Wer zum Hochadel zählte, der stand seit 1763, als der Adels-Führer erstmals erschienen war, im sogenannten "Gotha", nach dem Erscheinungsort so benannt. Von 1824 an führte dieser "Genealogische Kalender" sämtliche europäischen Herrschaftshäuser, in verschiedene Kategorien eingeteilt, ausnahmslos auf. Wer dazu gehörte, der stand auch drin.
Heutzutage, da alles in Listen geführt und öffentlich bewertet wird, von Bachstelzen bis zu Baumwurzeln. von Oberweiten bis zur Unterwäsche, sind solche Zusammenstellungen nichts Besonderes mehr.
Anders noch 1960. Damals erschien, von Hans Magnus Enzensberger "eingerichtet", das "Museum der moderne Poesie". Moderne Gedichte von Rafael Alberti bis zu William Carlos Williams. Diese Anthologie entwickelte sich sehr bald zu einem Verzeichnis weltliterarischer Bedeutungsträger. Wer zählte, stand drin. Wer drin stand, der zählte.
Gedichte von Mandelstam oder Montale, Neruda und Pasternak, Jessenin und Jeffers, Char und Kavafis, kurzum: die gesamte moderne Lyrik aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die damals, im Nachkriegs-Deutschland, noch weithin unbekannt war.
Auch Nazim Hikmet ist im "Museum der modernen Poesie" mit drei Gedichten vertreten. Der türkische Vertreter der literarischen Moderne war 1902 in Thessaloniki, das zu dieser Zeit noch unter türkischer Herrschaft stand, geboren worden. Er ist 1963 in Moskau, im Exil, gestorben.
In der DDR erschien 1959 bereits ein Band mit seinen Gedichten. Die westdeutschen Leser lernten Hikmet zuerst nur durch Enzensbergers Museum kennen. Peter Bichsel schrieb später einmal dazu:
"Ich kannte jahrelang nur drei Gedichte von Hikmet. Ich fand sie 1960 in dem wundervollen 'Museum der modernen Poesie' von Hans Magnus Enzensberger. Diese drei Gedichte allein - und ich wusste eigentlich nicht weshalb - überzeugten mich davon, dass es Gedichte eines ganz großen Autors sein müssen. Ich konnte sie alle drei auswendig, und keiner meiner Freunde kam darum herum, sie immer wieder hören zu müssen."
Das war nichts Besonderes, damals. Wer gerne las, lernte auch Gedichte auswendig. Ich habe Hikmet zwar nie auswendig gekonnt, anders als die "Klage um Ignacio Sanchez Mejias" von Garcia Lorca zum Beispiel, den ich, wie so viele andere, in diesem "Museum" entdeckt hatte. Und doch sind mir Hikmets Name und seine Gedichte immer im Gedächtnis geblieben.
Wen Enzensberger in seine Sammlung aufgenommen hatte, der zählte tatsächlich zum literarischen Hochadel. Ich erinnerte die leise Melancholie dieser Verse, nicht ihren Wortlaut - "Mein Andenken wird sich wie schwarzer Rauch / im Wind verlieren." oder, in dem zweiten Gedicht, "Ich schaue die Nacht durch die Gitter". Damals wusste ich noch nichts von dem Schicksal des Autors, der sein halbes – erwachsenes - Leben im Gefängnis und die andere Hälfte im Exil verbringen musste.
Peter Bichsel erzählt in diesem Zusammenhang weiter:
"Nazim Hikmet soll einmal gesagt haben, er habe in seinem ganzen Leben nie ein Gefängnis verlassen, ohne dass alle Mitgefangenen lesen und schreiben konnten. Darauf sei er stolz."
Der Schweizer Erzähler, vor Begeisterung völlig aus dem Häuschen, erklärt Nazim Hikmet deshalb "zu einem großen Menschen". Ich vermute hingegen, ohne Bichsels Maßangaben zu bestreiten, dass sich hier etwas zeigt, was wir nicht mehr kennen, was der sogenannte real existierende Sozialismus ein für alle Mal zerstört hat, nämlich: den wahren Kommunismus eines richtigen Kommunisten.
Hikmet war Kommunist, allerdings nie ein Funktionär, zeitlebens hat er für Freiheit und Gerechtigkeit gekämpft. Seine Gedichte, seine Geschichten, seine Epen, seine Stücke sind frei von aller Agitation und aufgesetzter Tendenz. Die türkischen Behörden haben da nicht so klar getrennt.
Die meisten seiner eigenen Arbeiten hat Nazim Hikmet nie gedruckt gesehen. Von 1936 bis 1965 bestand in der Türkei sogar ein striktes Publikationsverbot. So wurde seine Lebensgeschichte zum Exempel: ein türkisches Schicksal des 20. Jahrhunderts. Noch heute ist der bedeutendste Dichter seines Landes in seiner Heimat eher ungelitten. Seine Berühmtheit, sagte einmal Gisela Kraft, die in diesen Tagen eine große Auswahl seiner Gedichte, zweisprachig, im Ammann-Verlag herausgebracht hat, beruhe wohl am wenigsten auf der Kenntnis seines Werkes.
Seine Standhaftigkeit wurde gerühmt. Sein Leidensweg durch die türkischen Gefängnisse machte ihn zum Märtyrer. Das Verbot seines Werkes verstärkte noch diese Wirkung. Die wenigstens Türken hatten ihn gelesen, aber jeder kannte ihn. Er wurde berühmt, er wurde populär. Er wurde zum Mythos.
Sehr früh, 1921, hat er sich den Kommunisten angeschlossen. Er blieb sein Leben lang ein Kommunist. Die Jahre des stalinistischen Terrors verbrachte er in türkischen Gefängnissen. Und später, als er frei war, aber um sein Leben fürchten musste, hat ihn wieder die Sowjetunion gerettet. 1924, nach seiner Rückkehr aus Moskau, arbeitete er für die Zeitung "Klarheit". Die Mitarbeiter dieser Zeitung lebten gefährlich. Deshalb floh er erneut nach Moskau. 1928 kehrte er zurück und wurde schon an der Grenze verhaftet.
So verlief sein Leben: Er wurde verfolgt, verhaftet und gefoltert. Er hat gelitten und blieb doch unbeirrt und auf sonderbare Weise sanft. Und ungebrochen, auch wenn, ganz sicher, seine Gesundheit in der langen Haftzeit gelitten hat. Er kämpfte nicht eigentlich gegen die Verhältnisse, unter denen er, unter denen sein Volk litt. Er kämpfte immer für etwas. Denn er wusste: "Das Leben ist schön". Und Liebe möglich. Vielleicht war er deshalb noch gefährlicher für das Regime als ein normaler Kommunist.
1938 wurde er wegen angeblicher Anstiftung zum Aufruhr zu 29 Jahren Haft verurteilt. Zwölf lange Jahre, bis 1950, saß er davon ab. Erst eine internationale Kampagne, an der sich viele seiner Schriftsteller-Kollegen aus aller Welt beteiligten, und die er mit einem Hungerstreik begleitete, verhalf ihm schließlich zu seiner Entlassung.
Im Zuchthaus war er herzkrank geworden. Trotzdem erhielt er 1951 einen Gestellungsbefehl zum Militärdienst. Das war ein Todesurteil und offenbar auch als solches gedacht. Deshalb floh er wieder einmal, diesmal über Rumänien, und wieder in die Sowjetunion. Seine letzten zwölf Jahre lebte er, von einigen, auch längeren Reisen abgesehen, als Gast der Regierung in Moskau.
Lange arbeitete er dort an dem Roman "Die Romantiker", als Titel war ursprünglich geplant: "Mensch, das Leben ist schön!" Ein Stück seiner Autobiografie, das fast ein halbes Jahrhundert umspannt: seine Erinnerungen an ein bewegtes, hochdramatisches Leben. Am Ende des Buches empfängt der alt gewordene Held in seiner Vorstellung noch einmal die Freunde von früher, die ihm sagen:
"Das hast du gut geschrieben. Er stand auf und öffnete das Fenster. Sonnenlicht flutete herein. Ahmets Hand in Anuschkas fester Hand mit den langen, weißen Fingern. Neriman wiederholte mit ihrer tiefen Stimme die Worte ihres Mannes: 'Mensch, das Leben ist schön!'"
Nacheinander, fast zugleich treten sie auf, seine erste Frau, die zweite Frau, die alten Freunde. Alle. Und der Held, der jetzt seine Beziehung zum Autor nicht länger verbergen will, stellt fest:
"Meine Besucher sind nicht älter geworden. Sie sind in demselben Alter, in dem ich sie zum letzten Mal gesehen habe. Aber ich bin jetzt über sechzig. Wenn ich noch fünf Jahre leben könnte."
Nur wenige Wochen später, am Morgen des 2. Juni 1963, geht Nazim Hikmet in die Diele seiner Wohnung, um die Zeitung zu holen. Er bleibt ungewöhnlich lange fort. Vera, seine letzte Frau, findet ihn, bereits leblos, auf dem Boden liegen.
Sein Werk, die Geschichte von Ahmet und Ismail, von zwei jungen Männern, denen Nazim Hikmet sein eigenes Schicksal zu fast gleichen Teilen aufgetragen hat, ist abgeschlossen.
Der Roman zieht Bilanz, in einem langen Rückblick, in vielen kurzen Vorgriffen. Er folgt der Chronologie der Ereignisse und sprengt sie doch, wo immer nötig, auf. Es ist kein umfangreicher und doch großer Roman geworden. Wie in seinen Gedichten zeigt Hikmet auch hier, völlig unaufdringlich, eine radikale Modernität.
Das Buch beginnt mit Ahmets Ankunft in Izmir. Ahmets besucht, auf der Suche nach Arbeit, seinen Onkel, der ihn aber keineswegs mit offenen Armen empfängt, eher abzuwimmeln versucht.
"Nehmen Sie mir die Frage nicht übel, Ahmet, aber was ist der Grund Ihrer Reise nach Izmir? Ich habe gehofft, Arbeit zu finden, Onkel. Irgend etwas, das ich machen kann. In Istambul habe ich jetzt keine Chance mehr, etwas zu finden."
Der Onkel zieht Ahmet zum Fenster, schiebt den Vorhang etwas zur Seite:
"Schau dir den Kerl da an, der an der Ecke hockt. Den Bettler. Der Bursche ist ein Spitzel. Ich werde beobachtet. Sie lassen deinen Onkel nicht in Ruhe, Ahmet. Er hat sich längst aus der Politik zurückgezogen, aber sie sind noch immer hinter ihm her. Geh nach Istanbul zurück, Ahmet, mein Sohn. Laß Gras über alles wachsen, ich schicke dir Nachricht."
Im Grunde müsste man hier mit Robert Gernhardt sagen: "Mein Gott, ist das beziehungsreich. / Ich glaub, ich übergeb mich gleich."
"Die Romantiker", lassen sich nämlich nicht nur als das Vermächtnis des türkischen Dichters lesen, sondern auch eine Art Summe seines Lebens. Es ist eine ebenso abenteuerliche wie spannende Geschichte, die von großen Gefühlen und großen Hoffnungen, von Entbehrung und Leiden, von Unrecht und von dem Kampf gegen die Ungerechtigkeiten dieser Welt erzählt, und von der Liebe junger Leute, Moskauer Studenten, türkischer Kommunisten, von Türken, Russen, Chinesen, vom Aufbrechen alter Beziehungsformen und von den Schwierigkeiten mit dieser Situation umzugehen, dieser Roman handelt von Gott und der Welt und oft von allem zugleich und er lässt sich dennoch - wie durch ein Wunder - ohne jede Schwierigkeit, also ganz leicht lesen.
Wir sitzen mit dem Erzähler, beziehungsweise wie wir erst später überhaupt merken: mit den Erzählern in einer dunklen Steinhütte am Rande von Izmir. Ahmet malt seine Striche an die Wand, einen für jeden Tag, der vergangen ist. Und er erinnert sich. Er war in Moskau, hat dort studiert, hat dort gelebt, hat dort verliebt. Er hat sogar Wache gestanden, fünf Minuten nur, aber immerhin, am Sarg des toten Lenin.
Verschiedene Erzählstimmen gehen, bruchlos, ineinander über. Es sind drei Zeitebenen, Anfang der zwanziger Jahre, Mitte der zwanziger Jahre und dann, das betrifft vor allem seinen Freund Ismail, die späten dreißiger. Doch der beziehungsweise die Erzähler berichten uns auch, was später mit dem oder jenem geschah. Das mag jetzt furchtbar kompliziert klingen, doch es fügt sich alles. Auch Zeitsprünge erscheinen ganz natürlich, irgendwann wird etwa eingefügt:
"Ismails Mutter wird 1940 sterben. Da gab es einen Gefängniswärter, der ein verbissener Deutschenfreund war. Wenn er die Eisentür von außen verriegelte, sagte er jeden Abend: 'Gott helfe Euch!' Dann steckt er seinen Kopf zum Guckloch herein und ruft Ismail: 'Siehst du, Chef, jetzt hat Hitler London in Brand gesteckt. Und neben diesen Wächter aus Bursa wird Ismails Mutter hinfallen und sterben. Im Sprechzimmer."
Und dann ist man wieder zurück in Izmir, in der Chronologie.
Auch Peter Bichsel beschreibt in seinem geradezu mit Herzblut, das heißt mit dem notwendigen Pathos geschriebenen Nachwort, wie schwierig es ist, Hikmets Verfahren zu beschreiben. Das ist vielleicht seine eigentliche Leistung: moderne Mittel nicht groß herauszustellen, sondern einfach einzusetzen, als wäre es die natürlichste Sache der Welt.
Am Anfang des Romans, im Jahre 1925, befinden wir uns also mit dem Erzähler in dieser Hütte am Rande der Stadt. Ahmet hat tatsächlich guten Grund, sich verborgen zu halten. Zusammen mit Freunden hatte er in Istanbul eine Zeitung gemacht und versucht, sie vor den Fabriktoren unter die Leute zu bringen. Die Türkei war damals, mehr noch als heute, ein Polizeistaat. Mit den bürgerlichen Rechten nahm man es nicht so genau, wer auch nur aufmuckte, wurde schnell verhaftet. In den Gefängnissen wurde gefoltert. Und die Gerichte sprachen zwar gern harte Urteile, doch nur selten Recht. Und es gab noch andere Methoden, unliebsame Gegner loszuwerden.
"Das erste, was ich in dem Café hörte, in das ich anschließend ging - wer es sagte, weiß ich nicht - war: Die Leute, die gestern aufs Schiff gebracht worden sind, sollen bei den Felsen im offenen Meer ins Wasser geworfen worden sein. Befehl aus Ankara."
So etwas war tatsächlich, und nicht nur einmal, passiert. Am 28. Januar 1921 war der Kommunistenführer Mustafa Suphy mit vierzehn seiner Genossen auf diese Weise umgebracht worden.
Das Motiv, das hier, deutlich genug, anklingt, wird später, im zweiten Teil des Buches an
Ismails Leidensgeschichte in den türkischen Gefängnissen, so ergreifend wie faszinierend durchgespielt.
Doch immer hockt Ahmet in der Hütte. Wartet. Wartet. Er wartet auf die abendliche Rückkehr Ismails. Dann können sie wenigstens reden. Nach einigen Tagen, die er wartend in dieser Hütte verbracht hat, beschließt er, Risiko hin, Risiko her, das Versteck kurz zu verlassen und einen Spaziergang zu machen. Er kommt an einem Brunnen vorbei, trinkt, in vollen Zügen.
"Als ich mich aufrichtete und gerade mit dem Rücken der rechten Hand über meine Lippen wischte, fühlte ich plötzlich in der Wade meines linken Beines einen jähen Schmerz, als hätte mich jemand mit einer Eisenstange geschlagen. Ich fuhr herum und blickte um mich. Da stand ein gelber Hund, bleckte die Zähne und grinste hämisch. Kann auch sein, dass er nicht grinste und ich es mir später nur eingebildet habe."
"Die Leute, die auf dem Wall standen, hatten beobachtet, was geschehen war. Nicht so schlimm, junger Mann, riefen sie. Gib Tabak auf die Wunde, der Hund ist doch sonst völlig harmlos."
Jetzt ist Ahmets Zwangslage perfekt. Am Abend erzählt er Ismael von dem Vorfall:
"Ich übergebe dir die Pistole, Ismail! Warum? Zu fünfzig Prozent besteht die Möglichkeit, dass ich tollwütig werde. Und wenn du doch versuchst, nach Istanbul durchzukommen? Nein, dass der Hund tollwütig war, ist nur zu fünfzig Prozent wahrscheinlich. Dass mich der Arzt aber der Polizei ausliefert, steht zu hundert Prozent fest. Und dann kann ich ja noch unterwegs gefasst werden. Ich fahre nicht nach Istanbul. Wenn ich tollwütig werde, erschießt du mich."
Ahmet beginnt, Striche zu machen. Die Inkubationszeit beträgt vierzig Tage. Jeden Tag, der vergeht markiert er an der Wand. Tag für Tag. Das wird keine Heldengeschichte, sondern eine quälende Warterei. So markiert jeder Strich ein Kapitel in dem Buch, und in seinem Leben. Er erlebt noch einmal seine Studienjahre in Moskau. Und seine große Liebe zu Anuschka, einer jungen, klugen, selbstbewussten, schönen Studentin.
"Höre im Lied, das die Flöte erzählt, / Wie sie der Schmerz der Trennung quält."
Diese Verse ziehen sich wie ein Leitmotiv durch das ganze Buch. Der Roman heißt, das sollten wir nicht vergessen, "Die Romantiker". Auch an den ursprünglichen Titel, "Mensch, das Leben ist schön", sollten wir uns immer einmal wieder erinnern.
Es sind schließlich die ersten Jahre nach der russischen Revolution. Noch ist die Begeisterung zu spüren, das Feuer, das in diesen jungen Menschen brennt, die große Aufbruchsstimmung, die sie ergriffen hat, im tagtäglichen Leben, und, davon weiß uns die Kunstgeschichte, fast aller Gattungen, zu berichten, auch in den Künsten. Der Futurismus war auf seinem Höhepunkt. Und Hikmet, beziehungsweise sein Held Ahmet, mittendrin. Das Versprechen einer besseren Welt leuchtete am Horizont auf. Viele Menschen glaubten an diese Möglichkeit, Elend, Leiden und Unterdrückung aufzuheben. Aber hier geht es nicht um Politik. Die jungen Studenten lebten und liebten. Nazim Hikmet war in diesen Jahren mit Sergej Jessenin befreundet und mit Wladimir Majakowski. Er hat den großen Regisseur Meyerhold gekannt und dann selbst begonnen, Theaterstücke zu schreiben.
Die Moskauer Erinnerungen werden aber durchgängig, schon durch die Einteilung mit den täglichen Strichen, aus türkischer Perspektive erzählt.
Die große Liebe Anuschka hieß in Wirklichkeit Lena. Als Hikmet 1928 wieder einmal in die Türkei zurückkehrt, erhält sie kein Visum. Bald darauf stirbt sie an Cholera. "Die Romantiker" erzählen im ersten Teil die bewegende Geschichte dieser verlorenen Liebe.
Diese Lena/Anuschka war eine glühende Kommunistin, an der allerdings jeder Theologe seine helle Freude haben konnte. Denn sie praktizierte Nächstenliebe. Sie nahm das christliche Gebot beim Wort, auf bewundernswerte Weise. Anuschka verbringt eine Nacht mit einem Chinesen, der zu dem Freundeskreis gehört und zurückkehren muss nach China, vermutlich in den Tod. Dieser SI-YA-U hat Anuschka glühend geliebt. Das gab Konflikte zwischen ihr und Ahmet, Eifersuchtsszenen. Es sind eben "Romantiker".
Einige Tage, nachdem sie im Krach auseinandergegangen waren, kommt Anuschka zu Ahmet. Sie fragt ihn:
"Machst du immer noch wegen dieser Geschichte so ein Gesicht? Ich komme aus der Türkei. Ist es ein so großes Verbrechen, wenn ich mit SI-YA-U, einen Mann, der vielleicht in den Tod geht, der mich so von ganzem Herzen und so unglücklich liebt, eine Nacht verbringe und ihn in dieser Nacht glücklich mache? In dieser Frage gibt es zwischen uns keine Verständigungsmöglichkeit, Anuschka, laß meinen Arm los. Bist du so sicher, dass ich mit SI-YA-U geschlafen habe? Ich war verwirrt."
Und er bleibt es. Weil er keine klare Antwort erhält. Weil es keine klaren Antworten gibt.
1988 war Hikmets Roman mit einem Nachwort des Schweizer Erzählers Peter Bichsel in der Sammlung Luchterhand erschienen. Jetzt, genau zwanzig Jahre später, erscheint das Buch unverändert wieder in der Bibliothek Suhrkamp. In der Zwischenzeit ist eine Welt untergegangen. Das sozialistische Lager, das seinem Namen alle Ehre machte, ist geöffnet worden und über Nacht fast spurlos verschwunden. Die russische Revolution, die eine neue Epoche der Weltgeschichte angekündigt hatte, ist auf eine Episode zurückgeschrumpft. Spätestens der Stalinismus hat die Idee einer sozialistischen Gesellschaft ein für allemal kompromittiert. Obwohl, wie wir leicht sehen können, auch in unserem System nicht alles Gold ist, was glänzt.
Aber was ist mit Hoffnungen, die mit der Revolution einmal verbunden waren? Was ist mit der Idee einer gerechteren Gesellschaft, mit dem Wunsch, Leiden, Elend, Unterdrückung zu beseitigen.
Nazim Hikmet, der Dichter, fand das Leben schön. Das verdient Bewunderung. Hans Magnus Enzensberger wusste bereits 1960, warum er ihn in sein großes "Museum der modernen Poesie" aufnahm. Hikmet, der Kommunist, kämpfte um die Möglichkeit, sich und anderen ein schönes Leben zu ermöglichen. Das verdient, zumindest, Respekt.
Peter Bichsel, der Schweizer Erzähler, nannte Hikmet "einen großen Menschen". Über den Roman sagte er: "Die Romantiker" gehören "zu den ganz großen Büchern dieses Jahrhunderts." Dem ist nichts hinzuzufügen.
Nazim Hikmet: Die Romantiker
Aus dem Türkischen von Hanne Egghardt
Mit einem Nachwort von Peter Bichsel
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008, 267 Seiten, 16,80 Euro
Heutzutage, da alles in Listen geführt und öffentlich bewertet wird, von Bachstelzen bis zu Baumwurzeln. von Oberweiten bis zur Unterwäsche, sind solche Zusammenstellungen nichts Besonderes mehr.
Anders noch 1960. Damals erschien, von Hans Magnus Enzensberger "eingerichtet", das "Museum der moderne Poesie". Moderne Gedichte von Rafael Alberti bis zu William Carlos Williams. Diese Anthologie entwickelte sich sehr bald zu einem Verzeichnis weltliterarischer Bedeutungsträger. Wer zählte, stand drin. Wer drin stand, der zählte.
Gedichte von Mandelstam oder Montale, Neruda und Pasternak, Jessenin und Jeffers, Char und Kavafis, kurzum: die gesamte moderne Lyrik aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die damals, im Nachkriegs-Deutschland, noch weithin unbekannt war.
Auch Nazim Hikmet ist im "Museum der modernen Poesie" mit drei Gedichten vertreten. Der türkische Vertreter der literarischen Moderne war 1902 in Thessaloniki, das zu dieser Zeit noch unter türkischer Herrschaft stand, geboren worden. Er ist 1963 in Moskau, im Exil, gestorben.
In der DDR erschien 1959 bereits ein Band mit seinen Gedichten. Die westdeutschen Leser lernten Hikmet zuerst nur durch Enzensbergers Museum kennen. Peter Bichsel schrieb später einmal dazu:
"Ich kannte jahrelang nur drei Gedichte von Hikmet. Ich fand sie 1960 in dem wundervollen 'Museum der modernen Poesie' von Hans Magnus Enzensberger. Diese drei Gedichte allein - und ich wusste eigentlich nicht weshalb - überzeugten mich davon, dass es Gedichte eines ganz großen Autors sein müssen. Ich konnte sie alle drei auswendig, und keiner meiner Freunde kam darum herum, sie immer wieder hören zu müssen."
Das war nichts Besonderes, damals. Wer gerne las, lernte auch Gedichte auswendig. Ich habe Hikmet zwar nie auswendig gekonnt, anders als die "Klage um Ignacio Sanchez Mejias" von Garcia Lorca zum Beispiel, den ich, wie so viele andere, in diesem "Museum" entdeckt hatte. Und doch sind mir Hikmets Name und seine Gedichte immer im Gedächtnis geblieben.
Wen Enzensberger in seine Sammlung aufgenommen hatte, der zählte tatsächlich zum literarischen Hochadel. Ich erinnerte die leise Melancholie dieser Verse, nicht ihren Wortlaut - "Mein Andenken wird sich wie schwarzer Rauch / im Wind verlieren." oder, in dem zweiten Gedicht, "Ich schaue die Nacht durch die Gitter". Damals wusste ich noch nichts von dem Schicksal des Autors, der sein halbes – erwachsenes - Leben im Gefängnis und die andere Hälfte im Exil verbringen musste.
Peter Bichsel erzählt in diesem Zusammenhang weiter:
"Nazim Hikmet soll einmal gesagt haben, er habe in seinem ganzen Leben nie ein Gefängnis verlassen, ohne dass alle Mitgefangenen lesen und schreiben konnten. Darauf sei er stolz."
Der Schweizer Erzähler, vor Begeisterung völlig aus dem Häuschen, erklärt Nazim Hikmet deshalb "zu einem großen Menschen". Ich vermute hingegen, ohne Bichsels Maßangaben zu bestreiten, dass sich hier etwas zeigt, was wir nicht mehr kennen, was der sogenannte real existierende Sozialismus ein für alle Mal zerstört hat, nämlich: den wahren Kommunismus eines richtigen Kommunisten.
Hikmet war Kommunist, allerdings nie ein Funktionär, zeitlebens hat er für Freiheit und Gerechtigkeit gekämpft. Seine Gedichte, seine Geschichten, seine Epen, seine Stücke sind frei von aller Agitation und aufgesetzter Tendenz. Die türkischen Behörden haben da nicht so klar getrennt.
Die meisten seiner eigenen Arbeiten hat Nazim Hikmet nie gedruckt gesehen. Von 1936 bis 1965 bestand in der Türkei sogar ein striktes Publikationsverbot. So wurde seine Lebensgeschichte zum Exempel: ein türkisches Schicksal des 20. Jahrhunderts. Noch heute ist der bedeutendste Dichter seines Landes in seiner Heimat eher ungelitten. Seine Berühmtheit, sagte einmal Gisela Kraft, die in diesen Tagen eine große Auswahl seiner Gedichte, zweisprachig, im Ammann-Verlag herausgebracht hat, beruhe wohl am wenigsten auf der Kenntnis seines Werkes.
Seine Standhaftigkeit wurde gerühmt. Sein Leidensweg durch die türkischen Gefängnisse machte ihn zum Märtyrer. Das Verbot seines Werkes verstärkte noch diese Wirkung. Die wenigstens Türken hatten ihn gelesen, aber jeder kannte ihn. Er wurde berühmt, er wurde populär. Er wurde zum Mythos.
Sehr früh, 1921, hat er sich den Kommunisten angeschlossen. Er blieb sein Leben lang ein Kommunist. Die Jahre des stalinistischen Terrors verbrachte er in türkischen Gefängnissen. Und später, als er frei war, aber um sein Leben fürchten musste, hat ihn wieder die Sowjetunion gerettet. 1924, nach seiner Rückkehr aus Moskau, arbeitete er für die Zeitung "Klarheit". Die Mitarbeiter dieser Zeitung lebten gefährlich. Deshalb floh er erneut nach Moskau. 1928 kehrte er zurück und wurde schon an der Grenze verhaftet.
So verlief sein Leben: Er wurde verfolgt, verhaftet und gefoltert. Er hat gelitten und blieb doch unbeirrt und auf sonderbare Weise sanft. Und ungebrochen, auch wenn, ganz sicher, seine Gesundheit in der langen Haftzeit gelitten hat. Er kämpfte nicht eigentlich gegen die Verhältnisse, unter denen er, unter denen sein Volk litt. Er kämpfte immer für etwas. Denn er wusste: "Das Leben ist schön". Und Liebe möglich. Vielleicht war er deshalb noch gefährlicher für das Regime als ein normaler Kommunist.
1938 wurde er wegen angeblicher Anstiftung zum Aufruhr zu 29 Jahren Haft verurteilt. Zwölf lange Jahre, bis 1950, saß er davon ab. Erst eine internationale Kampagne, an der sich viele seiner Schriftsteller-Kollegen aus aller Welt beteiligten, und die er mit einem Hungerstreik begleitete, verhalf ihm schließlich zu seiner Entlassung.
Im Zuchthaus war er herzkrank geworden. Trotzdem erhielt er 1951 einen Gestellungsbefehl zum Militärdienst. Das war ein Todesurteil und offenbar auch als solches gedacht. Deshalb floh er wieder einmal, diesmal über Rumänien, und wieder in die Sowjetunion. Seine letzten zwölf Jahre lebte er, von einigen, auch längeren Reisen abgesehen, als Gast der Regierung in Moskau.
Lange arbeitete er dort an dem Roman "Die Romantiker", als Titel war ursprünglich geplant: "Mensch, das Leben ist schön!" Ein Stück seiner Autobiografie, das fast ein halbes Jahrhundert umspannt: seine Erinnerungen an ein bewegtes, hochdramatisches Leben. Am Ende des Buches empfängt der alt gewordene Held in seiner Vorstellung noch einmal die Freunde von früher, die ihm sagen:
"Das hast du gut geschrieben. Er stand auf und öffnete das Fenster. Sonnenlicht flutete herein. Ahmets Hand in Anuschkas fester Hand mit den langen, weißen Fingern. Neriman wiederholte mit ihrer tiefen Stimme die Worte ihres Mannes: 'Mensch, das Leben ist schön!'"
Nacheinander, fast zugleich treten sie auf, seine erste Frau, die zweite Frau, die alten Freunde. Alle. Und der Held, der jetzt seine Beziehung zum Autor nicht länger verbergen will, stellt fest:
"Meine Besucher sind nicht älter geworden. Sie sind in demselben Alter, in dem ich sie zum letzten Mal gesehen habe. Aber ich bin jetzt über sechzig. Wenn ich noch fünf Jahre leben könnte."
Nur wenige Wochen später, am Morgen des 2. Juni 1963, geht Nazim Hikmet in die Diele seiner Wohnung, um die Zeitung zu holen. Er bleibt ungewöhnlich lange fort. Vera, seine letzte Frau, findet ihn, bereits leblos, auf dem Boden liegen.
Sein Werk, die Geschichte von Ahmet und Ismail, von zwei jungen Männern, denen Nazim Hikmet sein eigenes Schicksal zu fast gleichen Teilen aufgetragen hat, ist abgeschlossen.
Der Roman zieht Bilanz, in einem langen Rückblick, in vielen kurzen Vorgriffen. Er folgt der Chronologie der Ereignisse und sprengt sie doch, wo immer nötig, auf. Es ist kein umfangreicher und doch großer Roman geworden. Wie in seinen Gedichten zeigt Hikmet auch hier, völlig unaufdringlich, eine radikale Modernität.
Das Buch beginnt mit Ahmets Ankunft in Izmir. Ahmets besucht, auf der Suche nach Arbeit, seinen Onkel, der ihn aber keineswegs mit offenen Armen empfängt, eher abzuwimmeln versucht.
"Nehmen Sie mir die Frage nicht übel, Ahmet, aber was ist der Grund Ihrer Reise nach Izmir? Ich habe gehofft, Arbeit zu finden, Onkel. Irgend etwas, das ich machen kann. In Istambul habe ich jetzt keine Chance mehr, etwas zu finden."
Der Onkel zieht Ahmet zum Fenster, schiebt den Vorhang etwas zur Seite:
"Schau dir den Kerl da an, der an der Ecke hockt. Den Bettler. Der Bursche ist ein Spitzel. Ich werde beobachtet. Sie lassen deinen Onkel nicht in Ruhe, Ahmet. Er hat sich längst aus der Politik zurückgezogen, aber sie sind noch immer hinter ihm her. Geh nach Istanbul zurück, Ahmet, mein Sohn. Laß Gras über alles wachsen, ich schicke dir Nachricht."
Im Grunde müsste man hier mit Robert Gernhardt sagen: "Mein Gott, ist das beziehungsreich. / Ich glaub, ich übergeb mich gleich."
"Die Romantiker", lassen sich nämlich nicht nur als das Vermächtnis des türkischen Dichters lesen, sondern auch eine Art Summe seines Lebens. Es ist eine ebenso abenteuerliche wie spannende Geschichte, die von großen Gefühlen und großen Hoffnungen, von Entbehrung und Leiden, von Unrecht und von dem Kampf gegen die Ungerechtigkeiten dieser Welt erzählt, und von der Liebe junger Leute, Moskauer Studenten, türkischer Kommunisten, von Türken, Russen, Chinesen, vom Aufbrechen alter Beziehungsformen und von den Schwierigkeiten mit dieser Situation umzugehen, dieser Roman handelt von Gott und der Welt und oft von allem zugleich und er lässt sich dennoch - wie durch ein Wunder - ohne jede Schwierigkeit, also ganz leicht lesen.
Wir sitzen mit dem Erzähler, beziehungsweise wie wir erst später überhaupt merken: mit den Erzählern in einer dunklen Steinhütte am Rande von Izmir. Ahmet malt seine Striche an die Wand, einen für jeden Tag, der vergangen ist. Und er erinnert sich. Er war in Moskau, hat dort studiert, hat dort gelebt, hat dort verliebt. Er hat sogar Wache gestanden, fünf Minuten nur, aber immerhin, am Sarg des toten Lenin.
Verschiedene Erzählstimmen gehen, bruchlos, ineinander über. Es sind drei Zeitebenen, Anfang der zwanziger Jahre, Mitte der zwanziger Jahre und dann, das betrifft vor allem seinen Freund Ismail, die späten dreißiger. Doch der beziehungsweise die Erzähler berichten uns auch, was später mit dem oder jenem geschah. Das mag jetzt furchtbar kompliziert klingen, doch es fügt sich alles. Auch Zeitsprünge erscheinen ganz natürlich, irgendwann wird etwa eingefügt:
"Ismails Mutter wird 1940 sterben. Da gab es einen Gefängniswärter, der ein verbissener Deutschenfreund war. Wenn er die Eisentür von außen verriegelte, sagte er jeden Abend: 'Gott helfe Euch!' Dann steckt er seinen Kopf zum Guckloch herein und ruft Ismail: 'Siehst du, Chef, jetzt hat Hitler London in Brand gesteckt. Und neben diesen Wächter aus Bursa wird Ismails Mutter hinfallen und sterben. Im Sprechzimmer."
Und dann ist man wieder zurück in Izmir, in der Chronologie.
Auch Peter Bichsel beschreibt in seinem geradezu mit Herzblut, das heißt mit dem notwendigen Pathos geschriebenen Nachwort, wie schwierig es ist, Hikmets Verfahren zu beschreiben. Das ist vielleicht seine eigentliche Leistung: moderne Mittel nicht groß herauszustellen, sondern einfach einzusetzen, als wäre es die natürlichste Sache der Welt.
Am Anfang des Romans, im Jahre 1925, befinden wir uns also mit dem Erzähler in dieser Hütte am Rande der Stadt. Ahmet hat tatsächlich guten Grund, sich verborgen zu halten. Zusammen mit Freunden hatte er in Istanbul eine Zeitung gemacht und versucht, sie vor den Fabriktoren unter die Leute zu bringen. Die Türkei war damals, mehr noch als heute, ein Polizeistaat. Mit den bürgerlichen Rechten nahm man es nicht so genau, wer auch nur aufmuckte, wurde schnell verhaftet. In den Gefängnissen wurde gefoltert. Und die Gerichte sprachen zwar gern harte Urteile, doch nur selten Recht. Und es gab noch andere Methoden, unliebsame Gegner loszuwerden.
"Das erste, was ich in dem Café hörte, in das ich anschließend ging - wer es sagte, weiß ich nicht - war: Die Leute, die gestern aufs Schiff gebracht worden sind, sollen bei den Felsen im offenen Meer ins Wasser geworfen worden sein. Befehl aus Ankara."
So etwas war tatsächlich, und nicht nur einmal, passiert. Am 28. Januar 1921 war der Kommunistenführer Mustafa Suphy mit vierzehn seiner Genossen auf diese Weise umgebracht worden.
Das Motiv, das hier, deutlich genug, anklingt, wird später, im zweiten Teil des Buches an
Ismails Leidensgeschichte in den türkischen Gefängnissen, so ergreifend wie faszinierend durchgespielt.
Doch immer hockt Ahmet in der Hütte. Wartet. Wartet. Er wartet auf die abendliche Rückkehr Ismails. Dann können sie wenigstens reden. Nach einigen Tagen, die er wartend in dieser Hütte verbracht hat, beschließt er, Risiko hin, Risiko her, das Versteck kurz zu verlassen und einen Spaziergang zu machen. Er kommt an einem Brunnen vorbei, trinkt, in vollen Zügen.
"Als ich mich aufrichtete und gerade mit dem Rücken der rechten Hand über meine Lippen wischte, fühlte ich plötzlich in der Wade meines linken Beines einen jähen Schmerz, als hätte mich jemand mit einer Eisenstange geschlagen. Ich fuhr herum und blickte um mich. Da stand ein gelber Hund, bleckte die Zähne und grinste hämisch. Kann auch sein, dass er nicht grinste und ich es mir später nur eingebildet habe."
"Die Leute, die auf dem Wall standen, hatten beobachtet, was geschehen war. Nicht so schlimm, junger Mann, riefen sie. Gib Tabak auf die Wunde, der Hund ist doch sonst völlig harmlos."
Jetzt ist Ahmets Zwangslage perfekt. Am Abend erzählt er Ismael von dem Vorfall:
"Ich übergebe dir die Pistole, Ismail! Warum? Zu fünfzig Prozent besteht die Möglichkeit, dass ich tollwütig werde. Und wenn du doch versuchst, nach Istanbul durchzukommen? Nein, dass der Hund tollwütig war, ist nur zu fünfzig Prozent wahrscheinlich. Dass mich der Arzt aber der Polizei ausliefert, steht zu hundert Prozent fest. Und dann kann ich ja noch unterwegs gefasst werden. Ich fahre nicht nach Istanbul. Wenn ich tollwütig werde, erschießt du mich."
Ahmet beginnt, Striche zu machen. Die Inkubationszeit beträgt vierzig Tage. Jeden Tag, der vergeht markiert er an der Wand. Tag für Tag. Das wird keine Heldengeschichte, sondern eine quälende Warterei. So markiert jeder Strich ein Kapitel in dem Buch, und in seinem Leben. Er erlebt noch einmal seine Studienjahre in Moskau. Und seine große Liebe zu Anuschka, einer jungen, klugen, selbstbewussten, schönen Studentin.
"Höre im Lied, das die Flöte erzählt, / Wie sie der Schmerz der Trennung quält."
Diese Verse ziehen sich wie ein Leitmotiv durch das ganze Buch. Der Roman heißt, das sollten wir nicht vergessen, "Die Romantiker". Auch an den ursprünglichen Titel, "Mensch, das Leben ist schön", sollten wir uns immer einmal wieder erinnern.
Es sind schließlich die ersten Jahre nach der russischen Revolution. Noch ist die Begeisterung zu spüren, das Feuer, das in diesen jungen Menschen brennt, die große Aufbruchsstimmung, die sie ergriffen hat, im tagtäglichen Leben, und, davon weiß uns die Kunstgeschichte, fast aller Gattungen, zu berichten, auch in den Künsten. Der Futurismus war auf seinem Höhepunkt. Und Hikmet, beziehungsweise sein Held Ahmet, mittendrin. Das Versprechen einer besseren Welt leuchtete am Horizont auf. Viele Menschen glaubten an diese Möglichkeit, Elend, Leiden und Unterdrückung aufzuheben. Aber hier geht es nicht um Politik. Die jungen Studenten lebten und liebten. Nazim Hikmet war in diesen Jahren mit Sergej Jessenin befreundet und mit Wladimir Majakowski. Er hat den großen Regisseur Meyerhold gekannt und dann selbst begonnen, Theaterstücke zu schreiben.
Die Moskauer Erinnerungen werden aber durchgängig, schon durch die Einteilung mit den täglichen Strichen, aus türkischer Perspektive erzählt.
Die große Liebe Anuschka hieß in Wirklichkeit Lena. Als Hikmet 1928 wieder einmal in die Türkei zurückkehrt, erhält sie kein Visum. Bald darauf stirbt sie an Cholera. "Die Romantiker" erzählen im ersten Teil die bewegende Geschichte dieser verlorenen Liebe.
Diese Lena/Anuschka war eine glühende Kommunistin, an der allerdings jeder Theologe seine helle Freude haben konnte. Denn sie praktizierte Nächstenliebe. Sie nahm das christliche Gebot beim Wort, auf bewundernswerte Weise. Anuschka verbringt eine Nacht mit einem Chinesen, der zu dem Freundeskreis gehört und zurückkehren muss nach China, vermutlich in den Tod. Dieser SI-YA-U hat Anuschka glühend geliebt. Das gab Konflikte zwischen ihr und Ahmet, Eifersuchtsszenen. Es sind eben "Romantiker".
Einige Tage, nachdem sie im Krach auseinandergegangen waren, kommt Anuschka zu Ahmet. Sie fragt ihn:
"Machst du immer noch wegen dieser Geschichte so ein Gesicht? Ich komme aus der Türkei. Ist es ein so großes Verbrechen, wenn ich mit SI-YA-U, einen Mann, der vielleicht in den Tod geht, der mich so von ganzem Herzen und so unglücklich liebt, eine Nacht verbringe und ihn in dieser Nacht glücklich mache? In dieser Frage gibt es zwischen uns keine Verständigungsmöglichkeit, Anuschka, laß meinen Arm los. Bist du so sicher, dass ich mit SI-YA-U geschlafen habe? Ich war verwirrt."
Und er bleibt es. Weil er keine klare Antwort erhält. Weil es keine klaren Antworten gibt.
1988 war Hikmets Roman mit einem Nachwort des Schweizer Erzählers Peter Bichsel in der Sammlung Luchterhand erschienen. Jetzt, genau zwanzig Jahre später, erscheint das Buch unverändert wieder in der Bibliothek Suhrkamp. In der Zwischenzeit ist eine Welt untergegangen. Das sozialistische Lager, das seinem Namen alle Ehre machte, ist geöffnet worden und über Nacht fast spurlos verschwunden. Die russische Revolution, die eine neue Epoche der Weltgeschichte angekündigt hatte, ist auf eine Episode zurückgeschrumpft. Spätestens der Stalinismus hat die Idee einer sozialistischen Gesellschaft ein für allemal kompromittiert. Obwohl, wie wir leicht sehen können, auch in unserem System nicht alles Gold ist, was glänzt.
Aber was ist mit Hoffnungen, die mit der Revolution einmal verbunden waren? Was ist mit der Idee einer gerechteren Gesellschaft, mit dem Wunsch, Leiden, Elend, Unterdrückung zu beseitigen.
Nazim Hikmet, der Dichter, fand das Leben schön. Das verdient Bewunderung. Hans Magnus Enzensberger wusste bereits 1960, warum er ihn in sein großes "Museum der modernen Poesie" aufnahm. Hikmet, der Kommunist, kämpfte um die Möglichkeit, sich und anderen ein schönes Leben zu ermöglichen. Das verdient, zumindest, Respekt.
Peter Bichsel, der Schweizer Erzähler, nannte Hikmet "einen großen Menschen". Über den Roman sagte er: "Die Romantiker" gehören "zu den ganz großen Büchern dieses Jahrhunderts." Dem ist nichts hinzuzufügen.
Nazim Hikmet: Die Romantiker
Aus dem Türkischen von Hanne Egghardt
Mit einem Nachwort von Peter Bichsel
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008, 267 Seiten, 16,80 Euro