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Der Mordfall Estemirova

Der Leiter der Moskauer Menschenrechtsorganisation "Memorial" gibt dem tschetschenischen Präsidenten Ramzan Kadyrow Schuld am Mord der Menschenrechtlerin Natalija Estemirova. Nun steht der Leiter wegen Verleumdung vor Gericht.

Von Robert Baag |
    Oleg Orlow, Leiter der Moskauer Menschenrechtsorganisation "Memorial", gibt sich gelassen. Jene Worte, die er im Zusammenhang mit dem Mord an Natascha Estemirova gesagt und dabei auf die Schuld von Ramzan Kadyrow hingewiesen habe, die stammten tatsächlich von ihm:

    "Ich habe das Recht", so Orlow "meine Meinung zu äußern." Dieses Recht aber könnte ihn teuer zu stehen kommen, wenn - nach heutigem Prozessbeginn - ein Moskauer Bezirksgericht demnächst eben jenem Kadyrow, dem Präsidenten und Herrscher über die russische Nordkaukasus-Republik Tschetschenien, die eingeklagte Genugtuung gewähren sollte. Zehn Millionen Rubel, umgerechnet etwa 225.000 Euro - dies sei der angemessene Schadensersatz an ihn, so findet Kadyrow. Habe der Menschenrechtler doch fälschlich behauptet und ihn damit verleumdet, er, Kadyrow, sei schuld daran, dass Mitte Juli die "Memorial"-Mitarbeiterin Natalija Estemirova am helllichten Tag in Tschetscheniens Hauptstadt Grozny entführt und kurz darauf in der Nachbarrepublik Inguschetien erschossen hinter Büschen unweit der Ost-West-Auto-Trasse "Kavkaz" aufgefunden worden sei. Kadyrow fordert außerdem öffentlichen Widerruf. Orlow präzisiert:

    "Wer hinter dem Mord an Natascha steht? - Das ist doch völlig offensichtlich! Dahinter stehen diejenigen, die nicht wollen, dass die Wahrheit über Tschetschenien herauskommt. Das sind diejenigen, die gern dieses Bild konservieren möchten: In Tschetschenien herrscht Frieden, Stabilität und es blüht auf unter Kadyrows Regime. Die das wollen, die haben jetzt vielleicht ihr Ziel erreicht."

    "Mindestens indirekt trägt Kadyrov die Verantwortung für diese Hinrichtung wie für viele andere", so unterstützt Svetlana Gannuschkina vom Moskauer "Komitee für gemeinsames ziviles Handeln" ihren "Memorial"-Kollegen Orlow.

    Kadyrow - so der "Memorial"-Vorwurf - schüre ein Klima des Hasses in Tschetschenien. Die Sicherheit von zivilgesellschaftlichen Organisationen sei dort nicht mehr gewährleistet. Gleich nach dem Mord an Natalija Estemirova zieht "Memorial" die Konsequenz und schließt aus Sorge um die Mitarbeiter bis auf Weiteres das Büro im tschetschenischen Grozny.

    "Solche Verbrechen dürfen nicht unbestraft bleiben", rief Russlands Präsident Medwedew bei seinem Besuch in München in Gegenwart seiner Gastgeberin, Bundeskanzlerin Angela Merkel, kurz nachdem dort die Mordtat bekannt wird. "Auf das Sorgfältigste", so verspricht Medwedew vor inzwischen zweieinhalb Monaten, werde das Verbrechen untersucht werden. Der oder die Killer erfreuen sich einstweilen weiterhin ihrer Freiheit. In Schutz allerdings nimmt Medwedew den tschetschenischen Präsidenten Kadyrow gegen die Vorwürfe der Menschenrechtler. Derlei Anschuldigungen, meint er, seien nicht hinnehmbar.

    "Überhaupt nicht hinnehmbar ist diese Äußerung des russischen Präsidenten", klagt dagegen Svetlana Ganuschkina.

    "Solch einen Druck auf die Ermittlungen auszuüben, dazu hat er kein Recht. Die Behörden müssen alle infrage kommenden Versionen untersuchen."

    Ob und in welchem Umfang der Zivilklage Kadyrows gegen Oleg Orlow nun stattgegeben wird oder wie am Ende ein mögliches Urteil aussehen könnte, darüber lässt sich jetzt allenfalls spekulieren. Ein Schlaglicht auf das ganz spezifische Verhältnis zwischen Politik und Justiz im heutigen Russland und auf die sogenannte "Vertikale der Macht" wird dieses Verfahren allemal werfen.