Die ersten zehn Minuten der Spielzeit waren grandios. Goethes Traum von einem deutschen Nationaltheater, sein Wilhelm-Meister-Roman als szenisches Oratorium, als pathetisches Prozessionstheater einer bürgerlichen Gesellschaft, die in stockendem Schritt zwischen doppelter Buchführung und Utopie gefangen ist. Unablässig quellen feierlich-ernst gewandete Menschen über die schräge Bühne, erbarmungslos getaktet von einer Lichtregie, die ein ebenso unablässig zwischen Schwarz und Weiß umspringendes Strahlenmuster auf den Boden projiziert.
Die "Stimme der Natur", die Wilhelm Meister auf dem Theater vernehmen will - sie ist hier nicht zu sehen, nur zu hören: Die bürgerliche Gesellschaft ist, als ob sie erst im Gesangsverein zu sich fände, vor allem eine von Choristen. Die unablässig auf- und abtretende Menschenmasse besteht zu einem Gutteil aus Mitgliedern der Europa-Chorakademie, deren Gesänge - viel Bach, viel Hugo Wolf - sich zart und dissonant wie berückende Klangwolken übereinanderschichten und aneinander reiben. Auch die Texte werden fast nur kollektiv vorgetragen, Goethe natürlich, aber auch Politökonomisches von Karl Marx.
Den Chorensembles stehen der Schwärmer Wilhelm Meister – die als einzige farbig kostümierte Bettina Hoppe – und sein Gegenpol, der Kaufmannsschwager Werner gegenüber - aber keineswegs als Individuen von Fleisch und Blut, sondern überdeutlich als Aufsager von Rollen. Die Botschaft ist klar: Kaum sagt hier einer Ich, schon ist er wie die andern. Das bürgerliche Individuum kann der Masse der sich selbst verwirklichenden Spießer gar nicht entkommen, weil es ein Bürger ist wie sie.
So wie Regisseur Ulrich Rasche Goethes Roman dekonstruiert, indem er ihm die Spannung zwischen Individuum und Gesellschaft, Künstlertum und Kaufmannsexistenz herausoperiert und alle Sehnsucht, alle Schönheit in die künstliche Gegenwelt der Musik auslagert, so verfährt er auch szenisch. Der ganze Abend ist eine einzige Verweigerung jeglicher Spannung, indem, geringfügig variiert, immer nur das immer gleiche geschieht. Das ist nicht unklug gedacht, und es nimmt zu Beginn durchaus gefangen – doch je länger es dauert, umso mehr verdichtet sich der Eindruck des Konzeptkunstgewerbes. Und entwickelte nicht das musikalische Konzept, das der bewährte Volksbühnenkämpe Sir Henry beigesteuert hat, seine ganz eigene Leuchtkraft – dieser "Wilhelm Meister" wäre nicht mehr als pathetischer Schmus.
Zwiespältig auch die zweite Premiere im Bockenheimer Depot. Alice Buddeberg häckselt Goethes "Clavigo" klein zum Drama des gefühlsverwirrten Popstars - übrig bleibt eine Art "story behind the song". Clavigo ist das große Kind, der ewige, selbstmitleidige Narziss, der die Bühnenbretter, zu einer löchrigen Halfpipe aufgebogen, ebenso für rasendes die-Wände-Hochgehen nutzt, wie als überdimensionierte Schreibfläche – das Liebesdrama ist nur Stoff für den nächsten Song, mit dem die Inszenierung enden wird, das Mädchen, das tot auf der Strecke bleibt, nur Gegenstand kalter Neugier.
Sein Ratgeber Carlos hingegen intrigiert als kreativschnöseliger Pop-Impresario, der seinem Schützling, in genauer Kenntnis der weiblichen Fan-Psyche, die Bindung an die eine Frau austreibt, damit er ein Liebesobjekt für alle bleibt.
Zu viel an dieser eingedampften Kammerspiel-Fassung bleibt plakativ, die fast karikaturistisch ausgestellten Gefühle kommen von der Stange, und der begabten Kathleen Morgeneyer, die die Marie spielt, wünscht man ihrerseits einen Impresario, der sie davor schützt, im Fach der verheulten, händeringenden Schmerzenszicken kleben zu bleiben. Einen Lichtblick aber gibt es doch, und das ist Viktor Tremmel als Maries Bruder Buenco: ein Schauspieler, der zeigen kann, dass es in ihm arbeitet, ohne je illustrativ zu werden. Ein schönes, diskretes Gegengewicht zu all der Übersichtlichkeit ringsum.
Hatte Oliver Reese zu Beginn seiner ersten Spielzeit mit großen Regie-Namen aufgetrumpft, setzt er zu Beginn der zweiten ostentativ auf den Nachwuchs. Der mag zwar zu Hoffnungen berechtigen – auf ihre Verwirklichung warten wir noch.
Infos:
Frankfurter Goethe-Festwoche 2010
Die "Stimme der Natur", die Wilhelm Meister auf dem Theater vernehmen will - sie ist hier nicht zu sehen, nur zu hören: Die bürgerliche Gesellschaft ist, als ob sie erst im Gesangsverein zu sich fände, vor allem eine von Choristen. Die unablässig auf- und abtretende Menschenmasse besteht zu einem Gutteil aus Mitgliedern der Europa-Chorakademie, deren Gesänge - viel Bach, viel Hugo Wolf - sich zart und dissonant wie berückende Klangwolken übereinanderschichten und aneinander reiben. Auch die Texte werden fast nur kollektiv vorgetragen, Goethe natürlich, aber auch Politökonomisches von Karl Marx.
Den Chorensembles stehen der Schwärmer Wilhelm Meister – die als einzige farbig kostümierte Bettina Hoppe – und sein Gegenpol, der Kaufmannsschwager Werner gegenüber - aber keineswegs als Individuen von Fleisch und Blut, sondern überdeutlich als Aufsager von Rollen. Die Botschaft ist klar: Kaum sagt hier einer Ich, schon ist er wie die andern. Das bürgerliche Individuum kann der Masse der sich selbst verwirklichenden Spießer gar nicht entkommen, weil es ein Bürger ist wie sie.
So wie Regisseur Ulrich Rasche Goethes Roman dekonstruiert, indem er ihm die Spannung zwischen Individuum und Gesellschaft, Künstlertum und Kaufmannsexistenz herausoperiert und alle Sehnsucht, alle Schönheit in die künstliche Gegenwelt der Musik auslagert, so verfährt er auch szenisch. Der ganze Abend ist eine einzige Verweigerung jeglicher Spannung, indem, geringfügig variiert, immer nur das immer gleiche geschieht. Das ist nicht unklug gedacht, und es nimmt zu Beginn durchaus gefangen – doch je länger es dauert, umso mehr verdichtet sich der Eindruck des Konzeptkunstgewerbes. Und entwickelte nicht das musikalische Konzept, das der bewährte Volksbühnenkämpe Sir Henry beigesteuert hat, seine ganz eigene Leuchtkraft – dieser "Wilhelm Meister" wäre nicht mehr als pathetischer Schmus.
Zwiespältig auch die zweite Premiere im Bockenheimer Depot. Alice Buddeberg häckselt Goethes "Clavigo" klein zum Drama des gefühlsverwirrten Popstars - übrig bleibt eine Art "story behind the song". Clavigo ist das große Kind, der ewige, selbstmitleidige Narziss, der die Bühnenbretter, zu einer löchrigen Halfpipe aufgebogen, ebenso für rasendes die-Wände-Hochgehen nutzt, wie als überdimensionierte Schreibfläche – das Liebesdrama ist nur Stoff für den nächsten Song, mit dem die Inszenierung enden wird, das Mädchen, das tot auf der Strecke bleibt, nur Gegenstand kalter Neugier.
Sein Ratgeber Carlos hingegen intrigiert als kreativschnöseliger Pop-Impresario, der seinem Schützling, in genauer Kenntnis der weiblichen Fan-Psyche, die Bindung an die eine Frau austreibt, damit er ein Liebesobjekt für alle bleibt.
Zu viel an dieser eingedampften Kammerspiel-Fassung bleibt plakativ, die fast karikaturistisch ausgestellten Gefühle kommen von der Stange, und der begabten Kathleen Morgeneyer, die die Marie spielt, wünscht man ihrerseits einen Impresario, der sie davor schützt, im Fach der verheulten, händeringenden Schmerzenszicken kleben zu bleiben. Einen Lichtblick aber gibt es doch, und das ist Viktor Tremmel als Maries Bruder Buenco: ein Schauspieler, der zeigen kann, dass es in ihm arbeitet, ohne je illustrativ zu werden. Ein schönes, diskretes Gegengewicht zu all der Übersichtlichkeit ringsum.
Hatte Oliver Reese zu Beginn seiner ersten Spielzeit mit großen Regie-Namen aufgetrumpft, setzt er zu Beginn der zweiten ostentativ auf den Nachwuchs. Der mag zwar zu Hoffnungen berechtigen – auf ihre Verwirklichung warten wir noch.
Infos:
Frankfurter Goethe-Festwoche 2010