Warum reisen wir? Und was macht es mit uns und der Welt, wenn wir in sie hinausziehen? Abgesehen von Geschäftsreisen oder Familienbesuchen, gehen wir modernen Menschen auf Reisen, um das, was wir jeden Tag anstarren, hinter uns zu lassen. Um stattdessen etwas Anderes anzuschauen: das Meer zum Beispiel oder eine fremde Stadt mit ihren aufregend unbekannten Zeichen. Dabei lassen wir die Anforderungen des Berufes, des Haushalts und so in einem gewissen Sinne uns selbst zu Hause. Reisen erzeugt Vergessen, schreibt Thomas Mann im Zauberberg,
"indem [es] die Person des Menschen aus ihren Beziehungen löst und ihn in einen freien und ursprünglichen Zustand versetzt."
Durch dieses Vergessen entspannen wir uns und öffnen uns für neue Eindrücke. Nehmen wir im Alltag hauptsächlich wahr, worauf wir unmittelbar reagieren müssen, nehmen wir auf einer Reise alles Mögliche wahr, einfach weil es ungewohnt ist und deswegen interessant. Wir entkommen der Zweckrationalität und geben uns der Ziellosigkeit und Beliebigkeit hin. Auch wenn dieses Versprechen keinesfalls immer eingelöst wird: Reisen ist ein Befreiungsschlag aus einem routinierten Leben.
Millay Hyatt ist in den USA geboren. Sie promovierte über das Utopische und Utopiekritische bei Hegel und Deleuze. Seit 2001 arbeitet sie als Übersetzerin, Dolmetscherin und freie Autorin in Berlin. 2012 erschien im Links-Verlag "Ungestillte Sehnsucht. Wenn der Kinderwunsch uns umtreibt".
Nun wissen wir nicht erst, seit die Schweden den Begriff "Flugscham" geprägt haben, dass das Reisen auch Schattenseiten hat. Die Kritik am Tourismus oder auch an Vergnügungsreisen aller Art ist fast so alt wie der Tourismus selbst. So beklagte sich etwa ein gewisser Heinrich Wenzel in seinen 1837 veröffentlichten "Reiseskizzen aus Tyrol" über den "Heuschreckenschwarm" der Engländer, die "störend und hemmend" "den Rhein, die Schweiz und Italien durchziehen". Seit jeher stellen Touristen für andere Touristen den größten Stimmungskiller dar. Der Tourismus ist insofern in sich selbst widersprüchlich, ein Problem, das wir bei jedem Sommerurlaub auf Kreta oder auf Phuket diffus spüren. Aber warum ist das so?
Fernweh als romantische Kategorie
1958 hat Hans Magnus Enzensberger eine "Theorie des Tourismus" entwickelt, der zufolge "Fernweh […] eine romantische Kategorie" ist. Enzensberger zeichnet die Freiheitsversprechen der bürgerlichen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts nach, die durch die Restauration, die Bürokratisierung und Industrialisierung der Arbeitswelt wieder beschnitten wurden, aber in der Vorstellung unversehrt weiterlebten. Die englische und deutsche Romantik, schreibt er,
"verklärte die Freiheit und entrückte sie in die Fernen der Imagination, bis sie räumlich zum Bilde der zivilisationsfernen Natur, zeitlich zum Bilde der vergangenen Geschichte, zu Denkmal und Folklore gerann. Dies, die unberührte Landschaft und die unberührte Geschichte, sind die Leitbilder des Tourismus bis heute geblieben."
Verlassene Karibikstrände, von unserer Zivilisation unberührte indonesische Dörfer… Um unsere Sehnsucht nach solchen Orten einzulösen, ist es natürlich von großer Wichtigkeit, dass diese Bilder auf der Reise nicht entzaubert werden durch Erinnerungen an die Heimat und den Alltag. Deswegen sind andere Touristen immer zu laut: Ihre Anwesenheit führt uns vor Augen, dass das Unberührte berührt ist.
Die Kritik am Massentourismus speist sich oft genug aus dem snobistischen Versuch, dieser Enttäuschung zuvorzukommen. Eine der wichtigen Wurzeln unseres modernen Reiseverhaltens ist die "Grand Tour" ab dem 17. Jahrhundert: Dabei bereisten die Sprösslinge des Adels und des gehobenen Bürgertums im Rahmen ihrer klassischen Ausbildung vor allem die Kulturstätten und Naturlandschaften im südlichen Europa. Mitte des 19. Jahrhunderts allerdings führte der Engländer Thomas Cook dann Pauschalreisen ein und machte den Tourismus auch den Arbeitern zugänglich. Diese Demokratisierung schwächte den Distinktionseffekt des Reisens. Was früher nur einigen wenigen Privilegierten vorbehalten war und jetzt von den Massen konsumiert werden kann, muss einfach abgewertet werden: Das ist bis heute eine bedeutende, wenn auch selten offen ausgesprochene Kritik am Tourismus geblieben.
Tourismus: Ausbeutung statt Bereicherung
Dem Tourismus kann man aber auch weniger heuchlerische Vorwürfe machen: Die Zerstörung der Umwelt, sowohl durch die Verkehrsmittel, die zur An- und Abreise benutzt werden, wie auch das Konsumverhalten am Zielort oder die Ausbeutung der einheimischen Bevölkerung, die zu Dienern der Touristen erniedrigt und als malerisches Lokalkolorit zu Komparsen in ihrem eigenen Leben werden. Mögen Millionen von Menschen in den ärmeren Ländern wirtschaftlich vom Tourismus profitieren, die sozialen Auswirkungen sind nicht nur positiv. So hat die Schriftstellerin Jamaica Kincaid ein kleines bitterböses Büchlein mit dem Titel "Nur eine kleine Insel" geschrieben. Darin zeigt sie, wie die Einnahmen durch den Tourismus in ihrem karibischen Heimatort einige wenige bereichern, während die ausländischen Besucher den meisten Einheimischen vor allem ihre eigene Armut vorführen.
"Jeder Einheimische eines beliebigen Landes ist ein potenzieller Tourist, und jeder Tourist ist irgendwo Einheimischer. Alle Einheimischen verbringen überall ein Leben von überwältigender und erdrückender Banalität. Jeder Einheimische würde gern eine Ruhepause haben, jeder Einheimische würde gern auf Reisen gehen. Aber manche Einheimischen – die meisten auf dieser Welt – können nirgendwo hingehen. Sie sind zu arm, um der Realität ihres Daseins zu entfliehen, und sie sind zu arm, um dort anständig zu leben, wo sie leben. Die Einheimischen beneiden Sie, den Touristen, weil Sie die Möglichkeit haben, die Banalität und Langeweile des Einheimischen in Ihr eigenes Vergnügen zu verwandeln."
Über die letzten Jahrzehnte ist der Tourismus zwar stetig weiter gewachsen, hat sich dabei aber – auch aufgrund solcher kritischen Stimmen – immer weiter aufgefächert in eine ganze Reihe von Gegenbewegungen zum Massentourismus. So entwickelte sich der Rucksacktourismus in den 60er- und 70er‑Jahren, als junge Menschen aus Nordamerika oder Westeuropa mit dem Bulli oder per Anhalter bis nach Indien oder Thailand reisten. Mit wenig Geld in der Tasche und ohne feste Reisepläne war die Idee dabei, die Welt ohne zwischengeschaltete Annehmlichkeiten zu erleben. Da viele von dieser Idee angezogen waren, entwickelten sich aber genau solche Annehmlichkeiten: Reiseführer zugeschnitten auf die Interessen der Rucksackreisenden wurden veröffentlicht, Herbergen, Restaurants und Läden entlang beliebter Routen wurden geöffnet. Heute sind die Trampelpfade in manchen Orten in Südostasien, wie etwa die Khaosan Road in Bangkok, kaum zu unterscheiden von den massenkompatiblen Orten der Pauschalreisenden.
Das Unberührte berühren als Reisevorhaben
Andere Alternativen wie der Abenteuertourismus sind in einer ähnlichen Sackgasse gelandet, und das überrascht kaum. Denn nach wie vor geht es beim Besteigen eines Sieben- oder Achttausenders im Himalaya wieder nur um die Distinktionseffekte: das Unberührte berühren und sich von der Masse abheben. Immer neuere, entlegenere, ausgefallenere Pfade müssen her, bis sich diese wiederum auch als altbekannt erschöpft haben. Auch der Ökotourismus ist vielfach kritisiert worden aufgrund der Umweltbelastungen in sensiblen Ökosystemen – durch Reisende, die sie doch gerade aufgesucht haben, weil sie die Natur wertschätzen.
"ich taute Grönland auf mit meinem Blick,
ich schmolz die Gletscher, während ich sie voll der Andacht überflog"
ich schmolz die Gletscher, während ich sie voll der Andacht überflog"
schreibt die Lyrikerin Marion Poschmann. Auch der Voluntourismus, bei dem eine Urlaubsreise in ein Entwicklungsland mit Freiwilligenarbeit verbunden wird, erwirkt oft genau das Gegenteil dessen, was beabsichtigt wurde. So treibt der Wunsch, Kindern zu helfen, von Uganda bis Kambodscha eine regelrechte Industrie an, in der Kinderheime gegründet und mit falschen Waisen gefüllt werden, um die ausländischen Freiwilligen zu bedienen.
Gibt es einen Ausweg aus dieser miserablen Dialektik, in der die Flugschamdebatte nur die jüngste Episode ist? Frisst der Tourismus zwangsläufig immer seine Kinder? Wenn ja, müsste die Konsequenz dann nicht Balkonien heißen? Der Stillstand durch die Corona-Pandemie wäre dann nur die aufgezwungene Umsetzung dessen, was wir sowieso tun sollten.
Aber was dann anfangen mit dem Drang, der uns in die Welt hinaustreibt? Der große britische Reiseschriftsteller Bruce Chatwin schreibt:
"Neue Moden, neue Speisen, […] und neue Landschaften. Wir brauchen sie, wie die Luft, die wir atmen. Ohne Veränderung verkümmert unser Hirn und unser Körper. […].Reisen trägt nicht nur zur Entfaltung des Geistes bei. Es formt ihn."
Chatwin übergeht mit seiner universalistischen Aussage offensichtlich kulturelle, historische und schichtspezifische Unterschiede bei der Reiselust. Trotzdem lehnen wir uns vermutlich nicht zu weit aus dem Fenster, wenn wir das Bedürfnis nach Abwechslung und Bewegung als existenziell für die allermeisten Menschen annehmen. Dieses Bedürfnis hat sich in der Moderne unter anderem in den Urlaubs- und Tourismuspraktiken geäußert, um die es hier geht – und die sich zunehmend in untragbaren Widersprüchen verstricken. Aber auch in Zeiten der Klimakatastrophe und der unbedingten Notwendigkeit, unseren CO₂-Ausstoß zu verringern, auch in Zeiten des Overtourism, in denen beliebte Reiseziele wie die Lagunen von Venedig oder der Taj Mahal buchstäblich unter dem Andrang ersticken, wäre es fatal, wenn wir uns jetzt alle auf Dauer in unsere Zimmer einsperren würden. Eine Quarantäne kann eine Seuche eindämmen, aber sie kann nicht die Antwort auf die bisher skizzierten Probleme sein. Ohne Bewegung kein Leben. Unser Fernweh erinnert uns daran.
Größere Entfernung = größeres Glück?
Was uns die heutigen Umstände zu hinterfragen zwingen, ist aber die Annahme, die dem Gefühl des Fernwehs zugrunde liegt. Es ist die Vorstellung, dass die größere Entfernung auch die größere Abwechslung und das größere Glück mit sich bringt. Es ist diese Vorstellung, gekoppelt mit der romantischen Idee der Unberührtheit und der abgelegenen Pfade, die das Reisen ad absurdum führt.
Einen Weg aus diesen Widersprüchen hinaus weist vielleicht der US-amerikanische Schriftsteller Henry David Thoreau. Er ist bekannt für sein Buch "Walden", in dem er die Jahre beschreibt, die er als Aussteiger in einer selbstgebauten Blockhütte im Wald verbrachte. Um Abenteuerlust und Fernweh scheint es ihm nicht zu gehen, doch klingt in seinem Essay "Vom Spazieren", die Lust am Neuen stark an:
"Ein gänzlich neuer Ausblick ist ein großes Glück, das für mich an jedem beliebigen Nachmittag möglich ist. In zwei oder drei Stunden kann ich in einer Gegend sein, die mir so fremd ist, wie ich sie mir nur wünschen kann. Ein Farmgebäude, das ich zuvor nicht wahrgenommen hatte, ist manchmal so interessant wie die Behausung des Königs von Dahome."
Das westafrikanische Königreich Dahome war für Thoreau wohl der Inbegriff von Exotik. Und nun soll ein schlichtes Bauernhaus in seiner unmittelbaren Nachbarschaft da mithalten?
Um ihm das abzunehmen, müssen wir den Gegensatz von fremder Ferne und vertrauter Nähe aufgeben, der unsere Reiselust füttert. Wenn dieser Gegensatz in unseren Köpfen zu einem absoluten verhärtet, verlieren wir die Fähigkeit, sowohl das, was uns im Alltag umgibt, wie auch fremde Orte wirklich wahrzunehmen. Die Einheimischen auf Barbados reduzieren wir auf die vermeintlichen Merkmale, die uns am Andersartigsten, am Exotischsten vorkommen: Sie sind kinderlieb, sie tragen bunte Kleidung, sie sind trotz ihrer Armut lebensfroh. Sie sind
"in Harmonie mit der Natur und […] auf charmante Weise rückständig",
wie Jamaica Kincaid mit einer gehörigen Portion Sarkasmus schreibt. Damit unsere Reisefotos den Anforderungen der Instagrammability genügen – also auf der Social‑Media-Plattform Instagram möglichst viele Likes bekommen – darf kein auf sein Handy starrendes Kind mit Manchester United-T-Shirt das mosambikanische Strohhüttendorf verunstalten. Es darf noch nicht einmal eine Filiale einer deutschen Discounter-Kette in einer pittoresken Ansicht von einem Ferienort an der Costa Brava sichtbar sein. Aber je mehr wir diese störenden Faktoren auf unseren Reisen verdrängen, desto weniger erleben wir die Fremde, wie sie ist, und desto mehr suchen wir in ihr nur das Bild, das wir schon vorgefertigt mit uns bringen. Und desto mehr berauben wir uns der überhöhten Aufmerksamkeit, die uns widersprüchliche, unsere eigenen Vorstellungen auf den Kopf stellende Erfahrungen bescheren könnte, welche eben den Reiz des Reisens ausmachen.
Das Erstaunliche in der unmittelbaren Umgebung wahrnehmen
Im Umkehrschluss können wache Sinne am Heimatort aber auch ebendiesen Reiz erzeugen. Bei Thoreau scheint es gerade darum zu gehen, die überhöhte Aufmerksamkeit, von der gerade die Rede war, auf den Nahraum zu lenken: Diesen nicht als selbstverständlich und banal auszublenden, sondern das Merkwürdige, Erstaunliche und auch Schöne in der unmittelbaren Umgebung wahrzunehmen. Thoreau ist davon überzeugt, dass man ein Menschenleben lang den Radius von zehn Meilen (das entspricht 16 Kilometern) um den eigenen Wohnort zu Fuß erforschen könnte, ohne gänzlich damit vertraut zu werden. Wichtig sind ihm hierbei die Fortbewegungsmittel: die eigenen Beine. Dabei betont er die unbegrenzte Möglichkeit an Wegen, die man beim Spazieren einschlagen kann – im Idealfall unbefestigte Routen querfeldein. In unserem Zusammenhang scheint eine andere Qualität des Gehens die ausschlaggebende zu sein: Durch die Langsamkeit der Bewegung verändern sich nämlich die Dimensionen in der Wahrnehmung. Die Welt wird größer, wenn man die Geschwindigkeit drosselt. Wie bei einem Kleinkind, das vor der Stufe des eigenen Hauses ein Abenteuer erleben kann, öffnen sich dann Welten. Der britische Autor Dan Kieran beschreibt in seinem Buch mit dem programmatischen Titel "Slow Travel" eine Reise, die er mit seinen Freunden auf einem Milchwagen durch England gemacht hat. Mit dem Fahrzeug – ein frühes Elektroautomodell, mit dem Milch ausgeliefert wurde – brauchten sie vier Tage für eine Strecke, die ein Auto in zwei Stunden zurücklegen könnte, schreibt er:
"Nach der ersten Woche kam es mir vor, als würden wir ein weites, unerschlossenes Land durchqueren, und der Horizont begann sich vor uns auszudehnen."
In diesem Zusammenhang verweist er auf den Mathematiker Benoît Mandelbrot, der 1967 einen Essay veröffentlichte mit dem Titel "Wie lang ist die Küste Britanniens?" Die Antwort: Es kommt darauf an, mit welcher Maßeinheit man misst. Je kürzer die Einheit, desto mehr Winkel und Ecken wird man messen können, entsprechend länger wird die Küstenlinie. Dieses Gesetz kennt keine logische Grenze – man kann unendlich hineinzoomen und immer feinere Linien nachzeichnen. Kieran hat recht, wenn er dieses Paradox mit dem Reisen in Verbindung bringt, denn es eröffnet eine spannende Perspektive genau dort, wo sich momentan alles zu schließen scheint. Moderne Fortbewegungsmittel, kostengünstige Reiseangebote, die Globalisierung überhaupt haben dazu geführt, dass die Welt geschrumpft ist und so gut wie völlig erschlossen. Die Wunschidee des Unberührten wird immer realitätsferner.
Wenn wir aber mehrere Stufen runterschalten, uns in den Zug setzen, anstatt zu fliegen, aufs Fahrrad, wo wir früher Auto gefahren sind, zu Fuß gehen, wo wir sonst mit der S-Bahn gefahren sind, wird sich die Welt wieder neu und unerforscht vor uns erstrecken – und wir richten entsprechend weniger Schaden an. Die weißen Flecken auf der Landkarte befinden sich dort, wo wir schon ein Abbild des heimischen Geländes im Kopf haben, das durch unsere alltäglichen Wege strukturiert ist. Sie werden wieder neu erlebbar, wenn wir, statt mit 100 km/h an ihnen vorbeizufahren, aussteigen und uns umschauen. Uns verlaufen. Und vor einem verwunschenen Garten, einem versteckten Hinterhof mit einer ungenutzten Tischtennisplatte, einem seltsamen, raumschiffartigen Neubau oder einem stillen Dickicht stehen, das wir zuvor nie bemerkt haben. Dies kann, wie Thoreau schreibt, das "große Glück eines gänzlich neuen Ausblicks" mit sich bringen – oder zumindest einen kleinen Kitzel, der Lust macht, weiterzulaufen, und zwar in einem so gemütlichen Tempo wie möglich, damit uns auch nichts entgeht. Die Freude an den unspektakulären Entdeckungen, die wir dabei machen, wird versüßt durch das Staunen darüber, dass wir sie in der eigenen Umgebung vorgefunden haben.
Urlausbmotive, die sich nicht aus Neid speisen
Am Maßstab der Instagrammability werden sich diese Eindrücke freilich nicht messen lassen. Vielleicht begegnen wir durchaus schönen oder lustigen Motiven, die wir im Netz teilen können, – ein Graffitto, das uns direkt anzusprechen scheint, ein Baum, der sich in einer Pfütze spiegelt – aber ihr Wert wird sich nicht aus dem Neid‑ oder Nachahmfaktor speisen, der der Beliebtheit in den sozialen Medien unterliegt. Wo zum Beispiel Tausende von fast identischen Fotos vom Felsvorsprung im norwegischen Trolltunga gepostet werden. Im Gegenzug müssen wir uns bei diesen Streifzügen nicht auf anstrengende Weise inszenieren. Der Wert der Erfahrungen, die wir in dieser Art von Entschleunigung machen, ergibt sich allein daraus, was für uns persönlich gewohnt und was für uns neu ist. Das Neue, über das wir stolpern, wird unserem Nachbarn oder unseren Online-Freundinnen nicht unbedingt neu sein, sie haben andere weiße Flecken auf ihren persönlichen Landkarten, die sie auf andere Weise erforschen können. Eine angeblich objektive Popularitätsrangliste hat hier gar keinen Sinn. Was für eine Erleichterung! Stattdessen machen uns die neuen und ganz eigenen Berührungspunkte, die zu Orten in der näheren Umgebung entstehen, zu aktiveren Bewohnern unserer Lebensräume. Wir nutzen oder konsumieren sie nicht mehr nur, sondern erleben sie – möglicherweise werden wir sogar dazu angetrieben, sie zu gestalten.
Aber kann diese Art der Nahraumaneignung wirklich das tiefe Bedürfnis stillen, aus dem heimischen Mief herauszukommen? Ist das vor allem in Zeiten der wachsenden Nationalismen vielleicht nicht nur ein Wunsch, sondern sogar eine kosmopolitische Verantwortung? Hier soll keinesfalls die Nabelschau eines bequemlichen Heimaturlaubs angepriesen werden. Im Gegenteil geht es bei der Nahaufnahme der eigenen oder der näheren Umgebung um die Erfahrung, dass das "Heimische" immer vom "Fremden" durchzogen ist. Dan Kieran beschreibt in seinem Buch, wie das
"langsame Reisen […] an dem Gebilde der nationalen Identität nagt, und die Grenzen zwischen den Nationen […] ihre Unbeständigkeit offenbaren."
Wenn man vom Frankfurter Flughafen abhebt und in Charles de Gaulle landet, verkehrt man zwischen zwei nationalen Gebilden, die sich als einheitlich präsentieren. Wenn man diese Strecke auf dem Landweg zurücklegt, kommt man auf der deutschen Seite an Orten vorbei, die Namen wie Saarlouis tragen und in Frankreich an solchen, die Kirschnaumen heißen, und man erlebt eine Landschaft, die beide Seiten der Grenze miteinander verbindet.
Eine starre Gegenüberstellung der Kategorien "heimisch" und "fremd" ist nicht mehr haltbar, wenn sie es denn jemals war. Niemand, der in Deutschland lebt, muss sich in den Flieger setzen, um "fremde" Sprachen zu hören oder unbekannte Gerichte zu essen, und kaum einer in den Zug. Und wer ist der deutschen Professorin fremder – die schwedische Ingenieurin, die neben ihr am Strand in Thailand liegt, oder die Verkäuferin im Supermarkt um die Ecke? Für tatsächliche Begegnungen mit uns unvertrauten Lebensweisen ist eine Fernreise mitnichten eine zwingende Voraussetzung. Mindestens seit dem Vormarsch der Globalisierung koppeln sich Differenzen und andersartige Kontexte von geografischer Entfernung und Ländergrenzen ab.
Die "Fremde" ist also viel näher als wir denken. Um sie wahrzunehmen, müssen wir nichts weiter als unsere Fortbewegung verlangsamen und unsere Aufmerksamkeit schärfen. Die Faustregel könnte lauten: Je langsamer wir uns bewegen, desto niedriger sinkt die Reizschwelle. Wenn man Thoreaus 16 Kilometer mit dem Fahrrad zurücklegt, wird man mehr erleben, als wenn man sie mit dem Auto bewältigt, und wenn man zu Fuß geht, noch mehr. Fährt man mit dem Zug nach Athen, anstatt zu fliegen, fängt das Abenteuer spätestens beim ersten Umstieg an: Nämlich wenn der slowenische Nachtzugschaffner kein Englisch spricht und der Blick aus dem Fenster auf das vorbeiziehende Tennengebirge in der Abenddämmerung geht. Und nicht erst, nachdem man sich durch zwei Flughäfen gekämpft und die tote Zeit im Flieger durchstanden hat. Fährt man mit dem Fahrrad nach Athen, braucht man vielleicht nur bis nach Bratislava. Weil man schon so viel erlebt hat.
Allerdings gibt es auch viele Reisende, die gar nicht so scharf auf Nachtzugschaffner sind, mit denen sie keine Sprache gemeinsam haben, die weniger das Unvorhersehbare als die Erholung in der Ferne lockt. Ein durchaus berechtigtes Verlangen! Je zermürbender der Alltag dieser Menschen, desto berechtiger ist es. Doch zeigt ein Blick auf das Reiseverhalten der Deutschen, dass es gerade die mit den größten alltäglichen Herausforderungen sind, die am wenigsten unterwegs sind. Hierzulande reisen Geringverdiener und Menschen mit niedrigem Bildungsabschluss am wenigsten und legen, wenn sie überhaupt wegkommen, die kürzesten Strecken zurück. Die gängige Vorstellung von unreflektierten Arbeitern auf Ballermann‑Billigflieger-Pauschalurlaub im Gegensatz zu umweltbewussten Akademikern auf nachhaltiger Bildungs- oder Ökoreise ist schlicht falsch. Im Gegenteil: Laut einer Erhebung des Umweltbundesamts verursachen besser Situierte und gut Ausgebildete mit ihrem Reiseverhalten unverhältnismäßig mehr CO₂-Ausstoß als die Armen und schlechter Gebildeten – Geschäftsreisen gar nicht mit eingerechnet.
Reisegutscheine für Arbeitnehmer aus dem Niedriglohnsektor
Angesichts dieser Schieflage könnte man sich eine verordnete Lösung so vorstellen: Reisegutscheine werden für diejenigen im Niedriglohnsektor ausgestellt, die in erster Linie Erholung brauchen oder wollen und dieses Bedürfnis nicht mit einem Spaziergang zur nächsten Siedlung oder an den nächsten Badesee befriedigen können. Diejenigen, die beruflich sowieso viel unterwegs sind oder die die Strapazen des Alltags durch privat erworbene Dienstleistungen abfedern können, müssten dagegen auf Langstreckenflüge oder Kurztrips ans Mittelmeer verzichten. Zu berücksichtigen wäre hier auch die Tatsache, dass die besser Gestellten in der Regel in Umgebungen zu Hause sind, die eher Möglichkeiten der Entspannung oder der Freude an Natur oder Kultur zuträglich sind als die Umgebungen, in denen die weniger Privilegierten leben. Es wäre also eine Art vorgeschriebene soziale CO₂‑Kompensation. Sie hinkt zwar im Hinblick auf die Ausbeutungsketten, die dadurch international befestigt würden – die ausgebeuteten Arbeitskräfte hierzulande erholen sich, indem sie sich dort entspannen, wo sich kaum ein Einheimischer selbst einen Urlaub leisten kann. Aber es wäre zumindest ein Schritt in die richtige Richtung: Wir würden einen Ausgleich schaffen in einer Situation, die nicht nachhaltig und nicht gerecht ist. Eine Situation, in die wir uns mit unserem Reiseverhalten verstrickt haben.
Nun leben wir – zum Glück – in einer Demokratie, in der solche von oben herab bestimmten Regelungen nicht durchsetzbar sind. Es sei denn, wir befinden uns in einer Krisensituation, wie momentan mit dem Coronavirus. Geschlossene Grenzen, Ausgangssperren und Tourismusverbote treffen die meisten von uns gleichermaßen. Allenfalls mit Ausnahme der Superreichen – die ohnehin gedeihende Privatjetbranche vermeldet dieser Tage einen rasanten Anstieg an Buchungen. Die meisten unter uns werden also unabhängig von der Stärke ihres Fernwehs oder der Dringlichkeit ihres Bedürfnisses nach Erholung dieses Jahr mit großer Wahrscheinlichkeit den Sommerurlaub anders gestalten müssen als sonst. Die gute Nachricht ist, dass eine Entschleunigung in diesem Bereich nicht nur sinnvoll ist, um die Pandemie einzudämmen. Nicht nur sinnvoll ist, um die Klimakatastrophe abzuwenden und den Overtourism zu drosseln. Diese Entschleunigung kann auch unheimlich bereichernd sein und glücklich machen.
In einem Essay aus dem Jahre 1971 mit dem Titel "Feld" beschreibt der englische Schriftsteller John Berger die in seinem Alltag immer wiederkehrende Erfahrung, an einem Bahnübergang mit gesenkten Schranken zu stehen und auf ein Feld zu blicken, auf dem ein unscheinbares Ereignis seine Aufmerksamkeit bannt und in Folge seine Wahrnehmung weitet. Ein Hund rennt in engen Kreisen herum oder zwei Pferde grasen. Das erste Ereignis, schreibt er, führt zwangsläufig zur Wahrnehmung weiterer Ereignisse, die vom Feld eingerahmt sind:
"Nachdem man den Hund bemerkt hat, bemerkt man einen Schmetterling. Nachdem man die Pferde bemerkt hat, hört man einen Specht klopfen und sieht ihn dann über eine Ecke des Feldes fliegen."
Es ergeben sich "überlappende Zufälligkeiten", eine Verdichtung, ein Eintauchen in eine Erfahrung, die ihn aus dem Narrativ seines Lebens herausreißt und seine Zeitwahrnehmung verschiebt. Weil er wegen der Schranken gezwungen wird, innezuhalten und
"gleichgültig irgendwo hinguckt, tut sich plötzlich etwas auf und erzeugt […] Glückseligkeit."
Ob wir uns nun die Schranken aus einer sozialen oder ökologischen Verantwortung heraus selbst auferlegen oder sie uns aufgrund einer Pandemie verordnet werden – oder ob wir uns Fernreisen und beliebte Tourismusziele schlicht nicht leisten können – wir können trotzdem unserem Alltag entkommen und uns der Welt öffnen. Indem wir mit wachen Sinnen trödeln.