James steckt mitten in einem 48-stündigen Bereitschaftsdienst. Er ist Kinderarzt in einem großen Londoner Krankenhaus – und heißt eigentlich anders. James arbeitet seit elf Jahren für den britischen NHS, den National Health Service. Der Mittvierziger hat erlebt, was passiert, wenn ein Gesundheitssystem immer mehr leisten muss, aber kein zusätzliches Geld erhält.
"Jahr für Jahr musste die Versorgung deswegen unerbittlich zurückgefahren werden. In der Vergangenheit wurde das meist durch die Mitarbeiter kompensiert. Die Leute haben sich immer weiter aufgeopfert und es am Laufen gehalten. Aber ich habe die Sorge, dass da nun das Maximum erreicht ist."
40.000 unbesetzte Stellen in der Krankenpflege
Es fehlt an Betten, Ärzten und Krankenschwestern und -pflegern. Allein in der Krankenpflege sind derzeit 40.000 Stellen unbesetzt. Das führt dazu, dass der NHS jeden Winter regelrecht zusammenbricht. Experten sprechen von einer chronischen Krise. Und unter der leiden nicht nur die Patienten, sondern auch die Angestellten, so James.
"Ich liebe meine Arbeit. Aber es ist manchmal hart und hat in meinem Familienleben auf jeden Fall Spuren hinterlassen. Es gab Zeiten, in denen bin ich monatelang nicht mit auf Familienurlaube gefahren. Ich war eigentlich gar nicht anwesend. Meine Frau ist da unheimlich tolerant."
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe "Englischer Patient - Der Gesundheitsdienst NHS und der Brexit".
Es gibt attraktivere Arbeitgeber
Oberärzte wie James verdienen umgerechnet zwischen 95.000 und 120.000 Euro pro Jahr. Dafür arbeitet er manchmal bis zu 80 Stunden die Woche. Junge Ärzte starten mit einem Gehalt von rund 36.000 Euro. Schwestern verdienen zu Beginn durchschnittlich circa 28.000 Euro. Es gibt attraktivere Arbeitgeber als den NHS. Und so entsteht ein Teufelskreis. Weil die Arbeitsbedingungen schlecht sind, fehlt es an Personal. Und weil es an Personal fehlt, leiden die Arbeitsbedingungen.
"Ich habe Leute gesehen, die es weit gebracht haben und dann gegangen sind, weil sie es nicht mehr ausgehalten haben. Den einen ging es um die Familie. Aber manche haben einfach zu viel von sich gegeben, und es war nichts mehr übrig. Das ist sehr traurig."
Adam Kay ist einer von denen, die gegangen sind. Kay lebt in einem ruhigen Randbezirk Londons. Er ist heute Komiker, Buchautor und Drehbuchschreiber. Aber jahrelang arbeitete er als Geburtshelfer in Krankenhäusern des NHS.
"Eigentlich ist der Kreißsaal in der Medizin einer der dankbarsten Orte. Man hat am Ende zweimal so viele Patienten wie am Anfang. Das ist eine sehr gute Statistik, wenn man sich andere Bereiche der Medizin anschaut. Aber dann gab es einen Tag, an dem wir weder eine gesunde Mutter noch ein gesundes Baby hatten."
"Niemand spricht drüber, wie du mit den schlechten Tagen fertig wirst"
Bei einem Kaiserschnitt kam es zu Komplikationen. Kay tat alles, was ihm möglich war, blieb dann aber traumatisiert zurück. Niemand gab ihm die Schuld. Aber er bekam auch nicht die Zeit, zu Hause zu bleiben und alles zu verarbeiten.
"Wenn du ausgebildet wirst, spricht niemand darüber, wie du mit den schlechten Tagen fertig wirst. Dabei liegt es doch in der Natur des Jobs, dass die schlechten Tage die guten Tage zahlenmäßig übertreffen. Aber es gibt kaum Unterstützung für Ärzte. Es gibt da diese Kultur, dass man nicht darüber spricht."
Kay fühlte sich alleingelassen und kehrte der Medizin den Rücken. Das ist zehn Jahre her. Seitdem hat er seine Erfahrungen in Büchern verarbeitet. "Jetzt tut es gleich ein bisschen weh", wurde ein Bestseller. Es ist ein witziges Buch, voller Anekdoten über den Alltag in britischen Krankenhäusern.
EU-Austritt verschlimmert die Lage
Immer wieder bekommt der Autor bis heute Briefe von Ärzten und Pflegern, die für den NHS arbeiten. Denn seit Kay gegangen ist, hat sich einiges verändert:
"Es ist schlimmer geworden. Wer mein Buch gelesen hat, kann mir nicht vorwerfen, ich hätte da ein besonders rosiges Bild des Jobs gemalt. Aber nun stellt sich heraus: Das waren die guten, alten Zeiten."
Auch der EU-Austritt verschlimmert die Lage. Jahrzehnte lang profitierte der NHS von Einwanderern aus dem Ausland. Doch seit dem Brexit-Referendum 2016 haben Tausende Schwestern und Pfleger aus dem europäischen Ausland den NHS verlassen. Der NHS will nun verstärkt weltweit und im Inland rekrutieren.
Es gibt noch immer junge Menschen, die für den NHS arbeiten wollen. Selbst wenn sie die Zustände kennen, so wie Anna.
"Ich habe auf Stationen gearbeitet, die unterbesetzt waren. Ich wurde auch mal von gestressten Oberärzten angebrüllt."
Ein System, zusammengehalten von vielen ungesunden Überstunden
Die junge Frau, die ihren echten Namen lieber nicht im Radio hören will, hat bereits zehn Jahre als Physiotherapeutin für den NHS gearbeitet. Nun hat sie eine Ausbildung zur Ärztin begonnen.
"Es fühlt sich gut an, für den NHS zu arbeiten. Würde ich den NHS nicht unterstützen, hätte ich das Gefühl, wir würden einer zunehmenden Privatisierung das Feld überlassen. Ich glaube, dabei zu bleiben und für den NHS zu kämpfen, ist wichtig."
Aber auch Anna weiß, dass der NHS durch viele ungesunde Überstunden zusammengehalten wird. Was würde passieren, fragt sie, wenn alle mal pünktlich Feierabend machen würden? Es klingt fast wie ein Drohung Richtung Boris Johnson. Der Premierminister hatte im Wahlkampf versprochen 50.000 zusätzliche Stellen für Pfleger und Schwestern zu schaffen.
Die Zukunft des NHS hängt nun davon ab, ob Johnson sein Versprechen auch hält.