Wenngleich Schriftstellerei per se schon viel mit Etikettenschwindel zu tun hat, gibt es doch immer wieder Autoren, die das eigene Identitätsmanagement besonders kompliziert, geheimnisvoll und aufwendig gestalten. Sich hinter Pseudonymen zu verstecken, mag oft politische und wirtschaftliche Gründe haben, oft handelt es sich auch um bloße Lust am Spiel oder um den tiefen Wunsch nach Transgression und Transformation des Ichs.
Bei Lev Nussimbaum trifft alles gleichermaßen zu. Dabei wäre sein viel zu kurzes Leben (er starb mit 36 Jahren an einer Gefäßkrankheit) auch ohne jegliche Verstellung vielfältig genug gewesen, um daraus Stoff für etliche Bücher zu schöpfen. Doch Lev Nussimbaum wollte einfach nicht der 1905 in Baku geborene Jude sein, der er war, sondern ein orientalischer Prinz namens Essad Bey. Unter diesem Pseudonym machte er literarische Weltkarriere, später kam noch Kurban Said als Alias hinzu.
Die Werke von Essad Bey und Kurban Said waren nicht nur in den dreißiger Jahren überaus bekannt, sie werden zum Teil noch heute aufgelegt. Aber bis heute herrscht sogar unter Literaturhistorikern und Herausgebern eine verblüffende Unkenntnis in jener Frage, die schon Leo Trotski nervös machte:
"Wer ist dieser Essad Bey?",
erkundigte er sich in einem Brief.
Der amerikanische Journalist Tom Reiss hat diese Frage jetzt nach jahrelangen Recherchen, die ihn nach Aserbeidschan und Österreich, Armenien und Italien, Georgien und Kalifornien führten, erschöpfend beantwortet. Er hat mit hochbetagten Zeitzeugen gesprochen und Brücken mit Einschusslöchern ausfindig gemacht. Er hat das Leben des heutzutage völlig unbekannten Lev Nussimbaum erforscht und eine Biographie verfasst, die nicht nur von einer faszinierenden Figur der deutschen Literaturszene in den zwanziger und dreißiger Jahren handelt, sondern auch von tausend anderen "illustres inconnus", nicht nur von grotesken und unglaublichen Begebenheiten, sondern auch von einem gegenwärtig kaum mehr vorstellbaren geheimnisvollen und verträumten Islam, nicht nur vom Wahnsinn der Weltgeschichte, sondern auch von ihren vergessenen Orten.
Einer davon ist Baku, die reiche Erdölstadt am Kaspischen Meer, die Hauptstadt Aserbeidschans, vor hundert Jahren ein Zentrum des Wohlstands und revolutionärer Unruhe. Hier kam Lev Nussimbaum als Sohn eines jüdischen Ölmagnaten und einer heimlich für die Kommunisten arbeitenden Mutter zur Welt. Als diese Unterstützung aufflog, brachte sich die Mutter um - ein Drama, das bei Lev natürlich tiefe Spuren hinterließ.
Tom Reiss ist erstmals 1998 nach Baku gereist. Er hatte bis dahin noch nie von Kurban Said oder Essad Bey, geschweige denn von Lev Nussimbaum, gehört. Doch er stellte fest, dass sein wohl berühmtester Roman "Ali und Nino", eine Art Romeo-und-Julia-Geschichte, die am Vorabend des Holocaust auf deutsch geschrieben worden war, dort in Aserbeidschan bis auf den heutigen Tag als eine Art Nationalepos gilt. Allerdings konnte ihm in Baku niemand sagen, wer der Autor war.
Dieser Autor hatte schon als Kind soviel Gegensätzliches, Gefährliches und Grässliches erlebt, dass er 1929 mit 24 Jahren seine Memoiren vorlegte. "Öl und Blut im Orient" heißt dieses Buch, das auf Anhieb zum Bestseller wurde und gerade jetzt wieder besondere Aktualität besitzt, denn es handelt von den beiden prekärsten Themen unserer Gegenwart: dem Kampf um die Energievorräte und den religiösen Auseinandersetzungen im Nahen Osten.
Alle Religionen der Menschheit haben in dieser Region eine Zuflucht gefunden. Während man in Rom noch Christen verfolgte, zählten Armenien und Georgien, zwei Königreiche an den Grenzen zu Aserbaidschan, zu den ersten Ländern, die sich offiziell zum Christentum bekehrten. Als dann im 8. Jahrhundert die Araber mit ihren Armeen ausschwärmten, nahmen einige der auf ihre Unabhängigkeit bedachten Christen, Zoroastrier und Heiden Aserbaidschans den Glauben Mohammeds an, viele aber auch nicht. Der Islam war einfach ein Glaube mehr im Babel der Religionen dieser Region. Als dreihundert Jahre später die Kreuzritter aus dem Heiligen Land vertrieben wurden, fanden sie in den Bergen Aserbaidschans eine neue Heimat und gründeten Königreiche, die zur großen Verwunderung der Anthropologen noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts Bestand hatten.
In dieser orientalischen Multikulti-Welt wuchs der jüdische Millionärssohn Lev Nussimbaum auf: extrem behütet, weil er als Kind zuhause nicht einmal allein die Treppe hochsteigen durfte, sondern von einem Eunuchen getragen wurde, und extrem gefährdet, weil Verbrechen und Massaker in den Straßen an der Tagesordnung waren und er bei jedem Spaziergang außerhalb des Hauses von bewaffneten Dienern begleitet werden musste. Diese Welt der unbegrenzten Gewalt und der ebenso unbegrenzten Möglichkeiten war gewissermaßen das Gegenstück zum Wilden Westen in Amerika, doch alsbald braute sich in diesem Wilden Osten etwas zusammen, das weitaus gefährlicher war als das übliche Banditentum.
Lev war zwölf, als die Bolschewiken nach Baku griffen. Sein Vater Abraham Nussimbaum stand als Großkapitalist auf deren Todesliste. Die beiden konnten gerade noch rechtzeitig nach Turkestan und Persien fliehen - nicht mit der Eisenbahn, denn die wurde von der sowjetischen Geheimpolizei kontrolliert, sondern auf die denkbar abenteuerlichste Weise: mit einer Kamelkarawane durch die Wüste.
Während ihrer Reise durch die Provinzen Mazandaran und Gilan wurde die Karawane einmal von einem in fröhliches Bunt gekleideten Reiter angehalten. Er stellte sich als der Bote von Djafar-Khan vor, dem Herrscher dieser Region. Der Khan sende ihnen seine besten Grüße, sagte der Bote, und setze sie davon in Kenntnis, dass sie alle getötet würden. Sie möchten bitte so freundlich sein und auf die Ankunft des Khans warten, damit er sein Urteil persönlich vollstrecken könne.
Lev hatte das ungute Gefühl, dass sie nun, nachdem sie die Bürgerkriege in Aserbeidschan und Buchara überlebt hatten und gerade noch Zeugen der Passion des Märtyrers Hussein in Kerbala geworden waren, durch die Hand eines pittoresken Spinners aus Tausendundeiner Nacht sterben würden. Doch Abraham Nussimbaum wußte es besser. Lev lauschte dem geradezu unerträglich freundlichen und banalen Wortgeplänkel, das nun folgte. Der Bote war dermaßen höflich und beflissen, dass es unmöglich war zu verstehen, worauf er eigentlich hinaus wollte. Abraham plauderte immer weiter, bis schließlich alles klar wurde, als der Bote nämlich fragte: "Was nutzt euch euer Geld, wenn ihr sowieso tot seid?"
Erleichtert atmeten die Flüchtlinge auf: Der Mann versuchte lediglich, ein Bestechungsgeld von ihnen zu erpressen, eine Praxis, die jedem, der im Kaukasus aufgewachsen war, doch nur allzu vertraut war.
Schon die Namen der Völkerschaften, die dem Leser dieses Fluchtberichts begegnen, nehmen sich bizarr aus, ganz zu schweigen von deren jeweiligen Sitten und sonstigen Besonderheiten. Da gibt es Ismaeliten, Babiten und Baha'is, es gibt Aisoren, Jassaien und Chewsuren, bei deren Beschreibung sich Lev Nussimbaum so manche phantastische Ausschmückung erlaubte, und es gibt die Kipta oder Bani-Israil, die Bergjuden von Aserbeidschan, die Nachfahren des Stammes der Chasaren sein sollen und sich angeblich im 8. Jahrhundert aus irgendeinem Irrtum zum Judentum bekehrt haben - Kipta heißt tatsächlich: 'diejenigen, die sich irren'.
Diese sonderbare Durchlässigkeit der Religionen, die in den alten Kaukasus-Königreichen herrschte, dieses apostatische Durcheinander und diese ökumenische Osmose bildeten den Hintergrund für Levs eigenen Eklektizismus, den er in Glaubensdingen an den Tag legte.
Es sollte noch ein paar Jahre dauern, bis Lev formell zum Islam konvertierte, doch schon auf dieser oder der nächsten Fluchtreise erwies er sich als kultureller Verwandlungskünstler und schlüpfte dank seiner Vielsprachigkeit und Multipersönlichkeit durch die Maschen von verschiedenen Fahndungsnetzen. Das Bild ist mit Bedacht gewählt: zwischendurch gab er sich sogar als Spezialist für Fischernetze aus, der im Auftrag einer sowjetischen Behörde unterwegs sei.
1918 kehrten Nussimbaum junior und senior nach Baku zurück, nachdem erst die Engländer die Russen und dann die Türken zusammen mit den Deutschen die Engländer vertrieben hatten. Für ein knappes Jahr war alles wie früher, ja, es war sogar besser als früher:
Aserbeidschan wurde zur ersten funktionierenden Demokratie in der islamischen Welt, und zum ersten Mal in der Geschichte der muslimischen Gesellschaft war es den Frauen erlaubt zu wählen.
Dann aber kamen die Bolschewiken wieder, und sie kamen über Nacht - mitsamt ihrer gefürchtetsten Waffe: der allrussischen Sonderkommission zur Bekämpfung der Konterrevolution und Spionage, kurz "Tscheka" genannt, einer Einrichtung, die später den Nazis beim Aufbau der Gestapo als Vorbild diente. Und schon nach einem Monat begann das große Morden.
Die Mongolen hatten, das wußte Lev, genauso schonungslos getötet, als sie diese Region eroberten. Sie waren vielleicht die einzige Macht aus der Zeit vor dem zwanzigsten Jahrhundert, die mit den Bolschewiken vergleichbar war, doch die Mongolen waren auch ein Musterbeispiel für das alte Paradigma, das mindestens zwei Jahrtausende lang bis zum Jahr 1917 gegolten hatte: Sie verlangten zwar von den besiegten Völkern absolute Unterwerfung, nahmen jedoch selber Bestandteile von deren Kultur an. Die Bolschewiken hingegen glaubten nicht an die Vergangenheit. Für sie war diese lediglich ein Stadium, das durchlaufen worden war und nun wie Abfall über Bord geworfen werden musste.
Was der inzwischen knapp 15-jährige Lev an ideologisch motivierten Blutrünstigkeiten erlebte, machte ihn für den Rest seines Lebens zum geschworenen Feind der Kommunisten - eine Haltung, die ihn später, ungeachtet seiner jüdischen Herkunft, sogar mit Nazis und Faschisten paktieren ließ. Doch zunächst musste er wieder mit seinem Vater vor den Bolschewiken fliehen, diesmal nach Westen, über Land nach Georgien und dann per Schiff nach Konstantinopel, dem heutigen Istanbul.
1920 findet man Vater und Sohn in Berlin-Charlottenburg, genau in der Fasanenstraße. Die Stadt ist ein Zentrum, nein: das Zentrum der russischen Emigration. Unter vier Millionen Einwohnern leben eine halbe Million Russen: reaktionäre, liberale, linke, jüdische, antisemitische - ein ziemlicher Hexenkessel. Es gibt eine eigene Emigrantenzeitung namens "Rul" (das Steuerruder), für die schreibt ein angesehener Politiker des vorrevolutionären Rußland, der die demokratische Kadettenpartei mitgegründet hatte. Sein Name: Vladimir Nabokov, der Vater des "Lolita"-Autors. Am 28. März 1922 wird Nabokov senior auf einer Veranstaltung in der Berliner Philharmonie erschossen.
Nabokovs Mörder waren nur kleine Fische, einer von ihnen war anscheinend wie von Sinnen vor Wut, weil die Bolschewiken seine Braut erschossen hatten, aber sie standen unter dem Einfluss der dunkelsten und todbringenden Seite der russischen Emigration in Deutschland. Sie gehörten zu den Anhängern Fjodor Vinbergs, eines Baltendeutschen, der von Judenhass besessen war und nur ein Ziel kannte: Er wollte beweisen, dass der Sturz des Zaren allein das Werk der Juden gewesen war. Vinberg war Verleger und gab ausschließlich antisemitische Schriften heraus. So druckte er etwa Listen mit den Namen jüdischer Sowjetführer, ähnlich jenen antisemitischen Lexika, wie sie in Deutschland und Österreich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts so beliebt waren. Anfang der dreißiger Jahre fand man in der Kategorie "jüdische Geschichtsschwindler" oder Fabulierer darin auch Levs Namen.
Lev ging mit Elena Nabokov, der Schwester des Dichters, auf das russische Gymnasium in Berlin. Auch Pasternaks Schwestern waren dort. Doch Lev war nicht einfach ein Russe unter anderen, er trug den Orient im Herzen und schrieb sich, obwohl er noch gar kein Abitur hatte, als "Essad Bey Noussimbaoum" aus Georgien am Seminar für orientalische Sprachen der Friedrich-Wilhelms-Universität ein. Zwei Jahre lang führte er ein Doppelleben als Gymnasiast und Student und lief sich damit sozusagen warm für sein Doppelleben, das danach begann: als jüdischer Muslim, als Berliner Orientale, als jugendlicher Memoirenschreiber und als mittelloser Millionärssohn.
Tom Reiss weist zu Recht darauf hin, dass auch andere einen Orient-Tick hatten, die deutsch-jüdische Dichterin Else Lasker-Schüler beispielsweise, die sich "Prinz von Theben", "Jussuf" oder "Tino von Bagdad" nannte und sich entsprechend kostümierte. Lev ging in schwarzer Lammfellmütze und einem Krummdolch am Gürtel umher oder auch mit dem Symbol osmanischer Eleganz, dem Fez. Natürlich wußte Levs Freundeskreis über ihn Bescheid, doch wenn sie über seine Stilisierungsmaßnahmen spotteten, konnte er sehr böse werden. Wie um diese Spötter endlich loszuwerden, trat er im Sommer 1922 offiziell zum Islam über.
Schaut man mit dem Blick des Biographen auf dieses Datum, dann muss man allerdings feststellen, dass noch gar nichts von dem, was seinen Ruhm begründete, geschehen war. Der literarische Aufstieg kam aber sehr schnell. 1926 wurde er Mitarbeiter der "Literarischen Welt", des tonangebenden Intellektuellenblatts, in dem auch Egon Erwin Kisch, Walter Mehring und Walter Benjamin schrieben. Und Essad Bey, wie sich Lev jetzt konsequent nannte, wurde nicht irgendein Mitarbeiter, sondern einer der produktivsten. Er war der Mann für den Osten. Weil er mit den Artikeln nicht ausgelastet war, schrieb er nebenbei noch ein Buch, und daneben noch eins. Für die nächsten zehn, zwölf Jahre wurde er ein solcher Vielschreiber, dass ihm sein Agent raten musste, was Autoren sicherlich selten zu hören bekommen, nämlich nicht zu viele Bücher zu verfassen, sondern auch mal Pause zu machen, damit die einzelnen Titel einender nicht im Buchhandel ständig Konkurrenz machen.
Es begann mit seiner Autobiographie "Öl und Blut im Orient", die 1929 erschien.
Unmittelbar nach dem Erscheinen von "Öl und Blut" machten es sich einige politisch motivierte deutsche Kritiker zur Aufgabe, nicht nur die Leser vor dem Buch zu warnen, sondern auch den Autor gewissermaßen zu "enttarnen". Sie sahen in Lev so etwas wie einen ethnischen Scharlatan, wenn nicht noch Hinterhältigeres. Else Lasker-Schüler mochte sich ruhig als Tino von Bagdad verkleiden, sie blieb dennoch ganz unverkennbar eine deutsch-jüdische Dichterin. Viele jüdische Journalisten und Wissenschaftler schrieben damals Bücher über den Nahen Osten, und das oft sehr kompetent und mit großer Sympathie für die muslimische Welt, doch zogen sie nicht mit einem Turban auf dem Kopf durch ganz Berlin und erzählten, sie seien Söhne von Stammesfürsten, und sie gaben sich auch nicht irgendwelche türkischen Fantasienamen.
Sein chamäleonesker Verwandlungsdrang hatte ihm in früher Jugend, auf der Flucht mit seinem Vater, sicherlich ein paar Male das Leben gerettet; später wurde er zum Lebensproblem. Da war zunächst die eklatant gescheiterte Ehe mit Erika Loewendahl, der Tochter eines ultrareichen Schuhhändlers, die bei der "Literarischen Welt" ein Volontariat absolvierte und es sich in den Kopf gesetzt hatte, den gerade interessantesten und berühmtesten Autor, dessen sie habhaft werden konnte, zu heiraten. Das war Essad Bey. Wenig später fuhr sie mit ihm nach New York, und er war so berühmt, dass die "New York Times" immerhin seine Ankunft meldete. Dennoch ging die Ehe schief, und Erika schnödete gegenüber der amerikanischen Presse, sie habe sich in Essad Bey verliebt, aber der sei bloß Lev Nussimbaum gewesen.
Seine Unbeholfenheit, Schüchternheit, wer weiß, vielleicht auch Impotenz, standen im krassen Gegensatz zu dem Bild des mit einem Dolch bewaffneten Scheichs, dem mächtigsten Sexsymbol der damaligen Zeit.
In der Tat, es gab sogar eine Kondommarke namens "Scheich". Doch dieses "wer weiß" an dieser Stelle geht zu weit: mit solchen Insinuationen darf ein Biograph nicht unfundiert herumhantieren. Das ist aber auch der einzige Ausrutscher in diesem sonst so gründlich recherchierten Buch. Und wer weiß, vielleicht verfügt Tom Reiss ja über Dokumente, die ihn zu Aussagen über die Liebesfähigkeiten seines Helden berechtigen, denn in Wien bekam er von einer alten Dame, die Levs letzte Verlegerin war, ein paar vollgeschriebene Hefte in die Hand gedrückt, die sich als auf dem Sterbebett verfasste Memoiren entpuppten. Sie tragen den bestürzenden Titel: "Der Mann, der nichts von der Liebe verstand". Die Veröffentlichung steht noch aus.
In gewisser Weise war er aber auch ein Mann, der nichts von Politik verstand. Allerdings zeigt Reiss sehr gut, dass die Weltgeschichte reiner Wahnsinn war: ein Gemisch aus Nationalstolz, niedrigen Impulsen, Blutdurst, Armut, Waffen und Testosteron. Bei den Nazis war Essad Bey wegen seines Antibolschewismus eine Weile recht beliebt; ja, er selbst bändelte sogar mit faschistischen Gruppierungen an. Aber ...
Bei all der Aufregung über das neue Tausendjährige Reich fanden die Menschen immer noch Zeit, sich an alte Zwistigkeiten zu erinnern. Kurt Ziemke, jener Beamte im deutschen Außenministerium, der einige Jahre zuvor die Beschwerden antisemitischer Gruppen, muslimischer Nationalisten sowie die von Heeresoffizieren entgegengenommen hatte, hatte diesen Essad Bey nicht vergessen. Damals, als die ersten Klagen laut wurden, hatte er eine Akte angelegt und diesen verdächtigen Menschen drei Jahre lang aus eigenem Antrieb heraus verfolgt.
Jetzt, da eine Regierung an der Macht war, die sich für versteckte Juden interessierte, trug Ziemke sein Anliegen dem neuen Propagandaminister Dr. Goebbels vor und bat ihn, etwas gegen die - Zitat - "Schwindelprodukte dieses überaus geschäftstüchtigen Juden" zu unternehmen.
Es dauerte ein bisschen, doch dann war Essay Bey wieder ein Gejagter. Seine letzte Zuflucht fand er in Positano bei Neapel. Er schleppte sich mit einer tödlichen Krankheit herum, er kam nicht mehr an seine Tantiemen heran und hatte doch bis ganz zu letzt immer wieder seltsame Helfer. Einer davon hieß Ezra Pound. Der verschaffte ihm neue Arbeitsmöglichkeiten beim italienischen Rundfunk: faschistische Propagandasendungen für den Nahen Osten war die Aufgabe. Sie wäre es gewesen. Als die schwarze Staatskarosse im Sommer 1942 in Positano vorfuhr, um Essad Bey alias Kurban Said ins Radiostudio zu bringen, konnte der örtliche Polizeichef nur noch auf den Friedhof deuten. "Zu spät", sagte er zum Fahrer der Limousine. Er hatte von dem jüdischem Geheimnis des Autors gewusst und geglaubt, dass Mussolinis Geheimpolizei ihn deswegen holen wollte.
Leva Vater Abraham hatte Italien nicht erreicht. Er wurde in Wien verhaftet und in Treblinka ermordet.
Tom Reiss
"Der Orientalist. Auf den Spuren von Essad Bey"
Osburg Verlag
Bei Lev Nussimbaum trifft alles gleichermaßen zu. Dabei wäre sein viel zu kurzes Leben (er starb mit 36 Jahren an einer Gefäßkrankheit) auch ohne jegliche Verstellung vielfältig genug gewesen, um daraus Stoff für etliche Bücher zu schöpfen. Doch Lev Nussimbaum wollte einfach nicht der 1905 in Baku geborene Jude sein, der er war, sondern ein orientalischer Prinz namens Essad Bey. Unter diesem Pseudonym machte er literarische Weltkarriere, später kam noch Kurban Said als Alias hinzu.
Die Werke von Essad Bey und Kurban Said waren nicht nur in den dreißiger Jahren überaus bekannt, sie werden zum Teil noch heute aufgelegt. Aber bis heute herrscht sogar unter Literaturhistorikern und Herausgebern eine verblüffende Unkenntnis in jener Frage, die schon Leo Trotski nervös machte:
"Wer ist dieser Essad Bey?",
erkundigte er sich in einem Brief.
Der amerikanische Journalist Tom Reiss hat diese Frage jetzt nach jahrelangen Recherchen, die ihn nach Aserbeidschan und Österreich, Armenien und Italien, Georgien und Kalifornien führten, erschöpfend beantwortet. Er hat mit hochbetagten Zeitzeugen gesprochen und Brücken mit Einschusslöchern ausfindig gemacht. Er hat das Leben des heutzutage völlig unbekannten Lev Nussimbaum erforscht und eine Biographie verfasst, die nicht nur von einer faszinierenden Figur der deutschen Literaturszene in den zwanziger und dreißiger Jahren handelt, sondern auch von tausend anderen "illustres inconnus", nicht nur von grotesken und unglaublichen Begebenheiten, sondern auch von einem gegenwärtig kaum mehr vorstellbaren geheimnisvollen und verträumten Islam, nicht nur vom Wahnsinn der Weltgeschichte, sondern auch von ihren vergessenen Orten.
Einer davon ist Baku, die reiche Erdölstadt am Kaspischen Meer, die Hauptstadt Aserbeidschans, vor hundert Jahren ein Zentrum des Wohlstands und revolutionärer Unruhe. Hier kam Lev Nussimbaum als Sohn eines jüdischen Ölmagnaten und einer heimlich für die Kommunisten arbeitenden Mutter zur Welt. Als diese Unterstützung aufflog, brachte sich die Mutter um - ein Drama, das bei Lev natürlich tiefe Spuren hinterließ.
Tom Reiss ist erstmals 1998 nach Baku gereist. Er hatte bis dahin noch nie von Kurban Said oder Essad Bey, geschweige denn von Lev Nussimbaum, gehört. Doch er stellte fest, dass sein wohl berühmtester Roman "Ali und Nino", eine Art Romeo-und-Julia-Geschichte, die am Vorabend des Holocaust auf deutsch geschrieben worden war, dort in Aserbeidschan bis auf den heutigen Tag als eine Art Nationalepos gilt. Allerdings konnte ihm in Baku niemand sagen, wer der Autor war.
Dieser Autor hatte schon als Kind soviel Gegensätzliches, Gefährliches und Grässliches erlebt, dass er 1929 mit 24 Jahren seine Memoiren vorlegte. "Öl und Blut im Orient" heißt dieses Buch, das auf Anhieb zum Bestseller wurde und gerade jetzt wieder besondere Aktualität besitzt, denn es handelt von den beiden prekärsten Themen unserer Gegenwart: dem Kampf um die Energievorräte und den religiösen Auseinandersetzungen im Nahen Osten.
Alle Religionen der Menschheit haben in dieser Region eine Zuflucht gefunden. Während man in Rom noch Christen verfolgte, zählten Armenien und Georgien, zwei Königreiche an den Grenzen zu Aserbaidschan, zu den ersten Ländern, die sich offiziell zum Christentum bekehrten. Als dann im 8. Jahrhundert die Araber mit ihren Armeen ausschwärmten, nahmen einige der auf ihre Unabhängigkeit bedachten Christen, Zoroastrier und Heiden Aserbaidschans den Glauben Mohammeds an, viele aber auch nicht. Der Islam war einfach ein Glaube mehr im Babel der Religionen dieser Region. Als dreihundert Jahre später die Kreuzritter aus dem Heiligen Land vertrieben wurden, fanden sie in den Bergen Aserbaidschans eine neue Heimat und gründeten Königreiche, die zur großen Verwunderung der Anthropologen noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts Bestand hatten.
In dieser orientalischen Multikulti-Welt wuchs der jüdische Millionärssohn Lev Nussimbaum auf: extrem behütet, weil er als Kind zuhause nicht einmal allein die Treppe hochsteigen durfte, sondern von einem Eunuchen getragen wurde, und extrem gefährdet, weil Verbrechen und Massaker in den Straßen an der Tagesordnung waren und er bei jedem Spaziergang außerhalb des Hauses von bewaffneten Dienern begleitet werden musste. Diese Welt der unbegrenzten Gewalt und der ebenso unbegrenzten Möglichkeiten war gewissermaßen das Gegenstück zum Wilden Westen in Amerika, doch alsbald braute sich in diesem Wilden Osten etwas zusammen, das weitaus gefährlicher war als das übliche Banditentum.
Lev war zwölf, als die Bolschewiken nach Baku griffen. Sein Vater Abraham Nussimbaum stand als Großkapitalist auf deren Todesliste. Die beiden konnten gerade noch rechtzeitig nach Turkestan und Persien fliehen - nicht mit der Eisenbahn, denn die wurde von der sowjetischen Geheimpolizei kontrolliert, sondern auf die denkbar abenteuerlichste Weise: mit einer Kamelkarawane durch die Wüste.
Während ihrer Reise durch die Provinzen Mazandaran und Gilan wurde die Karawane einmal von einem in fröhliches Bunt gekleideten Reiter angehalten. Er stellte sich als der Bote von Djafar-Khan vor, dem Herrscher dieser Region. Der Khan sende ihnen seine besten Grüße, sagte der Bote, und setze sie davon in Kenntnis, dass sie alle getötet würden. Sie möchten bitte so freundlich sein und auf die Ankunft des Khans warten, damit er sein Urteil persönlich vollstrecken könne.
Lev hatte das ungute Gefühl, dass sie nun, nachdem sie die Bürgerkriege in Aserbeidschan und Buchara überlebt hatten und gerade noch Zeugen der Passion des Märtyrers Hussein in Kerbala geworden waren, durch die Hand eines pittoresken Spinners aus Tausendundeiner Nacht sterben würden. Doch Abraham Nussimbaum wußte es besser. Lev lauschte dem geradezu unerträglich freundlichen und banalen Wortgeplänkel, das nun folgte. Der Bote war dermaßen höflich und beflissen, dass es unmöglich war zu verstehen, worauf er eigentlich hinaus wollte. Abraham plauderte immer weiter, bis schließlich alles klar wurde, als der Bote nämlich fragte: "Was nutzt euch euer Geld, wenn ihr sowieso tot seid?"
Erleichtert atmeten die Flüchtlinge auf: Der Mann versuchte lediglich, ein Bestechungsgeld von ihnen zu erpressen, eine Praxis, die jedem, der im Kaukasus aufgewachsen war, doch nur allzu vertraut war.
Schon die Namen der Völkerschaften, die dem Leser dieses Fluchtberichts begegnen, nehmen sich bizarr aus, ganz zu schweigen von deren jeweiligen Sitten und sonstigen Besonderheiten. Da gibt es Ismaeliten, Babiten und Baha'is, es gibt Aisoren, Jassaien und Chewsuren, bei deren Beschreibung sich Lev Nussimbaum so manche phantastische Ausschmückung erlaubte, und es gibt die Kipta oder Bani-Israil, die Bergjuden von Aserbeidschan, die Nachfahren des Stammes der Chasaren sein sollen und sich angeblich im 8. Jahrhundert aus irgendeinem Irrtum zum Judentum bekehrt haben - Kipta heißt tatsächlich: 'diejenigen, die sich irren'.
Diese sonderbare Durchlässigkeit der Religionen, die in den alten Kaukasus-Königreichen herrschte, dieses apostatische Durcheinander und diese ökumenische Osmose bildeten den Hintergrund für Levs eigenen Eklektizismus, den er in Glaubensdingen an den Tag legte.
Es sollte noch ein paar Jahre dauern, bis Lev formell zum Islam konvertierte, doch schon auf dieser oder der nächsten Fluchtreise erwies er sich als kultureller Verwandlungskünstler und schlüpfte dank seiner Vielsprachigkeit und Multipersönlichkeit durch die Maschen von verschiedenen Fahndungsnetzen. Das Bild ist mit Bedacht gewählt: zwischendurch gab er sich sogar als Spezialist für Fischernetze aus, der im Auftrag einer sowjetischen Behörde unterwegs sei.
1918 kehrten Nussimbaum junior und senior nach Baku zurück, nachdem erst die Engländer die Russen und dann die Türken zusammen mit den Deutschen die Engländer vertrieben hatten. Für ein knappes Jahr war alles wie früher, ja, es war sogar besser als früher:
Aserbeidschan wurde zur ersten funktionierenden Demokratie in der islamischen Welt, und zum ersten Mal in der Geschichte der muslimischen Gesellschaft war es den Frauen erlaubt zu wählen.
Dann aber kamen die Bolschewiken wieder, und sie kamen über Nacht - mitsamt ihrer gefürchtetsten Waffe: der allrussischen Sonderkommission zur Bekämpfung der Konterrevolution und Spionage, kurz "Tscheka" genannt, einer Einrichtung, die später den Nazis beim Aufbau der Gestapo als Vorbild diente. Und schon nach einem Monat begann das große Morden.
Die Mongolen hatten, das wußte Lev, genauso schonungslos getötet, als sie diese Region eroberten. Sie waren vielleicht die einzige Macht aus der Zeit vor dem zwanzigsten Jahrhundert, die mit den Bolschewiken vergleichbar war, doch die Mongolen waren auch ein Musterbeispiel für das alte Paradigma, das mindestens zwei Jahrtausende lang bis zum Jahr 1917 gegolten hatte: Sie verlangten zwar von den besiegten Völkern absolute Unterwerfung, nahmen jedoch selber Bestandteile von deren Kultur an. Die Bolschewiken hingegen glaubten nicht an die Vergangenheit. Für sie war diese lediglich ein Stadium, das durchlaufen worden war und nun wie Abfall über Bord geworfen werden musste.
Was der inzwischen knapp 15-jährige Lev an ideologisch motivierten Blutrünstigkeiten erlebte, machte ihn für den Rest seines Lebens zum geschworenen Feind der Kommunisten - eine Haltung, die ihn später, ungeachtet seiner jüdischen Herkunft, sogar mit Nazis und Faschisten paktieren ließ. Doch zunächst musste er wieder mit seinem Vater vor den Bolschewiken fliehen, diesmal nach Westen, über Land nach Georgien und dann per Schiff nach Konstantinopel, dem heutigen Istanbul.
1920 findet man Vater und Sohn in Berlin-Charlottenburg, genau in der Fasanenstraße. Die Stadt ist ein Zentrum, nein: das Zentrum der russischen Emigration. Unter vier Millionen Einwohnern leben eine halbe Million Russen: reaktionäre, liberale, linke, jüdische, antisemitische - ein ziemlicher Hexenkessel. Es gibt eine eigene Emigrantenzeitung namens "Rul" (das Steuerruder), für die schreibt ein angesehener Politiker des vorrevolutionären Rußland, der die demokratische Kadettenpartei mitgegründet hatte. Sein Name: Vladimir Nabokov, der Vater des "Lolita"-Autors. Am 28. März 1922 wird Nabokov senior auf einer Veranstaltung in der Berliner Philharmonie erschossen.
Nabokovs Mörder waren nur kleine Fische, einer von ihnen war anscheinend wie von Sinnen vor Wut, weil die Bolschewiken seine Braut erschossen hatten, aber sie standen unter dem Einfluss der dunkelsten und todbringenden Seite der russischen Emigration in Deutschland. Sie gehörten zu den Anhängern Fjodor Vinbergs, eines Baltendeutschen, der von Judenhass besessen war und nur ein Ziel kannte: Er wollte beweisen, dass der Sturz des Zaren allein das Werk der Juden gewesen war. Vinberg war Verleger und gab ausschließlich antisemitische Schriften heraus. So druckte er etwa Listen mit den Namen jüdischer Sowjetführer, ähnlich jenen antisemitischen Lexika, wie sie in Deutschland und Österreich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts so beliebt waren. Anfang der dreißiger Jahre fand man in der Kategorie "jüdische Geschichtsschwindler" oder Fabulierer darin auch Levs Namen.
Lev ging mit Elena Nabokov, der Schwester des Dichters, auf das russische Gymnasium in Berlin. Auch Pasternaks Schwestern waren dort. Doch Lev war nicht einfach ein Russe unter anderen, er trug den Orient im Herzen und schrieb sich, obwohl er noch gar kein Abitur hatte, als "Essad Bey Noussimbaoum" aus Georgien am Seminar für orientalische Sprachen der Friedrich-Wilhelms-Universität ein. Zwei Jahre lang führte er ein Doppelleben als Gymnasiast und Student und lief sich damit sozusagen warm für sein Doppelleben, das danach begann: als jüdischer Muslim, als Berliner Orientale, als jugendlicher Memoirenschreiber und als mittelloser Millionärssohn.
Tom Reiss weist zu Recht darauf hin, dass auch andere einen Orient-Tick hatten, die deutsch-jüdische Dichterin Else Lasker-Schüler beispielsweise, die sich "Prinz von Theben", "Jussuf" oder "Tino von Bagdad" nannte und sich entsprechend kostümierte. Lev ging in schwarzer Lammfellmütze und einem Krummdolch am Gürtel umher oder auch mit dem Symbol osmanischer Eleganz, dem Fez. Natürlich wußte Levs Freundeskreis über ihn Bescheid, doch wenn sie über seine Stilisierungsmaßnahmen spotteten, konnte er sehr böse werden. Wie um diese Spötter endlich loszuwerden, trat er im Sommer 1922 offiziell zum Islam über.
Schaut man mit dem Blick des Biographen auf dieses Datum, dann muss man allerdings feststellen, dass noch gar nichts von dem, was seinen Ruhm begründete, geschehen war. Der literarische Aufstieg kam aber sehr schnell. 1926 wurde er Mitarbeiter der "Literarischen Welt", des tonangebenden Intellektuellenblatts, in dem auch Egon Erwin Kisch, Walter Mehring und Walter Benjamin schrieben. Und Essad Bey, wie sich Lev jetzt konsequent nannte, wurde nicht irgendein Mitarbeiter, sondern einer der produktivsten. Er war der Mann für den Osten. Weil er mit den Artikeln nicht ausgelastet war, schrieb er nebenbei noch ein Buch, und daneben noch eins. Für die nächsten zehn, zwölf Jahre wurde er ein solcher Vielschreiber, dass ihm sein Agent raten musste, was Autoren sicherlich selten zu hören bekommen, nämlich nicht zu viele Bücher zu verfassen, sondern auch mal Pause zu machen, damit die einzelnen Titel einender nicht im Buchhandel ständig Konkurrenz machen.
Es begann mit seiner Autobiographie "Öl und Blut im Orient", die 1929 erschien.
Unmittelbar nach dem Erscheinen von "Öl und Blut" machten es sich einige politisch motivierte deutsche Kritiker zur Aufgabe, nicht nur die Leser vor dem Buch zu warnen, sondern auch den Autor gewissermaßen zu "enttarnen". Sie sahen in Lev so etwas wie einen ethnischen Scharlatan, wenn nicht noch Hinterhältigeres. Else Lasker-Schüler mochte sich ruhig als Tino von Bagdad verkleiden, sie blieb dennoch ganz unverkennbar eine deutsch-jüdische Dichterin. Viele jüdische Journalisten und Wissenschaftler schrieben damals Bücher über den Nahen Osten, und das oft sehr kompetent und mit großer Sympathie für die muslimische Welt, doch zogen sie nicht mit einem Turban auf dem Kopf durch ganz Berlin und erzählten, sie seien Söhne von Stammesfürsten, und sie gaben sich auch nicht irgendwelche türkischen Fantasienamen.
Sein chamäleonesker Verwandlungsdrang hatte ihm in früher Jugend, auf der Flucht mit seinem Vater, sicherlich ein paar Male das Leben gerettet; später wurde er zum Lebensproblem. Da war zunächst die eklatant gescheiterte Ehe mit Erika Loewendahl, der Tochter eines ultrareichen Schuhhändlers, die bei der "Literarischen Welt" ein Volontariat absolvierte und es sich in den Kopf gesetzt hatte, den gerade interessantesten und berühmtesten Autor, dessen sie habhaft werden konnte, zu heiraten. Das war Essad Bey. Wenig später fuhr sie mit ihm nach New York, und er war so berühmt, dass die "New York Times" immerhin seine Ankunft meldete. Dennoch ging die Ehe schief, und Erika schnödete gegenüber der amerikanischen Presse, sie habe sich in Essad Bey verliebt, aber der sei bloß Lev Nussimbaum gewesen.
Seine Unbeholfenheit, Schüchternheit, wer weiß, vielleicht auch Impotenz, standen im krassen Gegensatz zu dem Bild des mit einem Dolch bewaffneten Scheichs, dem mächtigsten Sexsymbol der damaligen Zeit.
In der Tat, es gab sogar eine Kondommarke namens "Scheich". Doch dieses "wer weiß" an dieser Stelle geht zu weit: mit solchen Insinuationen darf ein Biograph nicht unfundiert herumhantieren. Das ist aber auch der einzige Ausrutscher in diesem sonst so gründlich recherchierten Buch. Und wer weiß, vielleicht verfügt Tom Reiss ja über Dokumente, die ihn zu Aussagen über die Liebesfähigkeiten seines Helden berechtigen, denn in Wien bekam er von einer alten Dame, die Levs letzte Verlegerin war, ein paar vollgeschriebene Hefte in die Hand gedrückt, die sich als auf dem Sterbebett verfasste Memoiren entpuppten. Sie tragen den bestürzenden Titel: "Der Mann, der nichts von der Liebe verstand". Die Veröffentlichung steht noch aus.
In gewisser Weise war er aber auch ein Mann, der nichts von Politik verstand. Allerdings zeigt Reiss sehr gut, dass die Weltgeschichte reiner Wahnsinn war: ein Gemisch aus Nationalstolz, niedrigen Impulsen, Blutdurst, Armut, Waffen und Testosteron. Bei den Nazis war Essad Bey wegen seines Antibolschewismus eine Weile recht beliebt; ja, er selbst bändelte sogar mit faschistischen Gruppierungen an. Aber ...
Bei all der Aufregung über das neue Tausendjährige Reich fanden die Menschen immer noch Zeit, sich an alte Zwistigkeiten zu erinnern. Kurt Ziemke, jener Beamte im deutschen Außenministerium, der einige Jahre zuvor die Beschwerden antisemitischer Gruppen, muslimischer Nationalisten sowie die von Heeresoffizieren entgegengenommen hatte, hatte diesen Essad Bey nicht vergessen. Damals, als die ersten Klagen laut wurden, hatte er eine Akte angelegt und diesen verdächtigen Menschen drei Jahre lang aus eigenem Antrieb heraus verfolgt.
Jetzt, da eine Regierung an der Macht war, die sich für versteckte Juden interessierte, trug Ziemke sein Anliegen dem neuen Propagandaminister Dr. Goebbels vor und bat ihn, etwas gegen die - Zitat - "Schwindelprodukte dieses überaus geschäftstüchtigen Juden" zu unternehmen.
Es dauerte ein bisschen, doch dann war Essay Bey wieder ein Gejagter. Seine letzte Zuflucht fand er in Positano bei Neapel. Er schleppte sich mit einer tödlichen Krankheit herum, er kam nicht mehr an seine Tantiemen heran und hatte doch bis ganz zu letzt immer wieder seltsame Helfer. Einer davon hieß Ezra Pound. Der verschaffte ihm neue Arbeitsmöglichkeiten beim italienischen Rundfunk: faschistische Propagandasendungen für den Nahen Osten war die Aufgabe. Sie wäre es gewesen. Als die schwarze Staatskarosse im Sommer 1942 in Positano vorfuhr, um Essad Bey alias Kurban Said ins Radiostudio zu bringen, konnte der örtliche Polizeichef nur noch auf den Friedhof deuten. "Zu spät", sagte er zum Fahrer der Limousine. Er hatte von dem jüdischem Geheimnis des Autors gewusst und geglaubt, dass Mussolinis Geheimpolizei ihn deswegen holen wollte.
Leva Vater Abraham hatte Italien nicht erreicht. Er wurde in Wien verhaftet und in Treblinka ermordet.
Tom Reiss
"Der Orientalist. Auf den Spuren von Essad Bey"
Osburg Verlag