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Der Papst und die Ehe
Zwischen Irritation und Reform

Das Lehrschreiben von Papst Franziskus über Liebe und Ehe irritiert selbst höchste Kirchenkreise. Dürfen Wiederverheiratete nun zur Kommunion? Werden Annullierungsverfahren weniger peinlich? Im DLF diskutierten der Kirchenrechtler Klaus Lüdicke, der Franziskus als großen Ehe-Reformer sieht, und der Pastoralreferent Peter Otten. Er wünscht sich klarere Lehraussagen.

Klaus Lüdicke und Peter Otten im Gespräch mit Christiane Florin |
    Einen "langen Willen" bekunden: das Eheversprechen
    Hat der Papst mit der Vereinfachung des Annullierungsverfahrens tatsächlich die katholische Ehewirklichkeit verändert? (Jens Kalaene / picture alliance / dpa)
    Christiane Florin: Eine Fußnote, die Verwirrung stiftet, haben wir gerade in dem Beitrag aus Rom gehört. Wir möchten nun das Durcheinander etwas sortieren. Dazu begrüße ich in Münster Klaus Lüdicke, er ist emeritierter Professor für Kirchenrecht an der Universität Münster und ein Spezialist für Eherecht. Guten Morgen, Herr Lüdicke.
    Klaus Lüdicke: Guten Morgen, Frau Florin.
    Florin: Hier in Köln diskutiert mit Peter Otten, Pastoralreferent, Blogger und auch er ein Spezialist für Eherecht - wider Willen sozusagen. Die erste Ehe seiner Frau wurde in einem langen Verfahren annulliert. Guten Morgen, Herr Otten.
    Peter Otten: Guten Morgen.
    Florin: Herr Otten, hat dieser Papst mit seinem Schreiben, mit seinen Aussagen, mit der Vereinfachung des Annullierungsverfahrens tatsächlich die katholische Ehewirklichkeit verändert?
    Otten: Das ist natürlich schwer zu sagen. Grundsätzlich erst mal nicht. Wahrscheinlich war es kein Zufall, dass der Papst, bevor die Synode überhaupt losgegangen ist, mit dem Prozessrecht angefangen hat. Er hat das Recht geändert, in dem die Eheannullierungs-Verfahren geführt werden, und da ist es tatsächlich so, dass die Verfahren vereinfacht worden sind. Die obligatorische zweite Instanz fällt weg, es gibt eine gewisse Vereinfachung der Zuständigkeiten.
    Auf der anderen Seite muss man sagen, dass das Verfahren an sich ja trotzdem weitergeht mit all den Schwierigkeiten, es muss eine Klageschrift geschrieben werden, es müssen Zeugen gefunden werden. Zum Teil, je nachdem, wie lange die erste Ehe bestanden hat, liegt das Jahrzehnte zurück. Man muss den beteiligten Zeugen das Verfahren erklären. Man muss peinliche, schwierige Fragen über das Privatleben, zum Teil auch über das Intimleben, über sich ergehen lassen. Und insofern hat sich da erst mal nichts geändert. Vielleicht ist das Kalkül des Papstes aufgegangen, dass die Ehegerichte dadurch jetzt mehr zu tun haben, aber das kann vielleicht der Professor Lüdicke besser beantworten.
    Florin: Eine Nachfrage habe ich aber noch an Sie, Herr Otten: Meinen Sie, dass ein Verfahren ohne Peinlichkeit nicht möglich ist?
    Otten: Wenn man bestimmte Klagegründe in Betracht zieht, also wenn Sie zum Beispiel Treueausschluss betrachten, dann wird es früher oder später um Sexualität gehen oder Kinderausschluss. Das müssen Sie sich schon klar machen, wenn Sie so ein Verfahren führen, dass Sie darüber Auskunft geben müssen.
    "Die Lehre steht im Dienst des Menschen und nicht umgekehrt"
    Florin: Herr Lüdicke, das muss Sie doch zum Widerspruch reizen. Wenn ich Ihr Aufsatzschaffen anschaue, dann sagen Sie ja, da hat sich etwas ganz Entscheidendes geändert, gerade in dem Punkt Sexualität.
    Lüdicke: Ja, da hat sich in der Tat Entscheidendes geändert. Aber letztlich dadurch, dass der Papst Verbote und Verwünschungen sozusagen der kirchlichen Sexualmoral, die bisher gegolten haben, nicht wiederholt in seinem Schreiben. Es werden keine ausdrücklichen Formulierungen verwendet, was jetzt alles erlaubt sein soll. Aber dadurch, dass nicht mehr verboten wird, was bisher immer verboten wurde, hat sich eben doch atmosphärisch Erhebliches geändert. Der Grundtenor dieses ganzen Schreibens von Franziskus, aber auch schon seines Apostolischen Schreibens "Evangelii Gaudium" ist ein grundsätzlicher Wechsel, den das zweite Vatikanum angefangen hatte, aber meines Erachtens nicht zu Ende gebracht hat.
    Ein Wechsel, den ich so beschreiben würde, wenn man mal in die zivile Parallele schaut: Im Nazireich hat es geheißen: "Du bist nichts, dein Volk ist alles." Im Grundgesetzt heißt es: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." In der katholischen Kirche hat bislang immer noch die Institution, hat die Norm, hat die Lehre das absolute Übergewicht gehabt gegenüber der Individualität des Menschen. Das ändert Franziskus jetzt in seiner Verkündigung. Der Mensch steht im Mittelpunkt, die Lehre steht im Dienst des Menschen und nicht umgekehrt. Also um es mit Jesus und dem Evangelium zu sagen: "Nicht der Mensch ist für den Sabbat da, sondern der Sabbat wieder für den Menschen."
    Florin: Und warum ist das so schwer zu erkennen, sowohl für Menschen wie Herrn Otten als auch für eher konservative Kirchenhierarchen wie Kardinal Brandmüller?
    Lüdicke: Das wäre nicht schwer zu erkennen, wenn man offen wäre für die Botschaft, die da verkündigt wird. Aber es gibt natürlich in vielen Bereichen keine Offenheit. Die konservative Linie, die erwartet, dass der Papst die alten Verbote bestätige, klagt darüber, dass der Papst die Unauflöslichkeit der Ehe in Frage stelle und aufweiche. Was nicht der Fall ist, es sei denn, man deutet das Ehe-Nichtigkeitsverfahren in seiner Reform ein bisschen in der Richtung, da könnten wir vielleicht gleich noch einmal etwas darüber sagen. Und die progressiven Vertreter der Zunft, die vom Papst mehr erwartet haben, dichten seinem Schreiben an, dass es nichts bewirke.
    Insofern konvergieren jetzt die Konservativen und die Progressiven in der Einschätzung, dass dieses Schreiben des Papstes eigentlich nichts bewirkt habe. Aber das ist nach meinem Dafürhalten eine falsche Lesart. Man muss das hier sehen vor dem Hintergrund dessen, was die Kirche bisher gelehrt hat und dann sieht man den Kontrast und dann sieht man den grundsätzlichen Wandel im Denkansatz.
    "Der Papst sieht keinen Spielraum in der Lehre"
    Florin: Herr Otten, sind Sie nicht offen?
    Otten: Na ja, ich würde sagen, dadurch, dass man nicht wiederholt, was gilt, ist das, was gilt, ja noch nicht außer Kraft gesetzt. Also wenn man zum Beispiel auf "Familiaris Constortio" (von Johannes Paul II.) schaut, dann muss man doch sagen, dass so etwas wie eine objektive Sünde nach wie vor besteht und nur dadurch, dass ich das, was gilt, einfach verschweige, schaffe ich es ja nicht aus der Welt. Also ich würde denken, eine saubere Lösung für alle Menschen, die – sagen wir mal – mit dem Problem wieder verheiratet konfrontiert sind, wäre doch eine Änderung der Lehre.
    Und gerade, wie ich es am Anfang ausgeführt habe, dadurch, dass der Papst mit dem Prozessrecht anfängt, wird meines Erachtens deutlich, dass er in der Lehre keinen Spielraum sieht. Und was wir jetzt vor uns haben, sind Einzelfallentscheidungen. Auch diese Änderungen im Prozessrecht, dass es gelten soll, dass der Bischof einzelne Fälle an sich zieht. Wenn man das doch genauer betrachtet, führt das doch dazu, dass es doch mehr Klerikalisierung gibt. Es führt meines Erachtens weniger zu Rechtssicherheit. Und das ist nicht gut für die Menschen, die davon konkret betroffen sind.
    "Grundsätzlicher Denkwandel im Bezug auf die Sexualmoral"
    Florin: Herr Lüdicke, Ihr Bonner Kollege mit einem ähnlichen Namen, Norbert Lüdecke, schreibt Franziskus solle endlich einmal klar sagen, dass er die Lehre geändert hat, dass es ihm um Reformen und eben nicht allein um Umgangsformen geht, also um etwas Substanzielles und nicht nur um etwas Atmosphärisches. Warum bleibt das alles so vage? Warum sagt Franziskus nicht klar: "Was meine Vorgänger zur Ehe geschrieben haben, ist in einigen Punkten überholt."?
    Lüdicke: Es ist nicht so, dass sich Franziskus in seinem Schreiben nicht ausdrücklich zu den Fehlern der Kirche in der Verkündigung der Vergangenheit äußerte. Davon ist durchaus die Rede, dass sie vieles falsch gemacht haben.
    Florin: Sie meinen die Stelle mit den "Felsblöcken", die auf die Menschen gefallen sind?
    Lüdicke: Zum Beispiel die, ja. Warum der Papst sich nicht ausdrücklich widerrufend äußert? Es hat vor kurzem ein Streitgespräch gegeben zwischen dem Freiburger Dogmatiker Helmut Hoping und Kardinal Kasper. Auf das hin, was Kardinal Kasper sagte zu der Interpretation von "Amoris Laetitia", wendete dann Professor Hoping ein: "Ja, dann müsste der Katechismus der katholischen Kirche geändert werden." Und darauf sagte Kardinal Kasper ganz locker: "Ja, das wäre ja nicht das erste Mal."
    Also es ist schon so, dass ein grundsätzlicher Denkwandel hier stattgefunden hat in Bezug auf die Sexualmoral. Ich mache es jetzt mal auf der kirchenrechtlichen Ebene deutlich. Der Kanon 915 im Codex (Kirchenrecht) verbietet denen, die in offenkundiger schwerer Sünde unbußfertig verharren, die Zulassung zur Eucharistie. Das ist von der kanonistischen Lehre in überwiegender Zahl so interpretiert worden, dass diejenigen, die in einem Lebensstand sich befinden, der der Morallehre der Kirche widerspricht, also letztlich im Ehebruch leben in der zweiten Ehe, nicht zugelassen werden können, weil sie offenkundig schwere Sünder sind, die ihre Situation nicht ändern wollen.
    Nun schreibt der Papst aber ganz im Gegenteil dazu: Es sei nicht möglich zu unterstellen, dass diejenigen, die in irregulären Situationen leben - und die Wiederverheiratet-Geschiedenen sind in einer solchen irregulären Situation nach bisheriger kirchlicher Terminologie - , in schwerer Sünde seien und die heiligmachende Gnade verloren hätten. Das wiederholt er zwei-, dreimal in verschiedenen Formulierungen. Das heißt, er nimmt den Kanonisten die Möglichkeit, diesen Verbotskanon 915 anzuwenden auf Menschen, die in irregulären Situationen leben. Das ist für mich schon eine Wandlung. Nicht der Norm, aber der Lesart.
    "Was uns in der konkreten Arbeit schadet, ist Unklarheit"
    Florin: Herr Otten, Sie haben ja als Pastoralreferent nicht nur mit Professoren zu tun, sondern mit der Basis, mit – ich sage mal – Katholiken, die noch zur Kirche gehen, die im Gemeindeleben aktiv sind. Wie wichtig ist es da überhaupt, was der Papst zur Ehe sagt? Ob der sagt: "Ihr seid Sünder." Oder ob er sagt: "Ihr lebt in komplexen Situationen." Interessiert das überhaupt noch jemanden?
    Otten: Es interessiert die Menschen, ob Klarheit herrscht. Ich will es mal an einem Beispiel deutlich machen. Es gibt Kollegen, die erzählen mir, dass in ihrer Pfarrei, in der sie tätig sind, Menschen nicht in den Pfarrgemeinderat gewählt werden sollen auf Anordnung des Pfarrers, bloß weil sie geschieden sind. Meines Erachtens, da kann der Herr Professor Lüdicke mich korrigieren, ist das nicht geltendes Recht. Das heißt es herrscht sehr viel Unsicherheit und Willkür und auch Menschen, die sozusagen Pfarrer vor Ort sind, haben nicht immer dieses offensichtlich kirchenrechtliche Wissen, was man braucht.
    Ich will es mal vorsichtig formulieren. Das heißt das, was uns in der konkreten Arbeit schadet, ist Unklarheit. Natürlich kommen Menschen zu mir und sagen, ich bin wieder verheiratet, geschieden oder ich bin gar nicht verheiratet oder ich bin noch nicht geschieden, aber schon mit einem neuen Partner, einer neuen Partnerin zusammen. Kann ich mein Kind überhaupt mit zur Erstkommunion schicken?
    Und wenn wir uns jetzt auf einem Feld bewegen, wo es Individuallösungen gibt, wo wir den Einzelfall betrachten, frage ich mich: Kann das dazu führen, dass jemand in der Gemeinde X, also zum Beispiel in Sankt Agnes in Köln, wo ich tätig bin, so behandelt wird, und schon fünf Kilometer weiter in der Pfarrei Sankt Y anders behandelt wird? Das ist das, was die Arbeit unglaublich erschwert, weil die Menschen, die zu mir kommen, sind auf Klarheit angewiesen. Sie wollen ordentlich behandelt werden.
    Florin: Nun hat ja der Papst, im eingespielten Beitrag aus Rom kam das vor, vor einigen Wochen so etwas salopp gesagt, na ja, die meisten Ehen, die vor dem Altar geschlossen werden, die seien sowieso ungültig, weil den Partnern gar nicht klar sei, was sie sich da eigentlich versprechen. Nämlich für immer und ewig. Was will uns denn der Papst damit sagen, Herr Lüdicke? Heißt das im Grund, die Annullierung ist eben doch die Scheidung auf Katholisch? Also der ganz leichte und etwas verschwiemelte Weg?
    Lüdicke: Seien Sie mir nicht böse, Frau Florin, wenn ich eben noch auf Herrn Otten antworten möchte.
    Florin: Selbstverständlich.
    "Das ist ein großes Risiko, was der Papst da läuft"
    Lüdicke: Das mit der Unsicherheit ist ein Problem der Anwendung in der Ebene. Es ist kein Problem des kirchlichen Rechtes. Wie Sie rechtlich richtig sagten, ein Ausschluss vom Pfarrgemeinderat und dergleichen ist nicht zu machen mit dem geltenden Recht und "Amoris Laetitia" sagt der Papst ausdrücklich, dass all die Hindernisse, die noch bestehen, nach Möglichkeit abgebaut werden sollen für die Teilnahme der Wiederverheirateten am kirchlichen Leben. Das ist also kein Problem der Norm, sondern allenfalls ein Problem der Unkenntnis der Norm.
    Jetzt aber zu der Frage, Frau Florin, hat der Papst Recht mit dieser Äußerung (zur Gültigkeit der Ehen)? Es ist nicht ganz falsch, was er sagt, denn wenn man die Statistiken betrachtet, die an unseren Gerichten mehr oder weniger geführt werden, dann ist schon ein hoher Prozentsatz der Ehen, die angefragt werden bei uns, ungültig. Die Quote derer, die bei uns für nichtig erklärt werden, liegt bei 80 Prozent. Das ist kein Schnitt für alle Ehen, sondern halt für die, die bei uns angefragt werden. Trotzdem ist die Äußerung des Papstes ein bisschen problematisch, weil die Kriteriologie dafür, wann eine Ehe für nichtig erklärt werde kann, nicht mit einer solchen generellen Einschätzung der Willenshaltung der Menschen kongruent ist.
    Also da sind andere Anforderungen zu stellen, das hat Herr Otten ja eben auch schon gesagt, dass man also in einem kirchlichen Eheprozess Zeugen beibringen soll und dergleichen. Aber auch dazu noch eine kurze Bemerkung, zu dieser Prozessrechtsreform. Herr Otten hat schon erwähnt, die pflichtgemäße zweite Instanz ist weggefallen. Das ist ein wichtiger Schritt. Es ist aber noch etwas viel Entscheidenderes passiert, nämlich dass der Papst die Möglichkeit einräumt, dass auf die Aussage der Parteien alleine hin eine Ehe für nichtig erklärt wird. Das heißt also, die Kirche ist bereit, den Ehepartnern, wenn sie einen Ehewillensmangel vortragen als Nichtigkeitsgrund, zu glauben, wenn nichts dagegen spricht, dass es richtig ist, was sie sagen. Es ist nicht erforderlich, in jedem Falle Zeugen beizubringen. Das ist ein großes Risiko, was der Papst da läuft.
    Er sagt es in dem Schreiben auch einmal kurz, dass die Unauflöslichkeiten der Ehe möglicherweise in Gefahr geraten können. Aber – und das scheint mir auch wieder ein Punkt zu sein, der charakteristisch ist für Franziskus – er ist eher bereit, sich von Menschen bemogeln zu lassen, die sich ihre Nichtigkeitserklärung erschleichen wollen, als solchen, die ehrlich vortragen, die Nichtigkeitserklärung zu verweigern. Also lieber in Kauf nehmen, dass im Einzelfalle die Ehe zu Unrecht für nichtig erklärt wird, als Menschen, die ein Recht auf die Nichtigkeitserklärung haben, diesen Erfolg zu versagen.
    Lösung durch eine "Theologie des Scheiterns"
    Florin: Mogeln dürfen, Herr Otten, ist es das, was Sie sich von einer Reform versprochen haben?
    Lüdicke: Nicht dürfen, können.
    Otten: Ich würde gerne noch einen anderen Gedanken beitragen. Für mich, ich würde einen theologischen Gedanken, glaube ich, einmal da einflechten. Für mich in meiner Verkündigung in der Pfarrei in der Erstkommunionvorbereitung, wo auch immer, ist ein Gedanke sehr, sehr zielführend, nämlich der Gedanke des Reiches Gottes. Das Reich Gottes, so glauben wir, beginnt, ist aber hier gefährdet und wird erst ganz woanders vollendet.
    Das heißt das menschliche Leben ist von Gefährdungen, von Scheitern usw. umgeben. Und ich würde mehr eine Lösung finden, wo die Kirche sich ehrlich diesen Gedanken oder diese Lebensaspekte anschaut, vielleicht mit einer Theologie des Scheiterns, die vielleicht einfach mal sagt: "Es gibt im Leben Dinge, die danebengehen und wir begleiten und betrachten das und wir zählen aber nicht nach oder wir gucken nicht zurück, was am Anfang dessen passiert ist, was da danebengegangen ist."
    Und ein zweiter Gedanke, der eher ein psychologischer Gedanke ist: Wenn Sie mit Psychologen sprechen, dann sagen die: "Es ist sehr problematisch für die Psyche eines Menschen, sozusagen das, was in einer Ehe passiert ist, nicht zu betrachten, sondern an den Anfang zurückzugehen. Denn die Psyche möchte aus dem Scheitern wieder ins Leben zurück." Und das wird, finde ich, zum Beispiel beim Ehe-Nichtigkeitsverfahren völlig außer Acht gelassen.
    Florin: Herr Lüdicke, damit ist ja eigentlich angesprochen, dass dieses Mantra "Niemand stellt die Unauflöslichkeit in Zweifel", nicht so ganz stimmt. Müsste nicht eigentlich eine theologische Diskussion über die Auslöslichkeit der Ehe losgehen oder anders gesagt, theologisch gesprochen: Wo ist Gott, wenn es schiefgeht? Große Frage mit der Bitte um eine kurze Antwort.
    Lüdicke: Die Diskussion ist uralt und läuft schon seit ewigen Zeiten, aber dass wir aus dieser Fragestellung nicht auf neue Wege kommen, hängt einfach mit der katholischen Lesart des Satzes von Jesus zusammen: "Was Gott verbunden hat, soll der Mensch nicht trennen". Solange wir daran festhalten, dass das eine Seins-Aussage sei und nicht eine Zielvorstellung, solange wird sich an dem Konzept der Unauflöslichkeit der Ehe nichts ändern.
    Und auch dann nicht an der Frage ungültig oder ungültig als Kriterium für die Möglichkeit, eine zweite Ehe einzugehen. Ansonsten sehe ich Franziskus durchaus auf dem Weg, den Herr Otten eben vorgeschlagen hat, auf die Prozesshaftigkeit des menschlichen Lebens, auf das Scheitern zu schauen und damit konstruktiv und würdigend vor allem umzugehen.
    Florin: Liebe Hörer, Sie merken, auch in dieser Sendung haben wir keine Einigkeit erzielt. Vielleicht wäre es doch besser, wenn Franziskus sich ein bisschen deutlicher ausdrücken würde, damit es auch die Nichttheologen und Nichtkirchenrechtler verstehen. Herr Lüdicke, Herr Otten, vielen Dank für das GEspräch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.