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Der neunfarbige Hirsch und das kaiserliche Wettrennen

Literatur für junge Leser aus China konnte sich in Westeuropa bislang noch nicht durchsetzen. Zu traditionalistisch, zu fremd erscheinen viele Werke - doch es gibt interessante Bücher von jungen Autoren.

Von Karin Hahn |
    Eine fremde, fernöstliche Kultur mit ihren Geschichten, Traditionen und einem Einblick ins reale Alltagsleben, all das könnte neugierig machen. Doch nur wenige Bücher schaffen den Sprung ins Ausland. Auffallend überschaubar sind die Neuerscheinungen aus China im Vorfeld der Buchmesse: Bilderbücher mit traditionellen Themen, einfach gestrickte Tiergeschichten, ein westlich angehauchter Fantasyroman und ein ausdrucksstarkes Bilderbuch über die Kulturrevolution von Chen Jianghong, der allerdings in Paris zu Hause ist. Lei Ren ist Projektmanagerin der Frankfurter Buchmesse für Ostasien. Sie hat sich bei chinesischen Verlegern kundig gemacht, warum die chinesische Kinder- und Jugendliteratur auf dem deutschsprachigen Markt kaum gefragt ist.

    "Es gibt unterschiedliche Gründe, einmal liegt es daran, die chinesischen Kinder und Jugendbücher haben rückständige, pädagogische Einstellungen, das heißt Bücher müssen Werte vermitteln, Bücher müssen Wissen vermitteln. Es gibt wenig Bücher mit Fantasien, schönen Illustrationen, das ist wohl einer der größten Gründe. Es liegt wahrscheinlich auch daran, dass die Qualität der chinesischen Kinder- undJugendbücher doch ein bisschen hinter der der deutschen Bücher liegt. Man sagt auf dem chinesischen Kinder- und Jugendbuchmarkt Ideenlosigkeit nach, 60 Prozent sind Nachdrucke. Das ist auch ein Grund, warum man selten gute Kinderbücher findet. Es gibt auch weniger hervorragende Kinderbuchautoren wie in Deutschland. Sicher es liegt auch daran, dass die chinesische Kultur sehr fremd ist, für die westliche Welt. Illustrationen lustigerweise ist auch wichtiger Grund. In China kann man zwei Illustrationsstile feststellen, einmal ist es westlich. Man hat wirklich von den westlichen Kollegen abgeguckt, da ist die Qualität nicht besonders gut. Der chinesische Stil ist hervorragend gut gemacht, aber es ist sehr fremd, sehr traditionell und es ist nicht sehr einfach, in der westlichen Welt akzeptiert zu werden."

    Kinder- und Jugendbücher sind in China nicht zum Vergnügen da. Sie sollen den umfangreichen Schulstoff, den das Bildungssystem den Kindern aufbürdet, hilfreich unterstützen.

    "Ja, das nennt man, das zielstrebige Lesen und das kommt auch vom Konfuzianismus, Bücher sind immer von oben nach unten gerichtet, das heißt, man lehrt Kinder soziale, gesellschaftliche Werte. Es ist wenig Fantasie gefordert und es wird auch wenig Wert darauf gelegt, dass Bücher auch zur Vermittlung der ästhetischen Empfindungen sind."

    Andererseits wurde der chinesische Buchmarkt vor einigen Jahren noch von japanischen, schablonenhaften Mangas oder den in den 50er-Jahren hergestellten Kettenbilderbüchern überschwemmt. Europäische, großformatige Bilderbücher mit künstlerischem Niveau fand man eher selten. Aber die Situation in China ändert sich, meint Michael Neugebauer. Seit 10 Jahren führt, der für seine hochwertig illustrierten Bilderbücher bekannte Verleger, in Hongkong ein Büro für Buchdesign und arbeitet mit Professoren und Studenten vor Ort an neuen Projekten. Er glaubt an den Wert des Zukunftsmarktes China. Allerdings findet sich in seinem neuen Herbstprogramm nur ein Bilderbuch einer Chinesin.

    Yaxin Yang studierte in Peking und an der Kunst-Akademie in Hamburg. In ihrem Bilderbuchdebüt "Der Neunfarbige Hirsch" verbindet sie die traditionelle chinesische Kunst mit modernen Elementen. Erzählt wird eine alte Legende aus China. Der imposante in neun Farben schillernde Hirsch, die 9 ist ein Glückszahl, lebt sorglos am schönen Yangzi-Fluss. Aus seinen reißenden Wassern rettet er einem Mann das Leben. Tiao-da will dem ungewöhnlichen Tier unbedingt seine Dankbarkeit erweisen.

    Der Neunfarbige Hirsch überlegte kurz: "Ich wünsche mir, dass du niemandem
    verrätst, wo ich lebe." Sogleich beteuerte Tiao-da: "Macht euch keine Sorgen,
    ich verrate Euch nicht. Wenn ich mein Wort brechen sollte, dann will ich
    hässlich und stinkend werden."


    Doch der Mann wird sich nicht an seinen Schwur halten, denn einen goldenen Schatz verspricht der Kaiser demjenigen, der ihn zu diesem wundersamen Hirsch führen kann. Gestraft wird der Verräter wie in jedem Märchen und sogar der Kaiser wird moralisch belehrt. Yaxin Yang erzählt diese Legende mit faszinierenden Bildern, die auf chinesischem Reispapier und mit chinesischer Tusche und Mineralfarbe entstanden sind. Die Menschen, die neben dem riesigen glänzenden Hirsch verschwindend klein wirken, sind mit Kohlestift auf Zeichenpapier gemalt. Yaxin Yang hat eine Bildsprache entwickelt, deren Suggestion im Detail liegt. In den Gesichtern aller Figuren scheint jeder Gedanke sichtbar. Durch geschickte Perspektivwechsel betont sie die Machtverteilungen. Kraft und Tiefe gewinnt die Legende unverkennbar durch die ausgeprägte alte asiatische Stimmung, die die Bilder ausstrahlen. Die leuchtenden Farben des Hirsches entstanden durch moderne Computertechnik.

    Dass es durchaus interessante Arbeiten von jungen Autoren und Illustratoren zu entdecken gibt, zeigen Bilderbücher aus dem neu gegründeten Dix Verlag, der sich auf Reisen - reale und fantastische – spezialisiert hat. Nydia Yang und Kate Dargow, beide leben und arbeiten in Taiwan, greifen auf verlässliche alte chinesische Mythen zurück, thematisieren aber auch gegenwärtige Konflikte. So versuchen die frisch getrennten Eltern, ihren kleinen Sohn in Nydia Yangs Bilderbuch "Der knallblassrote Luftballon" zu beeinflussen. Der nur für den Jungen sichtbare Ballon, ein Herz, verblasst, je mehr das Kind zwischen den elterlichen Fronten zerrieben wird. Jeder Elternteil wirft dem anderen Versagen vor. Aber der Junge fühlt sich durch sein Verhalten ganz allein am Zerfall der Familie schuldig. In einer Traumsequenz wird dem verzweifelten Kind verdeutlicht, dass seine Eltern so wie der Mond und die Sonne nie zusammen kommen werden, ihn aber trotzdem lieben. Nah an der kindlichen Erlebniswelt erzählt die Autorin in klaren, luftigen schwarzweiß Illustrationen von einem inneren Konflikt, der ein Kind überfordert. Auch wenn das Bilderbuch auf den ersten Blick den Beigeschmack eines Ratgebers hat, China hat wie auch andere Länder eine hohe Scheidungsrate, versöhnt der fantasievolle Schluss – ohne Klischees.

    Es war einmal vor langer, langer Zeit in China, da herrschte der Jadekaiser im
    Himmel. Von der Erde aber hörte er in einem fort die Menschen klagen: Sie
    wüssten nicht, wie sie die Zeit einteilen sollten. Da dachte sich der Jadekaiser für
    sie eine Lösung aus...


    Im Bilderbuch "Das kaiserliche Wettrennen" erklärt Kate Dargaw nun, wie es einst zur ehrenvollen Platzverteilung der 12 Tierkreiszeichen kam. Alle Tiere müssen auf Anweisung des Kaisers einen Fluss überqueren - ein harter Kampf, vor allem für diejenigen, die nicht schwimmen können. Helfen die Tiere nun einander oder ist sich jeder selbst der Nächste? Vorgeführt wird, wie wenig eine langjährige Freundschaft zählt, wie ungerecht die Welt ist, in der man sich durchbeißen muss, wenn es um die Ewigkeit geht. Die vermenschlicht dargestellten Tiere spiegeln die unterschiedlichen Eigenschaften wie Hilfsbereitschaft und Gutmütigkeit, Hinterlist und Missgunst, aber auch Einzelkämpfertum, eine Verhaltensweise, die zwar kritisch betrachtet wird, im heutigen China aber erforderlich ist, um irgendwie weiterzukommen.

    Gewohnte Sichtweisen brechen die beschriebenen Bilderbücher nicht auf, sie umkreisen vorrangig Tugenden, die im Reich der Mitte einen hohen Stellenwert einnehmen. Das ist bei Chen Jianghong ganz anders. Er wendet sich in seinem Bilderbuch "An Großvaters Hand – Eine Kindheit in China" der jüngsten Vergangenheit, der Zeit der Kulturrevolution, zu. Gut dreißig Jahre mussten vergehen, bevor Chen sich an seine Kindheit ohne Hass, Wut und Rachegefühle erinnern konnte. Die Familie hatte wenig zu essen, die Kinder kaum Spielzeug, keine Bücher, keine Bilder und der Vater wurde in ein Umerziehungslager beordert. Aus der Erzählperspektive des heranwachsenden Kindes blickt der Künstler auf die Jahre zwischen 1966 bis 1976. An Großvaters Hand fühlt sich Chen jedoch geborgen, er ist sein lebenskluger Ratgeber.

    "Das ist wirklich ein Defizit bei den Kinder- und Jugendbücher, dass sehr sehr wenig oder kaum, dass aus der Sicht der Kinder oder Jugendlichen geschrieben worden ist. Liegt vor allem daran, dass es bei den Lehrern an Psychologie mangelt. Das wurde mir auch von sehr vielen chinesischen Verlegern gesagt. Man weiß nicht, wie man sich an die innere Welt der Kinder und Jugendlichen annähert und deswegen gibt esauch so wenig Bücher aus diesem Blickwinkel."

    ...meint Lei Ren. Möglicherweise erklärt sich auch so der Erfolg des Kinderbuches "Seidenraupen für Jing Ling" von Huang Beijia, das im letzten Jahr bei uns erschienen ist. Aus der Perspektive der 11- jährigen Jin Ling wird sehr real vom harten Schulalltag in China erzählt. Das Mädchen stammt aus einem gutem Elternhaus, Vater und Mutter sind Intellektuelle. Mittelmaß kann die ehrgeizige Mutter nicht dulden. Aber die an allem interessierte Jin Ling konzentriert sich nicht und schweift gern mit ihren Gedanken ab. Im Fach Chinesisch ist sie ganz gut, in Mathematik eine Katastrophe. Jin Lings Mutter setzt zum einen hohe Erwartungen in ihr einziges Kind, zum anderen wird das Mädchen von allen Familienmitgliedern maßlos verhätschelt. Die Prüfung von der Grund- zur Mittelschule steht an und Jing Lings Mutter wird zunehmend panisch. Natürlich muss es die beste Schule sein, denn nur so hat Jin Ling eine Chance im Ausleseprozess. Ein qualifizierter Nachhilfelehrer muss gefunden werden und auch das ist äußerst schwierig. Jin Lings ruhiger Vater kann die Hysterie seine Frau Zhao Huizzi nicht verstehen:

    "Was für einen Sinn soll denn so ein Nachhilfeunterricht haben? Zwanzig Schüler in einem kleinen Raum, das ist ja unmöglich! Da ist es doch besser, wenn die Kinder sich allein zu Hause hinsetzen und üben." Jin Ling stimmte ihm schnell zu: "Du hast ganz recht. Lass uns das Geld lieber sparen und ihre kauft mir stattdessen ein Fahrrad." Zhao Huizi warf unwirsch ein: "Geh in dein Zimmer! Wenn du in Mathematik nicht so schlecht wärest, müsste ich mir nicht so viel Mühe machen." Jing Ling versucht sich zu verteidigen:" Ich bin gar nicht so schlecht in Mathematik, aber deine Anforderungen sind zu hoch! Warum muss ich den unbedingt in die beste Schule gehen?"

    Den gesellschaftlich äußeren Druck überträgt die Mutter ins Innere der Familie und sie erwartet, dass ihr Kind für sie die Träume wahr macht, die sie nicht leben konnte. Aber Jin Ling weiß sich durchzusetzen. Auf der Suche nach Nahrung für ihre Seidenraupensammlung findet sie ganz allein die Lösung für ihre Schulprobleme. Chronologisch, in einer klaren, aber einfachen Sprache erzählt die chinesische Autorin vom Mutter-Tochter-Konflikt zwischen Zuneigung und Erwartungsdruck. Doch warum mutet eine Gesellschaft das ihren Kindern zu? Das fragt sich auch Huang Beijia zwischen den Zeilen und findet doch keine Antwort. Die Autorin greift kritisch ein Thema auf, dass wohl in der chinesischen Gesellschaft nicht mehr unter den Teppich gekehrt werden kann und auch im Westen diskutiert wird. Auf die Zukunft ausgerichtet stehen Konsum, Wohlstand und Wachstum in China im Vordergrund, das Interesse am Öffentlichen, an der Politik schwindet. Allerdings übt die Presse- und Publikationsbehörde, die direkt dem Staatsrat untersteht, bei allen staatlichen Verlagen eine Kontrollfunktion aus. Lei Ren hat bei der Vermittlung von deutschen Büchern an chinesische Verlage noch keine Zensur erlebt.

    "Die Zensur liegt eher im Kopf von den Redakteuren der einzelnen Verlage. Die passen natürlich auf, dass ihre Titel bei der Behörde dann auch durchkommen. Das sind so politische Themen oder Religion ist ein wichtiges Thema, man macht einen großen Umweg um Islamismus zum Beispiel oder Gewalt oder Sex."

    Da in China keine so klare Abgrenzung zwischen den Genres herrscht, unterteilt man eher nach Inhalten. Bei uns gehört "Drachentotem" von Cui Aner eindeutig in die Fantasyreihe und nicht nur, weil der Roman den Wolfgang-Hohlbein-Preis 2008 gewonnen hat. Der 24-jährige, in China lebende Autor studierte Sinologie und arbeitet als Lektor bei einem chinesischen Kinderbuchverlag, er schreibt Lyrik und Prosa. Für sein Debüt greift er in die reiche Kiste mit fernöstlichem Mythen-Inventar. So stammt sein Hauptheld Shaodian, ein Weiser und Besitzer der Drachenperle, von der Pangusippe ab. Laut chinesischer Schöpfungsgeschichte ist der Riese Pangu aus einem Ei geschlüpft und so entstand die Erde. Als alles fertig war, brachten Himmel und Erde 10 000 Geschöpfe hervor: Geister, Dämonen, Götter und Ungeheuer und den Menschen. Bei Cui Aner klingt das dann so :

    In Wirklichkeit stammt die gesamte Kraft der Nachfahren Pangus vom Großen
    Drachen selbst. Er ist der Beschützer, ihr Totem, das Symbol für Gerechtigkeit
    und Frieden des ganzen Universums, denn er entstand aus Pangus Geist, als er
    die Welt erschuf. Er besitzt die Gerechtigkeit und die Kraft Pangus, gehorcht
    Pangus Befehl und bewacht das Universum und die Erde. Doch Shaodian weiß
    auch, dass der Große Drache zusammen mit dem Vorfahren verschwunden ist.


    Der in sich ruhende Shaodian ist nun der Auserwählte, der den Großen Drachen im Panguland aufspüren muss, um das Universum vor dem Bösen in Gestalt Chiyous zu retten. Auf seiner Reise begleiten ihn ein uralter Geschichtsgelehrter, der Leibwächter des Drachenkönigs und ein junger unkonventioneller Zauberer. Ihnen begegnen Schneemenschen, Wichte aus dem Land der Pfirsichquellen oder Dreihörner. Cui Aners seitenstarkes Fantasymärchen folgt mehr oder weniger gängigen Mustern des Genres. Ab und zu wird der Geduldsfaden durch überlange Erklärungen und Dispute jedoch strapaziert. Zwar gibt der Autor dem alten Kampf von Gut und Böse kein neues Gesicht, spielt aber gekonnt mit den zahlreichen Fabelwesen der chinesischen Mythologie und ergießt sich nicht in brutalen Szenen. Leider fehlt es dem Autor an Poesie. So häuft er Detail auf Detail und verliert beim Erzählen den Spannungsbogen. Da seine Figuren keine psychologische Tiefe besitzen und sehr stoisch wirken, entwickeln sie sich auch nicht. Wie bei vielen anderen westeuropäischen Fantasyromanen, baut auch Ciu Aner einen Cliffhanger ein, um Shaodians Abenteuer auszuweiten.

    Wer sich bei uns über China informieren möchte, findet für Kinder und Jugendliche eine ganze Reihe guter Sachbücher, die ein kompaktes Basiswissen über Land und Leute vermitteln. Marc Hermann hat sich, um die alte chinesische Kultur in den Mittelpunkt zu rücken, eine verrückte, phantastische Geschichte ausgedacht. In seinem Kinderbuch "Weltreise China: Lilli und die Drachenräuber" für Kinder ab 8 Jahren geht es nicht um Fakten, sondern um das Fremde und Abenteuerliche auf der anderen Seite des Erdballs. Lilli wird von ihrem dicken Onkel nach China eingeladen. Mit ihrer Mutter reist das Mädchen von Dinkelsbühl nach Shanghai. Im Gepäck begleiten Lilli der eigensinnige, sprechende Kater Dr. Fu und ein frecher Drachen, den Lilli im Chinarestaurant unter seltsamen Umständen kennengelernt hat. An ihre Fersen heftet sich ein Gangsterboss, der das fliegende Himmelsgeschöpf gern fangen würde. Immer auf der Hut und ab und zu in Schießereien verwickelt, besichtigen Lilli, der Drache und Dr. Fu die Chinesische Mauer, die Terrakotta - Armee, den größten Buddha der Welt und Peking. Als Symboltier des Kaisers hat der Drache magische Fähigkeiten. Und so können sich alle drei in der Verbotenen Stadt in einem lebendig gewordenen Bild verstecken. Dabei platzen sie geradewegs in eine Kaiserkrönung.

    Wie alle anderen staunte auch der kleine Kaiser mit offenem Mund das vermeintliche Fabelwesen an. Dann wanderten seine Blicke hinunter zu dem fremden Mädchen. Er lächelte, und Lilli lächelte zurück. Auf seinen Befehl hin senkten die Leibwächter ihre Lanzen. "He, du aufgeblasener Gockel!", knurrte die mürrische Stimme von Dr. Fu. "Vor dir steht der Kaiser, der Sohn des Himmels! Egal, ob du nun ein Drachen, ein fliegender Pudel oder sonstwas bist – vor dem Kaiser musst du dich verbeugen..." " Du hast mir gar nichts zu sagen, du fetter Zwerglöwe!", fuhr ihn der Drache an. Aber nachdem er einen Moment gezögert hatte, flog er doch zu Boden. Er setzte sich direkt vor Lillis Füße und verbeugte sich vor dem Kaiser.

    In Marc Hermanns Reisegeschichte ist alles in Bewegung und so werden die Sehenswürdigkeiten, wie der kleine Drachen, Landschaftsbilder, der Buddha oder die Chinesische Mauer plötzlich lebendig. Mit Tempo, Leichtigkeit und Witz erzählt er modern von Lillis fernöstlichen Erlebnissen in einer uralten Kultur.

    Der Sinologe, Übersetzer und Dozent Hans Peter Hoffmann musste feststellen, dass Einführungen in die chinesische Philosophie zum einen sehr trocken sind und zum anderen auf einem sehr hohen Abstraktionsniveau beginnen. Aus dieser Erfahrung heraus, entstand die Idee eine Romanform zu finden, in der man sich eher spielerisch mit dem chinesischen Denken befasst. In seinem fantastischen Jugendroman "Der Flug auf dem Drachen" verschachtelt Hans Peter Hoffmann unterschiedliche Zeitebenen: die Gegenwart und die historisch verbürgte Zeit der kämpfenden Reiche um 300 vor unserer Zeitrechnung. Gewaltsam nimmt der Herrscher Qin, der Wolf genannt, eine Stadt nach der anderen ein. Er wird das Reich der Mitte einigen und sich zum ersten Kaiser erheben. Prinz Dan von Yan plant ein Attentat auf den brutalen Machthaber, um sich an ihm zu rächen. Und genau in diese heikle Zeit fällt die 16-jährige Anja scheinbar vom Himmel vor die Füße des Gelben Ritters. Er erkennt sehr schnell, dass sein neuer Knappe eine Geistreisende ist.

    "Ja, das ist ein ganz speziell chinesischer Ausdruck – Zuo Wang – wörtlich übersetzt sitzen und vergessen ist der chinesische Ausdruck für Meditation. Wenn nun der chinesische Weise lange genug gesessen hat, um zu vergessen, vergessen heißt die Welt vergessen, den Himmel vergessen und zu guter Letzt und das ist das schwierigste sich selbst vergessen, soll er nach traditionellem daoistischem Denken in der Lage sein, sich über die Materie zu erheben und zu reisen, wohin er will – also eine Geistreise zu machen oder einen Flug auf dem Drachen."

    .... erläutert Hans Peter Hoffmann. Anja folgt ihrem Vater, der eine Arbeitsstelle in Südchina angenommen hat. Auf dem Weg ins fremde Land muss das ungeduldige Mädchen mit ihrem Piloten aus einem defekten Sportflugzeug abspringen. Beide landen im südchinesischen Dschungel und erleben Unglaubliches. Wie in einem 3DKino verfolgt Anja auf einer Felswand im Schnelldurchlauf die chinesische Schöpfungs- und Landesgeschichte, bevor sie den Gelben Ritter und die neuen Gefährten in der Stadt Lu kennenlernt. Im großen Chaos halten sich die Menschen an verschiedene philosophische Lebensanschauungen. Hans Peter Hoffmann konfrontiert Anja mit den unterschiedlichen Grundsätzen, indem er diese durch starke Charaktere verkörpert.
    Der Gelbe Ritter steht für die Ansichten der Daoisten, der Hofgeschichtsschreiber Herr Frühling- und Herbst vertritt die Lehren des Konfuzianismus, die Schwarzen Reiter und Qin sind die Vertreter des Legismus und die bizarre Figur des Meinherr Geldchen verkörpert die anarchische Seite, er erinnert an den wenig bekannten Weisen Yang Zhu.

    "Aber es geht ja bei dem Ganzen nicht nur um philosophische Ansichten, es geht ja um das Lebensgefühl, einer anderen Kultur in einer anderen Zeit, um eine andere Sicht und einen anderen Umgang auf die immer gleichen menschlichen Probleme, mit denen wir uns ja auch beschäftigen, wie da gezeigt wird, wie die alten Chinesen damit umgingen."

    Eigentlich fand sie diese Konfuzianer, die immer so langweilig klangen, und den Konfuzius und den Herrn Frühling- und Herbst nicht unklasse. Was für ein Versprechen! Zu Hause zu sein in der Welt! Aber was taten sie, wenn das System nicht mehr klappte, weil keiner sich mehr daran hielt? Wen nicht jeder seinem Namen und seiner Aufgabe gerecht wurde und lieber rumhing oder in den Urlaub fuhr? Oder Geld verdiente? Sie kannte Familien, in denen die Eltern nie Zeit für ihre Kinder hatten, weil sie dem Geld oder dem Erfolg oder ihrer Selbstverwirklichung oder sonst einem Popanz hinterherrannten.

    Anja prüft das Fremde, die unterschiedlichen philosophischen Lebensansichten und zieht immer Vergleiche zu ihrem eigenen gegenwärtigen Leben.

    "Aus meiner Unterrichtserfahrung, aber auch meinem eigenen Umgang mit dem Fremden habe ich gelernt, dass man wirklich einen eigenen Standpunkt nur gewinnt, indem man das, was einem fremd vorkommt in das Eigene hinüberspiegelt und sich fragt, wie wäre denn die selbe Situation bei uns. Beispiel: Anja läuft in dem Städtchen Lu, in dem sie ist, durch die Straßen und sieht, dass wohlhabende Menschen ihre Türen rot anmalen. Das kommt ihr zunächst seltsam vor und fremd und dann überlegt sie, wie ist das bei uns und ihr fällt ein, wir haben rote Teppiche legen die aus für jemanden der wichtig ist, der sich wichtig vorkommt oder genug Geld hat um in einem teuren Hotel abzusteigen."

    Beim Lesen dieses Romans entsteht das Gefühl, man sei mitten im historischen Geschehen und wird geradezu verführt von der Fremdheit der Orte und Gedanken. Nie kommt das Gefühl auf, dass die Gespräche bewusst inszeniert sind. Sie fließen einfach, sind mal tiefgründig, dann wieder komisch und eins ergibt sich aus dem anderen. Auch wenn der Roman zum Wissen hinführt, ist es kein Ideenroman, sondern eine lebendig erzählte Abenteuergeschichte, die Lust auf eigene Geistreisen weckt.

    Literatur für Kinder und Jugendliche ist in China ein noch neuer, sich langsam entwickelnder Bereich. Greifen die chinesischen Künstler auf alte Legenden zurück, um sie in einen neuen Zusammenhang zu stellen, so wird man sicher noch eine Weile warten müssen, bis die Bücher erscheinen, in denen sich die junge Generation des heutigen Chinas wiederfinden kann.

    Kate Dargaw, Igor Oleynikov: Das kaiserliche Wettrennen
    Aus dem Chinesischen von Marc Hermann, Dix Verlag, 2009, 32 Seiten, 13,90 Euro

    Nydia Yang: Der knallblassrote Luftballon
    Aus dem Chinesischen von Marc Hermann, Dix Verlag, 2009, 36 Seiten, 13,90 Euro

    Yaxin Yang: Der Neunfarbige Hirsch
    Aus dem Chinesischen von Elisabeth Hohmeister, minedition, 2009, 12,95 Euro

    Chen Jianghong: An Großvaters Hand, Meine Kindheit in China
    Aus dem Französischen von Tobias Scheffel, Moritz Verlag, 2009, 80 Seiten, 24,90 Euro

    Huang Beijia: Seidenrauben für Jin Ling
    Aus dem Chinesischen von Barbara Wang und Hwang Yi-Chun, Nord-Süd Verlag, Zürich 2008, 200 Seiten, 14,80 Euro

    Cui Aner: Drachentotem,
    Aus dem Chinesischen von Anna Stecher und Zhang Weiyi, Ueberreuter Verlag, 2009, 500 Seiten, 16,95 Euro
    Marc Hermann: Weltreise China: Lilli und die Drachenräuber
    Dix Verlag, 2009, 224 Seiten, Euro11,90

    Hans Peter Hoffmann: Der Flug auf dem Drachen Ein philosophischer
    Abenteuerroman aus dem alten China

    Carl Hanser Verlag, 2009, 400 Seiten, 19,90 Euro