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Der naiv-träumende Chagall

Arbeiten aus Chagalls frühen Pariser Jahren und der anschließenden Zeit in Russland, also von 1911 bis 1922, präsentiert das Kunsthaus Zürich. Programmatisch ist Chagalls Werk da schon angelegt, der immer auch ein Träumender bleiben wollte.

Von Christian Gampert |
    Gleich am Anfang der Ausstellung hängt ein Bild, das die Verfassung des jungen Chagall sehr schön beschreibt: Unter einem Baum liegt, träumend, eine rotgekleidete, ein wenig kasperlhafte Gestalt und schaut nach oben – in die Baumkrone, zu den Vögeln, in die Wolken. Das Bild heißt "Der Dichter mit den Vögeln", gemalt 1911; es ist stilistisch scheinbar naiv, mit kindlich gepunkteten Blättern und verschwimmenden Wiesen- und Himmelsfarben – aber natürlich ganz programmatisch, was die Zukunft des Künstlers Marc Chagall anbetraf, der eigentlich Moische Schagalow hieß. Der fühlte sich als chassidischer Jude seit jeher von den Dichtern angezogen, später war er mit Apollinaire und Cendrars befreundet. Aber er wollte immer auch ein Träumender bleiben, der aus weiter Entfernung auf das Geschehen guckt – seine Arbeiten sind Erinnerungen, Traumbilder, Erzählungen aus einer anderen Welt.

    Es ist deshalb verwunderlich, dass die Züricher Ausstellung uns Chagall als "Meister der Moderne" nahebringen will. Ist er das denn? Ist er nicht einer, der vehement die Macht des Alten, Altmodischen, Dörflichen, Vertrauten und Langsamen gegen das Tempo der industrialisierten Moderne einklagt?

    Die Kuratorin Simonetta Fraquelli hat für die Ausstellung lauter Bilder aus dem Frühwerk gewählt, die Chagall unter dem Einfluss besonders von Kubismus und Orphismus, von Fauvismus und Surrealismus, später auch des Suprematismus zeigen, wobei er letzteren eher ironisierte.

    "Ich denke, dass dieser Zeitraum einer der interessantesten seiner Karriere ist. Weil er sich mit den Avantgardebewegungen seiner Zeit konfrontiert, sowohl in Paris, als auch in seinem Geburtsland Russland. Er studiert diese Stilrichtungen, aber er entwickelt daraus eine ganz eigene, originelle, künstlerische Sprache, die er sein ganzes Leben lang beibehalten wird."

    In der Tat ist es so, dass Chagalls Traditionalismus ohne das Stahlbad der Moderne wahrscheinlich uninteressant wäre: Er benutzt kubistisch-zerbrochene Formen, die sehr bunten Farben des Orphismus, später auch die Geometrien des ihm herzlich unsympathischen Malewitsch. Und doch transformiert Chagall all das in eine märchenhafte Welt, die voller Wehmut vom alten Russland erzählt, vom Leben auf dem Land, von der Kälte, der Armut und der Religion, von der Geburt und vom Tod, vom Krieg und von der Liebe. Diese Themen sind universell. Und wahrscheinlich machen sie Chagalls Erfolg aus, bis hin zu seinen biblischen Themen und Kirchenfenstern: Sie gehen uns an.

    In dieser Ausstellung kann man nun sehen, wie dieser Stil entsteht, wie die Figuren zu fliegen beginnen, das jüdische Theater anfängt, zu tanzen, wie Mensch und Tier in seltsamer Eintracht leben, wie das arme Ostjudentum musiziert, malt, tanzt, erzählt. Man könnte sagen, dass Chagall eine harmonische Moderne erfindet, ohne deren Abgründe und Albträume zu verschweigen.

    Der alte Jude schwebt über dem winterlichen Witebsk: ein Bild der Heimatlosigkeit. Die schöne Bella hebt beim Spaziergang ab: ein Bild der Liebe und des Überschwangs. Aber fliegen kann man eben nur im Märchen oder im Zirkus, den Chagall ebenfalls mochte. Mensch und Tier sind einander immer noch vertraut - zum Beispiel in dem simultaneistischen, fast prismatisch aufgebauten "Moi et le Village". Alles ist symbolisch aufgeladen. Und nebenbei gibt es Pariser Bohème und russische Revolution.

    Die schön inszenierte Ausstellung konzentriert sich auf den Pariser Aufbruch und die Jahre in Russland nach der Oktoberrevolution, als Chagall kurzzeitig sogar Wandbilder fürs Theater malte. Aber er kehrte bald in den Westen zurück und wurde dort jener Universalkünstler, dessen Welttheater sich eine melancholische Naivität bewahrt. Aus der Reifephase hat man, seltsam zusammenhanglos, ein paar Klassiker aufgehängt, "Die roten Dächer" und die wunderbaren "Gaukler in der Nacht", die "Saltimbanques dans la Nuit". Im Kern aber berichtet die Ausstellung davon, wie sich jemand von der Konvention emanzipiert - übrigens, wie die Akte zeigen, auch sexuell -, um sich wieder dorthin zurückzusehnen: ein Bild des Künstlers Marc Chagall als junger Mann.