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Der Oscar-Sieger "Moonlight" kommt ins Kino
Schwarz, schwul und abgehängt

Nicht ein Film mit singenden und tanzenden Menschen war der große Gewinner der 89. Oscar-Verleihung. Statt "La La Land" wurde das Drama "Moonlight" mit dem Oscar für den besten Film des Jahres ausgezeichnet und zwei weiteren fürs Drehbuch und Nebendarsteller Mahershala Ali.

Von Jörg Albrecht |
    Die Produzenten Jeremy Kleiner (l.) und Adele Romanski (m.) mit dem Regisseur Barry Jenkins, die nach einer Panne als die tatsächlichen Oscar-Gewinner gekürt wurden.
    Die Produzenten Jeremy Kleiner (l.) und Adele Romanski (m.) mit dem Regisseur Barry Jenkins, die nach einer Panne als die tatsächlichen Oscar-Gewinner gekürt wurden. (Imago Stock & People)
    Aus dem Autoradio ertönt ein Song. Nicht irgendeiner. "Every nigger is a star" singt der Soulmusiker Boris Gardener. Ein Lied über den Stolz, ein Schwarzer zu sein. Das diskriminierende N-Wort wird hier ganz bewusst als Symbol der Selbstbehauptung gebraucht.
    Der Mann im Auto ist Juan, ein Schwarzer, der auf Kuba geboren wurde, und der jetzt in Liberty City lebt, einem Stadtbezirk von Miami, in dem 95 Prozent der Bevölkerung Schwarze sind. Ein Ghetto der sozial Abgehängten, in dem Kriminalität, Prostitution und Drogenkonsum zum Alltag gehören. Auch Juan bestreitet seinen Lebensunterhalt als Dealer. Er wird auf den Jungen Chiron treffen, die Hauptfigur in "Moonlight".
    Im ersten Kapitel – es gibt wie in der klassischen Heldenreise drei Akte – ist Chiron zehn Jahre alt. Juan hat den verschlossenen und fast stummen Jungen aufgegriffen und bringt ihn nach Hause zu seiner Mutter.
    "Was ist passiert, Chiron? Du weißt doch, dass du abends zu Hause sein sollst. Ich habe ihn gestern gefunden. Er hatte eine Heidenangst. Er hat mir erst heute Morgen gesagt, wo er wohnt. – Aha. Danke, dass Sie sich um ihn gekümmert haben. Normalerweise passt er auf sich selbst auf."
    Früh erlebt Chiron Ausgrenzung und Mobbing. Von seinen Mitschülern wird er, weil er klein und schmächtig ist, nur "Little" genannt. Mit Juan tritt zum ersten Mal eine Vaterfigur in Chirons Leben. Er wird den Jungen unter seine Fittiche nehmen, ihm wichtige Dinge fürs Leben mit auf den Weg geben.
    "An einem bestimmten Punkt musst du dich entscheiden, wer du sein willst. Und niemand kann dir diese Entscheidung abnehmen."
    Und er wird Chiron unter anderem auch im Meer das Schwimmen beibringen.
    Sinnbilder frei von Theatralik
    "Gib mir deinen Kopf! Leg deinen Kopf in meine Hand! Entspann dich! Ich halte dich. Das verspreche ich dir. Ich habe dich. Ich lasse dich nicht los."
    Regisseur Barry Jenkins inszeniert diesen Moment wie ein Taufritual. Es sind Bilder voller Zärtlichkeit, die einen Kontrapunkt zur harten Realität des Alltags setzen. So wie das Schwimmen zum Sinnbild wird für das Überwasserhalten im Leben, gibt es eine Reihe von Symbolen und mythologischen Motiven in "Moonlight" zu entdecken. So ist es auch kein Zufall, dass der spanische Name Juan für Johannes steht und dessen Freundin, die sich ebenfalls rührend um Chiron kümmert, Teresa heißt. Das Bemerkenswerte an "Moonlight": Diese Sinnbilder fügen sich harmonisch in die Handlung ein und sind frei von Theatralik.
    "Was ist los? – Nichts. Alles okay."
    Der Drehbuchautor Tarell Alvin McCraney (l.) und der Regisseur Barry Jenkins mit ihren Oscars, die sie für den Film "Moonlight" erhalten haben.
    Der Drehbuchautor Tarell Alvin McCraney (l.) und der Regisseur Barry Jenkins mit ihren Oscars, die sie für den Film "Moonlight" erhalten haben. (Imago Stock & People)
    Nach einem Zeitsprung – Chiron ist jetzt ein Teenager auf der High-School – geht die Heldenreise mit der Phase der Prüfungen weiter. Die eine besteht darin, seine sexuelle Identität zu finden – Chiron scheint Gefallen an Männern zu finden. Er wird einen Klassenkameraden küssen. Die andere Prüfung findet zu Hause statt. Chirons Mutter ist immer stärker gezeichnet von ihrer Drogensucht.
    "Hör auf in meinem Haus den Kopf hängen zu lassen! Du kennst meine Regel. In diesem Haus gibt es nur Liebe und Stolz, verstehst du mich? – Ja. Ich verstehe dich."
    Ein Anruf konfrontiert Chiron mit seiner Vergangenheit
    Wenn schließlich der dritte Akt beginnt, wird alles anders sein. Chiron ist ein erwachsener Mann und äußerlich kaum mehr wiederzuerkennen. Er hat sich Muskeln antrainiert, ist Mitglied in einer Gang, und er hat Liberty City hinter sich gelassen. Aber dann wird ihn ein Anruf noch einmal mit seiner Vergangenheit konfrontieren.
    Wie schon der Film "Precious" aus dem Jahr 2009 über eine junge schwarze Frau aus prekären Verhältnissen zeigt auch "Moonlight" Empathie für seine Figuren. Trotz der durchaus authentischen Schilderung schlägt er fast einen elegischen Ton an. Dieser zieht sich durch eine Geschichte, die glücklicherweise nichts auserzählt, was sie von typischer Hollywoodware unterscheidet. Wahrhaftigkeit und Poesie schließen einander nicht aus. Das zeigt diese bedrückende wie berückende Chronik einer Kindheit und Jugend, die völlig zurecht den Oscar für den besten Film des Jahres gewonnen hat.