. Von den Söhnen?
Folgt man Toibin, dürfte das fragwürdig sein. Dass die Mutterrolle bloße Imitation ist, wird durch die fehlende Nähe zu den Söhnen deutlich. In keiner seiner Erzählungen sind sich Mutter und Sohn vertraut. In keiner weiß der eine davon, was für ein Mensch die andere ist, weiß die Mutter, wer der Sohn ist, und der Sohn nichts von der Mutter. "Ein Priester in der Familie" handelt, etwas plakativ, von der Unerschütterlichkeit einer Mutter in ihrer Liebe zu ihrem Sohn, der wegen Kindesmissbrauch vor Gericht steht, und von ihrer Verweigerung, ihn als Täter zu sehen.
Eine andere Mutter kann es nicht ertragen, dass ihr Sohn Platten aus ihrer Zeit als Bandsängerin auf CDs brennt, weil sie das an den Tod ihrer Schwester erinnert, von der der Sohn nicht die geringste Ahnung hat.
Toibin zeigt, dass das naheste und intimste Verhältnis, das zwischen Menschen möglich ist, die Mutter-Kind-Symbiose, nur um den Preis der Entfremdung möglich ist, so, wie vielleicht alle Nähe nur um diesen Preis zu haben ist; ein Mechanismus der Distanz, der dafür sorgt, dass das Individuum nicht der Selbstauflösung preisgegeben wird.
Am deutlichsten wird dieser Mechanismus in der Erzählung "Ein Sommerjob". Die innige Beziehung zwischen einem Jungen und seiner Großmutter verwandelt sich mit beginnender Pubertät bei dem Jungen in völlige Gleichgültigkeit. Als seine früher heißgeliebte Oma stirbt, zuckt er nur die Schultern, und die Mutter, die ihn am Fenster beobachtet, stellt fest, dass sie ihren Sohn überhaupt nicht deuten kann.
So wenig Toibins Figuren ihre Gefühle preisgeben - nicht mal sich selbst -, so sparsam ist auch die Wahl der erzählerischen Mittel des Autors. Seine Helden sind Durchschnittsmenschen, oft Verlierer, und egal, ob sie aus Irland oder Spanien sind, sie stehen alle unter demselben nüchternen Erzählerblick. Ihr Handeln und ihre Art zu schweigen, sind für Toibin die einzigen zulässigen Zeichen ihres inneres Dilemmas. Und gerade mit dieser Sparsamkeit kommt der Autor dem Ungesagten oder Ungezeigten auf die Spur. Egal, ob es um heterosexuelle oder homosexuelle Neigungen geht, unabhängig davon, wie sich die Beziehung zwischen Mutter und Sohn gestaltet, an den Stellen, wo sich ein Gefühl, eine große Emotion einstellen könnte, an den Stellen also, an der die Geschichte Pathos oder Spannung aus dem Drama der Gefühle gewinnen würde, brechen die Geschichten ab. Große Emotionen sind nicht im Alltag, nur in der Kunst artikulierbar, wie Toibin am Beispiel des Liedes zeigt, als Träger dessen, was nicht zur Sprache kommen kann:
Als ihre Stimme ertönte, schien sie von nirgendwoher zu kommen. Sie hatte, selbst in den tiefen Lagen, mehr Kraft als die Stimme auf der Schallplatte. Die meisten Leute im Lokal, dachte Noel, kannten wahrscheinlich eine oder zwei schlichtere Versionen des Liedes, das sie jetzt sang, und ein paar kannten vielleicht auch die Version seiner Mutter. Das Lied handelte wie viele der alten Lieder, von unerwiderter Liebe, aber es unterschied sich von den meisten von ihnen durch seine zunehmende Bitterkeit. Bald wurde es zu einem Lied über Verrat. Bisweilen ließ sie eine halbe Sekunde Pause zwischen den einzelnen Phrasen, nicht, um Atem zu holen, sondern um den Raum und die Menschen darin zu mustern, sie ihre eigene Reglosigkeit spüren zu lassen, als das Lied zu seinem langsamen verzweifelten Abschluss ansetzte.
Toibin spürt die Adern auf, die unterhalb der Dramen, unterhalb der Gespräche und familiären Geste liegen. Die Erzählungen dieses Buches sind Variationen auf ein Thema: Dass das eigentliche Drama in menschlichen Beziehungen darin besteht, dass es nicht geschieht. Die Reglosigkeit tritt an die Stelle der Katastrophe. Die tiefen emotionalen Erschütterungen laufen für Toibin verdeckt ab, zeitversetzt zu ihrer Ursache. Das Unglück zeigt sich nicht in der Auseinandersetzung, sondern im Vermeiden der Auseinandersetzung. Die Folgen von Ereignissen zeigen sich oft erst viel später. Gelangen sie an die Oberfläche, verursachen sie neue Erschütterungen, die wiederum jahrelang unterschwellig Spuren legen. Ursache und Wirkung liegen in der emotionalen Wirklichkeit soweit auseinander, dass es unmöglich ist, eines auf das andere zu beziehen, unmöglich, mit dem "Gebrauch der Vernunft", wie die erste Geschichte heißt, das komplexe psychische Geflecht zu entwirren, aus dem jede familiäre Verbindung besteht.
Die beiden Übersetzer, Giovanni und Ditte Bandini, haben das langsame, tastende, schürfende Schreiben von Colm Toibin gekonnt in ein gutes, verhaltenes Deutsch gebracht. Toibins erster Erzählband handelt auf atemberaubend schlichte Weise von der meist unsichtbaren Wirkung der übermächtigen Bande zwischen Mutter und Sohn und davon, wie Generationenkonflikte sich vom Vater- und Sohn-Modell lösen, in einer Zeit, in der die kleinbürgerliche Familie an Wirklichkeit verliert.
Colm Toibin: Mütter und Söhne
Hanser Verlag, 288 Seiten, 19,90 Euro
Der Junge stimmt nicht in den Gesang seiner Mutter ein. Er gibt sich ihr nicht zu erkennen. In der Erzählung "Das Lied" aus Colm Toibins Erzählband "Mütter und Söhne" hat der Sohn seine Mutter noch nie gesehen. Sie verließ die Familie, als er ein Kleinkind war, um ihre Karriere als Sängerin zu verfolgen.
Jahre später sieht er sie auf der Bühne einer der Jazzkneipen, in denen er selbst auftritt. Mutter und Sohn sehen sich an, aber die Begegnung findet nicht statt. Auch in den anderen Erzählungen von Toibins erstem Erzählungsband sind die Begegnungen zwischen Mutter und Sohn verfehlt. Sie werden angstvoll oder glühend ersehnt, nüchtern vorgestellt und meistens verpasst. In keiner davon ist Glück.
Geht es in den zehn Geschichten überhaupt um Liebe und nicht um Vereinnahmung oder Aggression, dann bleibt die Liebe unausgesprochen, Gefühle werden nicht erwidert. Die Söhne sind vernachlässigt, die Mütter überfordert. Die Mütter meinen es so gut, dass die Söhne es nicht aushalten. Die Söhne verlieren ihre Mütter oder haben in ihnen nie eine Mutter gehabt. Die Mütter wollen von ihren Söhnen nicht an die eigene Vergangenheit erinnert werden, und die Söhne kommen von ihrer eigenen Mutter-Vergangenheit nicht so leicht frei. Der irische Autor zeichnet ein komplexes psychologisches Geflecht nach, für das es in der Literatur nicht allzu viele berühmte Beispiele gibt.
Während Vater-Sohn-Beziehungen in der Literatur häufig vorkommen und gern als Allegorie verwendet werden, um Generationenkonflikte innerhalb einer Gesellschaft zu verdeutlichen, sind Mutter-Sohn-Beziehungen, die Literaturgeschichte geschrieben haben, selten.
Im Sturm-und-Drang war die Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn die Folie, auf der eine überholte Lebensmoral, veraltete religiöse Ideen und eine neue Vorstellung vom Individuum verhandelt wurden. Mütter kommen so gut wie nie vor. Sie sind wie im Falle Werthers, der bei seiner Mutter aufwächst, nur die gütige Schattengestalt oder stehen für die Unveränderlichkeit des Alten, im Falle von Lessings spätaufklärerischem Stück "Emilia Galotti" für die Unveränderlichkeit religiös-orthodoxer Weltbilder.
Eine Ausnahme ist die griechische Tragödie. Hier darf die Mutter immerhin Anstifterin von Verbrechen sein, wie beispielsweise Thetis, die ihren Sohn Achill davon überzeugt, sich im Trojanischen Pferd zu verstecken, um die Griechen zu besiegen. Auch Marcel Proust schlägt einen etwas anderen Ton an, wenn er seinen jungen Helden in "Die Suche nach der verlorenen Zeit" sich sehnsüchtig nach der Mutter verzehren lässt. Dieser sich von seiner Mutter verloren glaubende Sohn dürfte dem Vorhaben Toibins näher gelegen haben, als die Auseinandersetzung mit revolutionären gesellschaftlichen Tendenzen.
Der Titel "Mütter und Söhne" hat einen Anklang an Iwan Turgenjews Roman "Väter und Söhne". Toibins Geschichten, die bereits einzeln in Zeitschriften und Anthologien publiziert wurden, erschienen gemeinsam 2006 unter dem englischen Titel "Mothers and Sons". Der russische Autor Turgenjew verhandelte in seinem Roman das Aufbegehren der jüngeren, von westlichen Denkmodellen beeinflussten Generation gegen die russisch-nationalistische geprägte Einstellung ihrer Väter. Um die Schilderung umwälzender gesellschaftlicher Veränderungen geht es dem irischen Autor allerdings nur in zweiter Linie. In erster Linie geht es um die Auseinandersetzung mit der speziellen Begehrensstruktur, in der die Mutter die erste Geliebte des Mannes ist, für die die wohl noch immer berühmteste Mutter-Sohn Geschichte als Anregung gedient haben mag: Ödipus von Homer.
Toibin interessieren die Spuren, die dieses frühkindliche Begehren in Mutter und Sohn hinterlässt, und darüber hinaus beschäftigt ihn ganz grundsätzlich jenes beharrliche Schweigen, das die Mitglieder einer Familie mindestens ebenso aneinander bindet wie Alltag, Zuneigung und Blut.
Die Geschichten seiner kleinbürgerlichen Helden siedelt er im katholisch geprägten Dorfleben Irlands an, mit Ausnahme einer Geschichte, die in Spanien spielt. Es gibt Kleinkriminelle und Geistliche, es gibt Jazzsänger und Bauern, und häufig sind die Berufe der Söhne mit den Berufen der Mütter auf unterschwellige Weise verknüpft. Die Väter sind abwesend, tot, haben die Familie verlassen oder spielen eine unwesentliche Rolle.
In der Erzählung "Die Parole" bleibt Nancy, die Mutter, nach dem Tod ihres Mannes mit einem Berg Schulden zurück. Ihr Mann hatte ohne Wissen der Familie eine Hypothek auf den kleinen familiären Supermarkt aufgenommen. Jetzt stehen sie kurz vor dem Bankrott. Einziger Ausweg ist der Vorschlag eines Lieferanten, eine Fish-and-Chips-Bude zu eröffnen.
An der persönlichen Geschichte Nancys zeichnet Toibin die Sozialgeschichte eines irischen Ortes nach, der sich langsam in eine moderne Zeit hinein verändern und sich einer neuen Marktsituation öffnen muss: familiäre Traditionen, und die durch Familienbesitz begründeten Hierarchien gehen verloren. Nancy wird von den Einwohnern angefeindet, die ihr immer noch übelnehmen, unstandesgemäß in eine reiche Familie eingeheiratet zu haben. Sie gönnen ihr den Erfolg ihrer Imbissbude nicht. Also steckt sie ihre ganze Energie in den Traum von einem unabhängigen Leben in Dublin, für den sie eines Tages die Imbissbude zu einem guten Preis verkaufen will. Aber ihr Sohn will nicht auf die Universität gehen, sondern das Geschäft übernehmen.
Der Generationenkonflikt scheint hier umgekehrt: Die Emanzipation der Mutter, die sich der neuen Zeit anverwandelt und Unabhängigkeit anstrebt, entsetzt den Sohn, der sich auf die Traditionen besinnt, auf die Heimat, und in die Fußstapfen des Vaters treten will. In der Vergangenheit sucht er seine Zukunft, während die Mutter der Veränderung anhängt.
"Wenn du älter bist, wirst du dankbar dafür sein", sagte sie.
"Also das eine kann ich dir sagen, ich werde nie dankbar sein. Dankbar dafür, dass ich nirgendwo hingehören werde, kein Zuhause haben werde, rein gar nichts haben werde?"
Er war noch immer den Tränen nah.
"Wenn Daddy wüsste, was du da tust."
"Fang nicht damit an."
"Gott, er schaut jetzt bestimmt zu uns herunter", sagte er.
"Ich muss arbeiten gehen", sagte sie.
"Gott, wenn Daddy dich jetzt sehen würde!" sagte er.
Sie ging an ihm vorbei und stellte fest, dass die zwei Mädchen schon da waren. Sie sagte ihnen, dass sie gleich wieder zurück sein würde, und ging hinaus auf den Platz. Anfangs wusste sie nicht, wohin sie ging. Die meisten Geschäfte waren dabei zu schließen, und es herrschte nicht viel Verkehr. Ohne bestimmte Absicht begann sie, die Schaufenster entlangzugehen, sah sich anfangs, um sich abzulenken, die Auslagen an, nahm aber schon bald mehr als alles andere ihr eigenes Spiegelbild in den Schaufenstern wahr.
Sie sah sich an, als wäre sie eine Fremde, jemand, der einfach ihren Blick erwiderte, weder mitfühlend, noch froh, sie zu sehen, feindselig fast. Dieser Blick beruhigte sie, aber trotzdem ging sie weiter von Schaufenster zu Schaufenster. Sie würde durch die Stadt bummeln, dachte sie, als würde sie vielleicht nie wieder die Gelegenheit dazu haben. Und am Montag würde sie das Schild anbringen lassen, auf dem stand, dass das Geschäft zu verkaufen war. Sie war gerettet, dachte sie. Sie konnte jetzt nach Hause gehen und die abendliche Arbeit beginnen. Heute Abend würde viel los sein, besonders später. Sie würde ihre ganze Energie benötigen.
Auch in der ersten Erzählung in Toibins Erzählband "Der Gebrauch der Vernunft" ist der Vater abwesend. Der Sohn ist ein Kleinkrimineller, der sich und seine Mutter durch Diebstahl finanziert. Er hat sich ein ausgeklügeltes System an Verbindungsmännern geschaffen und geht ohne Risiko vor, lässt sich aber eines Tages doch dazu verlocken, einen Kunstraub zu begehen. Er entwendet drei teure Gemälde, für die er keine Käufer hat.
Dieser Bruch mit seinen eigenen Prinzipien, das Eingehen eines Risikos, bringt Unruhe in sein geordnetes Leben und stellt die einzige emotionale Erschütterung dar, zu der dieser Mann, der einen Teil seiner Kindheit in einem katholischen Erziehungsheim verbrachte, überhaupt in der Lage ist. Selbst seiner Mutter gegenüber bleibt er distanziert, schon als Kind angewidert von ihrer hysterischen Stimme und ihren alkoholisierten Gefühlsausbrüchen.
Den Vater ersetzen in der Erziehungsanstalt die Mönche. Ihre Autorität allerdings ist eine scheinbare. Sie bricht in dem Moment, in dem der Junge sie dabei beobachtet, wie sie sich an den Züchtigungsmaßnahmen aufgeilen.
Sie masturbierten. Sie wandten kein Auge von der Szene, die sich vor ihnen abspielte - von dem Jungen, der bestraft wurde und jedes Mal aufschrie, wenn der Riemen ihn traf. Bis dahin hatte er es verabscheut, wenn Mitzöglinge bestraft wurden. Er hatte es verabscheut, sich inmitten des allgemeinen Schweigens und der Angst so ohnmächtig zu fühlen. Aber er war fast zu dem Glauben gelangt, diese Bestrafungen wären notwendig, Teil einer naturgegebenen Ordnung, für deren Aufrechterhaltung die Brüder verantwortlich waren. Jetzt wusste er, dass dabei noch etwas anderes im Spiel war, etwas, was er nicht begriff und über das nachzudenken er einfach nicht über sich brachte. Das Bild war ihm wie eine fotografische Aufnahme im Kopf geblieben: Die zwei Brüder in der Sicherungskammer sahen nicht wie für irgend etwas verantwortliche Männer aus, sie sahen eher wie hechelnde alte Hunde aus.
In dieser Erzählung klingt vielleicht am deutlichsten eine der Fragen an, die alle Texte dieses Buches unterschwellig verbinden: Was geschieht, wenn der Mann nicht länger das Gesetz darstellt, wenn seine Rolle als Initiator der gesellschaftlichen Ordnung an Gültigkeit verliert?
In Toibins Universum scheinen Männer nur als Söhne zu existieren. Söhne in einer seltsam leeren Abhängigkeit, Söhne, die sich fremd sind und immer schon erwachsen. Der namenlose Erzähler in "Der Gebrauch der Vernunft" hat schon als Kind einen gnadenlosen Pragmatismus entwickelt, seine Methoden, sich andere Kinder zu unterwerfen, sind allein zweckorientiert: Es trifft nicht die, die er hasst, oder die, die er mag, sondern die, die er brauchen kann. Dieser Junge hat die Regeln der Ordnung verinnerlicht, um sie gegen diese Ordnung anzuwenden, zum eigenen Nutzen.
Als erwachsener Mann verkörpert er sie nicht länger, sondern unterhöhlt sie. Und hier lässt sich Colm Toibins Erzählband doch als gesellschaftskritisches Buch lesen. Die Auseinandersetzung zwischen Müttern und Söhnen wird zur Auseinandersetzung mit einer Welt, in der sich geschlechterpolitische Einstellungen verschieben, in der die patriarchale Ordnung an Einfluss verliert.
Gehen den Söhnen die Mütter verloren, sind sie hilflos, orientierungslos wie Fergus, der Protagonist in der Erzählung "Drei Freunde", der sich nach der Beerdigung seiner Mutter auf einem Techno-Konzert am Strand mit Drogen zudröhnt. Zu Lebzeiten konnte er sich der Mutter nie nähern und mit ihrem Tod ist nun auch die Chance dazu für immer vergeben. Der Sex mit einem seiner Freunde gibt ihm wieder eine Richtung vor, eine Lebensrichtung, auch wenn sie auf die Triebrichtung der Körper beschränkt bleibt.
Gleichzeitig scheint dieser Sex nichts weiter zu sein als das unbekümmerte Spiel von Kindern, das mit dem Tod der Mutter unmöglich geworden ist und das es vielleicht zu ihren Lebzeiten so gar nicht gegeben hat. Toibin ist ein Meister des Uneindeutigen; bei größtmöglicher Konkretheit bleiben am Ende alle seine Geschichten offen.
Der Sohn aus der Erzählung "Eins minus eins" ist nach dem Tod seiner unerreichbaren, gleichgültigen Mutter dagegen erleichtert, dass es für jeden Versuch einer Annäherung endgültig zu spät ist. Allerdings braucht er sechs Jahre, um sich das einzugestehen.
Für Miguel, den Sohn in der längsten Erzählung des Buches, "Ein langer Winter", werden das Bild, das er von seiner Mutter hat, und sein eigenes Leben plötzlich in Frage gestellt, als die Mutter ohne Vorwarnung in einen Schneesturm hinausläuft. Sie flieht vor der familiären Enge, vor dem Einerlei auf dem Bauernhof. Der Alkohol und die Liebe zu ihrem jüngsten Sohn taugen nicht länger als Fluchtmöglichkeit. Der Jüngste wurde zur Armee eingezogen, und den Alkoholvorrat schüttet ihr Mann eines Tages weg, wodurch ihr jahrelang angestauter Hass in einem einzigen Satz hervorbricht.
Diese kraftvolle, lähmend langsame Geschichte ist eine der stärksten in Toibins Buch. Sie erzählt davon, wie ein Sohn durch den Verlust seiner Mutter und die Suche nach ihr zu sich selbst findet. Die verzweifelten Märsche und Fahrten durch den Schneesturm, durch wegelosen Tiefschnee, in dem die Orientierung verloren zu gehen droht, wird zur Metapher für die Suche nach der Person, die die Mutter wirklich ist. Die sie als Individuum hinter ihrer Rolle ist.
Sie fuhren die enge Straße entlang aus dem Dorf hinaus; die Scheibenwischer arbeiteten auf Hochtouren, aber trotzdem behinderte der Schnee die Sicht, und die Scheinwerfer beleuchteten Schwaden von Weiß. Wäre sie ihnen auf der Straße entgegengekommen, selbst mit ausgebreiteten Armen, hätten sie sie nicht gesehen. Es musste seinem Vater klar sein, dass ihre Fahrt so gut wie keinen Sinn hatte. Ihre einzige Hoffnung, dachte Miguel, war, dass sie später losgegangen war, als Mateu gesagt hatte. Er dachte kurz darüber nach und dann über die Möglichkeit, dass sie langsam gegangen war oder an irgendeinem Punkt kehrtgemacht hatte, und dann verweilte er bei einer weiteren Möglichkeit - dass sie im Gegenteil schnell gegangen und sogar noch früher aufgebrochen war, als Mateu gesagt hatte, und dass sie schon in der Nähe von Pallosa war, dass sie die alten Pfade so gut es ging hinunterkletterte, langsam und vorsichtig. Sie kannte sich in dem Gelände aus; es war unwahrscheinlich, dachte Miguel, dass sie sich verirren würde. Aber sicher war er sich nicht.
In den meisten der Erzählungen von Colm Toibin läuft die Suche nach der Person hinter der Mutter ins Leere. Alle diese Frauen füllen den Söhnen gegenüber eine Rolle aus, wie vielleicht auch die Söhne, weniger bewusst, gegenüber den Müttern. Als Menschen sind sie dagegen unbeschrieben und tatsächlich weiß wie der Schnee. Aber auch die Mutterrollen sitzen nicht richtig. Es scheint, als versuchten die Frauen verzweifelt etwas nachzuspielen, wovon sie die Vorlage gar nicht kennen. Sie ahnen nur, dass sie es spielen müssen, weil es verlangt wird, ohne dass klar wäre, von wem. Von den Söhnen?
Folgt man Toibin, dürfte das fragwürdig sein. Dass die Mutterrolle bloße Imitation ist, wird durch die fehlende Nähe zu den Söhnen deutlich. In keiner seiner Erzählungen sind sich Mutter und Sohn vertraut. In keiner weiß der eine davon, was für ein Mensch die andere ist, weiß die Mutter, wer der Sohn ist, und der Sohn nichts von der Mutter. "Ein Priester in der Familie" handelt, etwas plakativ, von der Unerschütterlichkeit einer Mutter in ihrer Liebe zu ihrem Sohn, der wegen Kindesmissbrauch vor Gericht steht, und von ihrer Verweigerung, ihn als Täter zu sehen.
Eine andere Mutter kann es nicht ertragen, dass ihr Sohn Platten aus ihrer Zeit als Bandsängerin auf CDs brennt, weil sie das an den Tod ihrer Schwester erinnert, von der der Sohn nicht die geringste Ahnung hat.
Toibin zeigt, dass das naheste und intimste Verhältnis, das zwischen Menschen möglich ist, die Mutter-Kind-Symbiose, nur um den Preis der Entfremdung möglich ist, so, wie vielleicht alle Nähe nur um diesen Preis zu haben ist; ein Mechanismus der Distanz, der dafür sorgt, dass das Individuum nicht der Selbstauflösung preisgegeben wird.
Am deutlichsten wird dieser Mechanismus in der Erzählung "Ein Sommerjob". Die innige Beziehung zwischen einem Jungen und seiner Großmutter verwandelt sich mit beginnender Pubertät bei dem Jungen in völlige Gleichgültigkeit. Als seine früher heißgeliebte Oma stirbt, zuckt er nur die Schultern, und die Mutter, die ihn am Fenster beobachtet, stellt fest, dass sie ihren Sohn überhaupt nicht deuten kann.
So wenig Toibins Figuren ihre Gefühle preisgeben - nicht mal sich selbst -, so sparsam ist auch die Wahl der erzählerischen Mittel des Autors. Seine Helden sind Durchschnittsmenschen, oft Verlierer, und egal, ob sie aus Irland oder Spanien sind, sie stehen alle unter demselben nüchternen Erzählerblick. Ihr Handeln und ihre Art zu schweigen, sind für Toibin die einzigen zulässigen Zeichen ihres inneres Dilemmas. Und gerade mit dieser Sparsamkeit kommt der Autor dem Ungesagten oder Ungezeigten auf die Spur. Egal, ob es um heterosexuelle oder homosexuelle Neigungen geht, unabhängig davon, wie sich die Beziehung zwischen Mutter und Sohn gestaltet, an den Stellen, wo sich ein Gefühl, eine große Emotion einstellen könnte, an den Stellen also, an der die Geschichte Pathos oder Spannung aus dem Drama der Gefühle gewinnen würde, brechen die Geschichten ab. Große Emotionen sind nicht im Alltag, nur in der Kunst artikulierbar, wie Toibin am Beispiel des Liedes zeigt, als Träger dessen, was nicht zur Sprache kommen kann:
Als ihre Stimme ertönte, schien sie von nirgendwoher zu kommen. Sie hatte, selbst in den tiefen Lagen, mehr Kraft als die Stimme auf der Schallplatte. Die meisten Leute im Lokal, dachte Noel, kannten wahrscheinlich eine oder zwei schlichtere Versionen des Liedes, das sie jetzt sang, und ein paar kannten vielleicht auch die Version seiner Mutter. Das Lied handelte wie viele der alten Lieder, von unerwiderter Liebe, aber es unterschied sich von den meisten von ihnen durch seine zunehmende Bitterkeit. Bald wurde es zu einem Lied über Verrat. Bisweilen ließ sie eine halbe Sekunde Pause zwischen den einzelnen Phrasen, nicht, um Atem zu holen, sondern um den Raum und die Menschen darin zu mustern, sie ihre eigene Reglosigkeit spüren zu lassen, als das Lied zu seinem langsamen verzweifelten Abschluss ansetzte.
Toibin spürt die Adern auf, die unterhalb der Dramen, unterhalb der Gespräche und familiären Geste liegen. Die Erzählungen dieses Buches sind Variationen auf ein Thema: Dass das eigentliche Drama in menschlichen Beziehungen darin besteht, dass es nicht geschieht. Die Reglosigkeit tritt an die Stelle der Katastrophe. Die tiefen emotionalen Erschütterungen laufen für Toibin verdeckt ab, zeitversetzt zu ihrer Ursache. Das Unglück zeigt sich nicht in der Auseinandersetzung, sondern im Vermeiden der Auseinandersetzung. Die Folgen von Ereignissen zeigen sich oft erst viel später. Gelangen sie an die Oberfläche, verursachen sie neue Erschütterungen, die wiederum jahrelang unterschwellig Spuren legen. Ursache und Wirkung liegen in der emotionalen Wirklichkeit soweit auseinander, dass es unmöglich ist, eines auf das andere zu beziehen, unmöglich, mit dem "Gebrauch der Vernunft", wie die erste Geschichte heißt, das komplexe psychische Geflecht zu entwirren, aus dem jede familiäre Verbindung besteht.
Die beiden Übersetzer, Giovanni und Ditte Bandini, haben das langsame, tastende, schürfende Schreiben von Colm Toibin gekonnt in ein gutes, verhaltenes Deutsch gebracht. Toibins erster Erzählband handelt auf atemberaubend schlichte Weise von der meist unsichtbaren Wirkung der übermächtigen Bande zwischen Mutter und Sohn und davon, wie Generationenkonflikte sich vom Vater- und Sohn-Modell lösen, in einer Zeit, in der die kleinbürgerliche Familie an Wirklichkeit verliert.
Colm Toibin: Mütter und Söhne
Hanser Verlag, 288 Seiten, 19,90 Euro