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Der Papst. Johannes Paul II. - Drama und Geheimnis

"Der Papst ­ Johannes Paul II. ­ Drama und Geheimnis": Ein Buch mit diesem Titel sucht man in der Devotionalienhandlung, zwischen Rosenkränzen und Andachtsbildern. Im schicken Ambiente des Alexander Fest Verlages wirken die Titelbegriffe wie Ironiesignale. Die Goldschrift des Umschlags und das violette Vorsatzpapier verstärken den Verdacht: Haben wir es mit der Parodie eines Heiligenlebens zu tun, vielleicht nach dem Vorbild der von Eckhard Henscheid, einem anderen Hausautor des Verlages, fabrizierten halbfiktiven Kohl-Biographie? Das Debüt des Autors, vor zwei Jahren ebenfalls bei Fest erschienen, war die Streitschrift "Die neuen Staatsfeinde. Was für eine Republik wollen Schröder, Henkel, Westerwelle und Co.?" Welcher Weg führte den Verfasser von Berlin nach Rom, von der tagespolitischen Polemik zur Kontemplation der ewigen Kirche? Roß, der freche Kritiker der herrschenden Ungeniertheit, wird doch auf seine jungen Tage nicht fromm geworden sein? Ist er der Lars von Trier der politischen Essayistik?

Patrick Bahners |
    Mit der Kunstlosigkeit der "Dogma"-Filme hat Roß' geschliffene Prosa auf den ersten Blick nichts gemein. Aber auch Roß' Buch ist eine formale Provokation, die auf eine Kritik unseres konventionellen Weltverständnisses im Namen eines höheren Realismus hinausläuft. Wo Lars von Trier im Namen dokumentarischer Wahrheit den Kunstmitteln des Kinos entsagt, da prunkt Jan Roß umgekehrt mit Redewendungen, die mehr sein sollen als Schmuck. Er schwelgt in emphatischen Bildern und pathetischen Zuspitzungen, um den Zeitgeist totaler Ironie zu schockieren, der alles immer nur im übertragenen Sinne verstanden wissen möchte. "Johannes Paul II.", heißt es im letzten Kapitel, "Über die Jahrtausendschwelle", "ist zu Lebzeiten Mythos und Legende geworden, eine Titanengestalt, und er ist es erst recht, wenn man ihn mit der Dutzendware der Modepuppen vergleicht, die sonst im Schaufenster der Macht und des Ruhms stehen."

    Die Schaufensterpuppen, das sind natürlich wieder Schröder und Westerwelle, der Brioniwerber und der "Big Brother"-Besucher. Aber nicht nur im Vergleich mit diesen Zwergen ist der Papst Roß zufolge eine Titanengestalt, sondern auch absolut, wenn man ihn allein ins Auge faßt. Größe ist das, was wir nicht sind: Roß holt Jacob Burckhardts Kategorie der historischen Größe in die zeitgeschichtliche Betrachtung zurück, ohne das Verlangen nach Größe, das sich in der Kategorie artikuliert, selbst historisch einzuordnen. Größe, so will es diese Denkfigur, entzieht sich dem Vergleich. Es gibt Erscheinungen, die man nicht erfaßt, wenn man sie sofort kontextualisiert. Sie wollen zuerst einmal anerkannt sein. Welche Figuren aus dem Rahmen der Üblichkeiten herausfallen, wird man freilich nur durch Vergleich ermitteln können. Der Titan im Zwergenreich und der Titan allein auf weiter Flur, das Apodiktische und das Relative, stehen bei Roß nebeneinander. Viele Ehrentitel, die in den keuschen Ohren frommer Papstkritiker skandalös klingen müssen, sind als implizite Vergleiche zu lesen. Wenn dem Papst Heldenstatur zugeschrieben wird, ist der Hintergrund einer Gesellschaft mitzudenken, die strenges Denken und kompromißloses Handeln nicht belohnt. Gemessen an den Verlautbarungen von Bischöfen, die alle Weisungen unter den Vorbehalt ihrer Vermittelbarkeit stellen, wohnt jedem Papstwort etwas Großartiges inne. Freilich würde Roß seine Aussagen um ihre Wirkung bringen, wenn er sie als Vergleiche auswiese. Er möchte ein juste milieu provozieren, das kein Lob aussprechen kann, ohne Wermut in den Pokal zu tröpfeln. Man soll gefälligst zugeben, daß die Predigt des polnischen Papstes wider den Kommunismus eine welthistorische Tat war, und nicht gleich wieder ohne Atempause hinzusetzen, das Festhalten am Verbot der Pille sei innerkirchlich aber verheerend.

    Einer Zeit, die meint, daß alles immer komplexer wird, das heißt immer schwieriger wird und sich zugleich immer schwieriger ausdrücken läßt, schlägt Roß vor, die Dinge versuchsweise wieder ganz einfach zu sehen und ganz einfach zu sagen. Schon als Roß noch im Feuilleton der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" schrieb, zeichneten sich seine Kommentare durch eine Verdichtung aus, die auf äußerste Deutlichkeit zielte. Er ist der geborene Leitartikler, nein: Leitglossator, denn während der kunstgerechte Leitartikel einen Gedanken dreht und wendet, steuert Roß, der Flaubert der Kommentatoren, schnurgerade auf das eine Wort zu, das alles sagt. Roß mußte sich nicht kleinmachen, als er zur "Berliner Zeitung" wechselte; die Kurzformate, die dort Modernität markieren, paßten seinen Texten wie maßgeschneidert. Das reformierte Layout der "Zeit", für die Roß heute als politischer Korrespondent aus Berlin berichtet, könnte für ihn erfunden sein. Der Weißraum gibt seinen Epigrammen eine Aura; es ist um diesen niemals unentschiedenen Autor dort, wie er so schön über den Papst auf Kuba schreibt, "eine suggestive Atmosphäre von Gelassenheit und Weite".

    Im Hausorgan eines Liberalismus, der immer auf der Seite der Engel steht, ist Roß der Advokat des Teufels. Wenn das Bundesverfassungsgericht wieder eines seiner antifeministischen Abtreibungsurteile veröffentlicht, gibt Roß ein Sondervotum zur Verteidigung der Richter ab. Die Kunst der strikten Interpretation hat er als klassischer Philologe gelernt. In die Klagen über den Niedergang des Lateinunterrichts hat er nie eingestimmt; dafür ist sein Glaube an das Abendland womöglich einfach zu stark. Seinen Stil zeichnet eine Klassizität aus, in der sich ein antimoderner Instinkt verrät, eine Abneigung gegen das Schweifende und Protesushafte der romantischen Subjektivität.

    Subtil legt Roß dar, wie Johannes Paul II. im persönlichen Gespräch seine Autorität wahrt, indem er sich auf den Part des Zuhörers zurückzieht: "Indem er seine Sicht der Dinge den anderen nicht aufredet, macht er zugleich klar, daß sie letztlich nicht zur Debatte und zur Disposition steht, daß sie nicht einfach eine Meinung unter vielen ist." Der ehemalige Studentenpfarrer liebe das Wort, aber: "Ein diskussionsfreudiger Zeitgenosse, ein Wahrheitssucher im unendlichen Gespräch, ein Mitspieler beim herrschaftsfreien Diskurs à la Habermas ist er nicht." Dieser Satz ist ein gutes Beispiel für Roß' sorgfältig komponierte Absatzschlüsse. Das Buch, das ein Drama erzählen soll, ist nach dramatischen Regeln aufgebaut. Es handelt sich um ein Ideendrama, in dem Gedanken wie Personen geführt werden. Die Inszenierung von Argumentationen ist das Geschäft der Rhetorik. Roß hat in Tübingen bei Walter Jens studiert. Im zitierten Satz folgt die Trias der negativen Charakterisierungen dem Gesetz der wachsenden Glieder: Ein diskussionsfreudiger Zeitgenosse braucht elf Silben, ein Wahrheitssucher im unendlichen Gespräch zwölf, ein Mitspieler beim herrschaftsfreien Diskurs à la Habermas sechzehn. Der Redner imitiert das unendliche Gespräch, nur um es mit der abschließenden Verneinung brüsk abzubrechen.

    Carl Schmitts Kritik des endlos parlierenden Liberalismus klingt hier nach, der Roß vielleicht weniger aus politischen als aus ästhetischen Gründen Recht zu geben geneigt ist: Er ist kein Verächter der Formen, aber ein Liebhaber der Form. Der Rhetoriker kann nicht absolut modern sein wollen. Sein Material sind Topoi. Wie Hanns Dieter Hüsch der Widerrede avantgardistischer Kollegen zum Trotz weiter in C-Dur komponiert, so beruht die Wirkung von Roß' moralischen Reflexionen darauf, daß sie das Eingängige nicht scheuen. Sogar die kleinste Münze aus der Schaubetriebskasse, die Legende zu Lebzeiten, setzt er wieder in Umlauf. Von einer legendären Gestalt darf im legendären Modus erzählt werden. Riesenschritte tut der Titan, und wer ihm nachfolgen will, sollte sich nicht in Nebensätzen und Nebengedanken verirren.

    Daß Johannes Paul II. überlebensgroß durch diese Seiten schreitet, ist Ergebnis einer literarischen Entscheidung, nicht etwa Ausdruck des persönlichen Glaubens des Verfassers: "Der Autor ist nicht katholisch", steht auf der ersten Seite, "den Dogmen der Kirche gegenüber fühlt er sich weder zum Gehorsam noch zur Rebellion verpflichtet". Der Agnostiker kann es sich erlauben, päpstlicher zu sein vielleicht nicht als der Papst, aber jedenfalls als die Gläubigen, die sich nicht nur zum Gehorsam verpflichtet fühlen, sondern tatsächlich verpflichtet sind. Ein schwärmerischer Ton durchzieht das Buch, den man sich von einem katholischen Autor kaum gefallen lassen würde: "Das Wunder der ersten Polenreise Johannes Pauls II." 1979, im Jahr nach der Wahl, "war die Erweckung gewesen. Das Wunder der zweiten" - 1983, unter dem Kriegsrecht -, "war die Verwandlung - die Verwandlung der politischen Niederlage in einen moralischen Sieg". Ein Kirchenhistoriker hätte wahrscheinlich den Wunderbegriff vermieden, den er nur metaphorisch verwenden könnte. Erweckung und Verwandlung - das sind Synonyme für das geheimnisvollste Geschehen im Drama der Heilsgeschichte, die Auferstehung. Dem Papst mag sein Wirken in diesem Licht erschienen sein; die Übernahme dieser Perspektive durch den Biographen fordert eine Historiographie heraus, die zuviel und zuwenig erklärt, wenn sie den Strukturbedingungen alles zutraut und dem Geist nichts.

    In der Spätphase des Kalten Krieges erfreute sich die Geschichtstheorie von Hayden White großer Beliebtheit. White zufolge liegt es in der Hand des Historikers, wie er die Geschichte betrachten will. Am Ende ist es eine Frage des literarischen Geschmacks, ob er sie sich als Märchen, als Tragödie oder als Farce ausmalt. In der von White postulierten Unerkennbarkeit der Geschichte mag man einen Reflex auf die Unbeweglichkeit der Verhältnisse erkennen, die der Blockgegensatz eingefroren hatte. 1989 traten Ereignisse ein, deren dramatische Natur sich nicht mehr als optische Täuschung abtun ließ. Das Papstbuch von Jan Roß, der 1965 geboren wurde, ist auch der Versuch, die historische Erfahrung seiner Generation festzuhalten, die Erfahrung der Geschichte.

    Faszinierend sind Roß' Spekulationen über die Psychologie der Zeugenschaft. An autobiographischen Mitteilungen macht er plausibel, daß Karol Wojtylas Berufung aus dem Erlebnis der Verschonung stammt: Unter der deutschen Besatzung und unter der kommunistischen Diktatur hatte er sein Leben nicht einzusetzen; er wurde aufgespart, um Zeugnis abzulegen von den Märtyrern. Es gibt eine merkwürdige Affinität zwischen dem einsamen Menschenfreund, der Anteil nehmen kann, weil er nicht teilnehmen muß, und seinem Biographen, den eine Glaubenswelt entflammt, die ihn kalt läßt. Auch Johannes Paul II. erlebte die osteuropäischen Revolutionen von 1989 als Zuschauer im Westen.

    Eingehend analysiert Roß die päpstlichen Manifeste zur Gesellschaftspolitik. Stein des Anstoßes für die utilitaristische Alltagsmoral der säkularen Welt ist der Absolutismus des Lebensrechts. Die Sorge um die Klarheit des Zeugnisses in der Abtreibungsfrage wird manchmal als private Obsession hingestellt. Roß dokumentiert, daß Johannes Paul II. auf anderen Feldern mit gleicher Konsequenz für das unteilbare Lebensrecht eintritt. Die traditionellen kirchlichen Auffassungen vom Krieg und von der Todesstrafe hat er durch radikales Weiterdenken bis an die Grenze der Selbstaufhebung geführt. Der gerechte Krieg und die gerechtfertigte Hinrichtung sind theoretisch noch denkbar, erscheinen aber praktisch unmöglich. Roß weist den Vorwurf zurück, der Papst predige den Rückzug in die Nische, wenn er mit dem Apostel Paulus vor der Denkweise dieser Welt warne: "So einfach ist es nicht: Es gibt nichts weniger Nischenhaftes und Privates, nichts Öffentlichkeitsrelevanteres im Christentum als das unbeugsame Glaubens- und Wahrheitszeugnis."

    Die päpstliche Kritik des herrschenden Relativismus würdigt Roß als den einzigen im Westen wahrgenommenen Versuch, der Ethik der osteuropäischen Dissidenten auch gegenüber den Siegern des Kalten Krieges Geltung zu verschaffen. Ein "Leben in der Wahrheit" hatte Václav Havel entworfen und Karol Wojtyla schon als Erzbischof von Krakau praktiziert. Der Idealismus von Dichtern und Seelsorgern, die jeden Kompromiß mit der Lüge verwarfen, erscheint im Rückblick realistischer als eine nicht nur von der SPD, sondern auch vom Vatikan betriebene Ostpolitik, die die Wahrheitsfrage ausklammerte. Der Bannfluch, den Johannes Paul II. gegen den westlichen Materialismus schleuderte, war die Zweitausfertigung des Anathemas, das er über die östliche Spielart verhängt hatte. Sein Protest richtet sich dagegen, daß der Mensch zum Objekt gemacht wird. Dinge haben einen bezifferbaren Wert, der Mensch eine inkommensurable Würde. Roß führt die politische Haltung des Papstes auf den geistlichen Sinn des Petrusamtes zurück und macht diesen Zusammenhang in einer Pointe sinnfällig, die durch poetisch zu nennende Schlichtheit besticht: Der Stellvertreter Christi muß Stellvertreter des Menschen sein.

    Der philosophische Begriff für den Menschen, insofern er als Träger einer unermeßlichen Würde gedacht wird, ist Person. Roß' Referat von Wojtylas Personalismus ist das Herzstück der Biographie. "Drama und Geheimnis": Der Untertitel weckt Erinnerungen an die historische Belletristik, an Emil Ludwig und Stefan Zweig, an Rasputin und Anastasia. Roß erlaubt sich, die suggestiven Vokabeln als Leitfäden seiner Erzählung zu nutzen, weil er sie mit philologischer Präzision als Leitmotive im Denken Karol Wojtylas nachweisen kann. Als Person ist jeder Mensch eine Welt für sich, die sich auf keine Formel bringen läßt: kein Rätsel, zu dem es eine Lösung gäbe, sondern ein Geheimnis, dessen Sinn allein Gott kennt. Das geheimnisvolle Wesen der persönlichen Existenz bedingt die dramatische Struktur des sozialen Lebens: Die Personen sind füreinander undurchsichtig, nehmen sich nur in ihren Rollen war. Hier findet auch das Paradox des Zeugen seine Auflösung: Jeder Mitspieler ist zugleich Zuschauer, insofern er sein Geheimnis für sich behält.

    Roß ist ein Meister der Sentenz, die zumeist die Form der Antithese hat: "Alle Päpste reden von Gott. Vom Menschen aber dürfte keiner so viel gesprochen haben wie Johannes Paul II." Und die anthropologische Färbung von Wojtylas Theologie erklärt Roß aus der Menschlichkeit ihres Urhebers. "Wojtylas Personalismus wirkt wie zugeschnitten auf Wojtylas Person." Aber die Harmonie von Leben und Lehre, die das Glück des Biographen ist, macht zweifelhaft, ob der Papst das allgemein bedeutsame Exempel abgeben kann, das uns dieses Stück rhetorischer Historie vor Augen stellen möchte. Roß, in der "Zeit" Chronist des Hauptstadtalltags, träumt allem Anschein nach von einer substantiellen Politik. Der Papst aus dem Osten hat in diesem Traum die Statur eines apokalyptischen Vollstreckers. Wo Carl Schmitt nach dem Katechon suchte, der den Zerfall aufhalten sollte, da feiert Roß umgekehrt Johannes Paul II. als den Terminator, der mit dem Status-quo-Konservatismus der siebziger Jahre Schluß machte. Kurioserweise tut Roß die Jahre seiner eigenen Schulzeit verächtlich als "die Helmut-Schmidt-Zeit" ab, "in der Staatsmänner nur die 'leitenden Angestellten' ihrer Nationalkonzerne sein wollten" - als würde die Helmut-Schmidt-Zeit nicht in dem Konzern, dessen Angestellter er selber ist, heute noch andauern.

    Mit unverstellter Sympathie schildert Roß den Personalismus als Alternative zum angeblich oberflächlichen, anti-sozialen, zynischen Individualismus liberaler Provenienz. Er verhehlt freilich nicht, daß die Heiligkeit der Person gerade jene Stücke der kirchlichen Sittenlehre begründet, der auch fromme Katholiken in großer Zahl den Gehorsam verweigern. Das Verbot der Empfängnisverhütung beruht auf dem Gedanken, daß es unter der Würde der Eheleute sei, einander nur als Mittel zur Lust zu gebrauchen. Roß malt das Grandiose des päpstlichen Ideals schrankenloser Liebe in leuchtenden Farben, um dann doch zu dem konventionellen Schluß zu kommen, der Nachfolger werde das Gehorsamsproblem pragmatisch entschärfen müssen.

    Daß Wojtylas Personalismus zu persönlich ist, als daß er überpersönliche Bedeutsamkeit beanspruchen könnte, beglaubigt die historische Größe der Person Johannes Pauls II. Größe ist eben das, was wir nicht sind. Alles, was der Welt verlorengegangen ist, verkörpert der Titan, der aus einer Urzeit der Glaubensstärke in unsere Zeit hineinragt: "Die Waisenkinder der Moderne, einer vaterlosen Gesellschaft, die keine Autorität erträgt und zugleich nach ihr hungert, blicken staunend und verwirrt auf die Patriarchenfigur Johannes Pauls II." Beansprucht das Paradox, daß die unerträgliche Autorität zugleich Gegenstand des Hungers ist, nicht doch eine trügerische Evidenz? In einer Predigt nähme man an der glatten Formulierung keinen Anstoß. Doch Roß spricht nicht als Glaubender, wenn er die Welt verwirft. Der Papst mag "als Sinnmagnet ohne Konkurrenz" sein - Roß, der altkluge Waisenknabe, hat der Anziehungskraft des Patriarchen im Entscheidenden widerstanden: Er hat die von Johannes Paul II. gepredigte Botschaft nicht angenommen. Ist der Titan nicht nur ein Scheinriese, wenn er keine andere Sache vertritt als "die Ahnung einer Alternative zur saturierten Durchschnittlichkeit, selbst wenn sie sich als Dynamik und Kreativität maskiert, das Verlangen nach Hoffnungen, die weiter reichen, und nach Zielen, die höher gesteckt sind"?

    Vor hundert Jahren gab es in Deutschland schon einmal eine bürgerliche Selbstkritik, die sich aus saturierten Verhältnissen ins Hohe und Weite sehnte und eine Religion beschwor, der sie sich nicht unterwerfen wollte. Im Ton der Demokratiekritik Heinrich von Treitschkes höhnt Roß über "das Funktionärsgewimmel irgendwelcher protestantischer Synoden".

    Das Buch könnte heißen: "Wojtyla als Erzieher". Für einen Verächter der Schröders und Westerwelles und ihres Heilversprechens der unbegrenzten Ladenöffnung hat Roß eine merkwürdige Schwäche für drastische, bisweilen vulgäre Schlagworte aus der Werbewelt. Da hat der Papst sein "Coming-out zum Kriegsproblem", da sind Leben und Lehre "Karol Wojtyla pur", da hat der "XXL-Pontifikat" natürlich "King-size-Dimensionen". Aber seit jeher gehören gewählte Kraftausdrücke zu den Kunstmitteln der Rhetorik. Das Buch von Roß, in dem kein Wort zuviel steht, fasziniert als brillante Stilübung, als durchdachtes Experiment. In einer Öffentlichkeit, die, wie er treffend sagt, immer überall Anti-Westlertum wittert, macht Roß die Probe auf die Möglichkeit einer kulturkritischen Rhetorik. Er ist der Typus des Redners, der sich so gut beherrscht, daß er immer einen Schritt neben der Rede steht. Eingangs zitiert er das Wort Kardinal Lustigers, mit der Wahl Johannes Pauls II. sei den Söhnen Ciceros der Sohn des modernen Europa gefolgt. Ein Sohn Ciceros hat dieses Buch geschrieben.