Marco Bertolaso: Der Sport war in Zeiten der Teilung ein wichtiger Schauplatz der Konkurrenz der beiden deutschen Staaten. Die DDR war zwar deutlich kleiner, wurde aber ziemlich schnell zu einer Weltmacht: bei Leichtathletik, Schwimmen und in manchen Sportarten mehr. Das hat die DDR geschafft, unter anderem mit Anlagen wie der im brandenburgischen Kienbaum. Dort - das hat der Deutschlandfunk 1990 in unserem heutigen „Dokument der Woche" berichtet -, dort gab es unter anderem eine Unterdruckkammer. Da konnte man Höhen-Trainingsbedingungen bis 4000 Meter Höhe simulieren. 4000 Meter? - Berge gab es nicht in der DDR - aber in Kienbaum. In diese Hightech-Anlage lebten und trainierten auf mehreren Etagen Sportler verschiedener Disziplinen. Unter anderem darüber möchte ich jetzt sprechen mit Professor Gunter Gebauer. Herr Gebauer, guten Tag erst mal.
Gunter Gebauer: Guten Tag.
Bertolaso: Sie sind Philosoph, Sportwissenschaftler, aber auch immer wieder im Deutschlandfunk Beobachter und Begleiter deutsch-deutscher und anderer Sportthemen. Erste Frage vielleicht, Gunter Gebauer: Wie muss man sich eine Anlage wie die in Kienbaum vorstellen?
Gebauer: Das ist ein großer Komplex. Der besteht aus einem Sport-Leistungszentrum, also mit Übernachtungsmöglichkeiten, mit Sportanlagen, überirdisch, wie man es normalerweise kennt von Leistungszentren mit den entsprechenden Bahnen und den Möglichkeiten zu trainieren, Sporthallen und so weiter. Und jetzt kommt das Besondere von Kienbaum: Es gibt eine unterirdische Anlage, in die man runterfährt, eine Art Unterdruckkammer. Das ist das Herzstück dieser ganzen Anlage unter der Erde. Eine sehr große Kammer, die atmosphärische Bedingungen herstellen kann, die bis zu 4.000 Meter Höhe, wie Sie eben ja auch sagten, herrschen. Man fährt dann so langsam hoch, erst mal auf entweder 2.500 Meter oder 3.000, 3.500 Meter, und kann dann zum Beispiel simulieren, dass man in 3.000 Meter Höhe trainiert. Das ist deswegen wichtig gewesen für die DDR, weil man wusste, dass die Bedingungen des Trainings in der Höhe leistungsfördernd sind für Leistungen in der Ebene. Das wurde groß diskutiert im Vorfeld der Olympischen Spiele von Mexiko 1968.
Vorsprung durch Technik
Bertolaso: Das hört sich ja an, was die DDR da gemacht hat in Kienbaum, wie Vorsprung durch Technik, also ein ziemlich deutsches Motto. Hat sich das denn medaillenmäßig auch ausgezahlt? Gibt es da konkrete Erfolge?
Gebauer: Ja natürlich. Zunächst einmal ist das ja der Versuch, etwas zu kompensieren, was die DDR nicht hatte, eben hohe Berge. Die westdeutschen Athleten waren in Frankreich, in Font Romeu in auch ungefähr 2000 Meter Höhe. Da gab es ein großes Leistungszentrum. Oder sie waren später dann in Flagstaff in Arizona, auch in der Höhe, oder in der Schweiz, die Ruderer, und konnten dort ihr Höhentraining unter natürlichen Bedingungen absolvieren. Das war natürlich auch ein großer Vorteil. Die DDR hat sich überlegt, sie müssten irgendetwas schaffen, um diesen Vorteil der westdeutschen beziehungsweise der Außer-DDR-Athleten - die Russen hatten ja auch die Möglichkeit, in der Höhe zu trainieren; für die DDR-Athleten war das besonders nachteilig -, das auszugleichen. Das ist natürlich jetzt sehr raffiniert, sich vorzustellen, man erzeugt eine atmosphärische Unterdruckkammer und bringt die Athleten dort rein.
Das DDR-Fördersystem
Bertolaso: Wir halten fest: Überirdisch große Erfolge durch unterirdisches Training. Das ist der technische Aspekt. - Viel wird ja auch darüber gesprochen, dass diese Erfolge, über die wir gerade eben gesprochen haben, des DDR-Sports auch mit Doping zu tun haben. Wie würden Sie diese beiden Faktoren im Vergleich sehen?
Gebauer: Ja, ich glaube, die Kienbaum-Anlage war im Wesentlichen leistungsfördernd, weil dort Bedingungen hergestellt wurden, die andere Athleten, was jetzt die Unterdruckkammer angeht, natürlicherweise hatten. Das wurde sozusagen kompensiert durch diese Technik. Hinzu kommt etwas, was andere Athleten, die zum Beispiel westdeutschen, nicht hatten: eine unglaublich intensive Betreuung, die dort da war, sehr gute Trainer, aber darüber hinaus Physiotherapeuten, Psychologen, intensivste Betreuung und Lehrer. Das heißt, da wurden dann Leute, die zum Beispiel normalerweise in die Schule gehen würden, oder eine Universität besuchen würden, die wurden weiter beschult. Die nahmen einfach sozusagen ihren ganzen Lehrkörper mit, soweit es nötig war, und konnten dann beides machen, nämlich ihre schulische Karriere, Berufsausbildung und so weiter verfolgen und 40 Stunden in der Woche trainieren. Das sind Bedingungen, die, glaube ich, kein Land der Welt jemals so zustande gebracht hat.
Bertolaso: Sie würden sagen, da ist ein ganzes Konzept, eine ganze Philosophie, auch Dinge, die man heute in Leistungszentren und Nachwuchsförderung von Proficlubs, wo es um viel Geld geht, damals bei der DDR um viel Ehre, vielleicht bei Bayern München und Chelsea um viel Geld, das sind doch ähnliche Methoden. - Aber vielleicht doch noch mal kurz zurück zu diesem Punkt Doping, der uns ja auch hier im Deutschlandfunk immer beschäftigt. Mit all dem verglichen, die Strukturen, die Technik, wie wichtig war dann noch das Doping? Hätte man darauf vielleicht sogar verzichten können, oder war es das, was entscheidende Siege gebracht hat?
Gebauer: Ja, das ist die offene Frage. Man könnte jetzt ganz einfach sagen, Doping war der Grund der Überlegenheit im Sport der DDR. Das ist ein bisschen einfach. Es gab eben auch hervorragende Trainer und extrem günstige Umfeldbedingungen, die eigentlich kein Land der Welt so günstig hat herstellen können wie die DDR. Aber Doping gehörte eben dazu, und das, was wir nicht wissen, ist: Was wäre aus den DDR-Athleten geworden, wenn sie nicht gedopt hätten? Wir wissen ja noch nicht genau, was ihre eigentliche Leistungsfähigkeit war. Das ist natürlich extrem bedauerlich. Klar ist: Es waren exzellente Athleten und obendrein wurden sie jedenfalls in den Sportarten, in denen Kraft und Ausdauer verlangt wurde - das sind ja die meisten Sportarten -, noch gedopt, und dann kommen alle Bedingungen zusammen.
Doping - auch im Westen
Bertolaso: Und dann wird man Nummer eins im Medaillenspiegel. - Aber Doping, das gab es ja auch im Westen. Das haben wir uns hier in der alten Bundesrepublik früher nicht so eingestanden. Heute kommt man aber an dieser bitteren Wahrheit nicht vorbei. Würden sie sagen, das ist jahrelang auch eine etwas heuchlerische Debatte gewesen?
Gebauer: Das, glaube ich, muss man inzwischen sagen, zu meinem großen Bedauern. Im Westen gab es auch ein gewisses Einverständnis des Staats, und das hat sich seit etwa einem, anderthalb Jahren herausgestellt aus den Dokumenten. Nun muss man allerdings die Kirche im Dorf lassen. Das heißt ja nicht, dass die ganze Staatsspitze vom Kanzler her angeordnet hat, dass man dopt in Westdeutschland. Aber man hat es zugelassen, man hat es gefördert und man hat es durch besonders hohe Leistungsnormen für die A-Kader-Athleten, die dann auf die internationalen Wettkämpfe geschickt wurden, auch forciert. Und jemand wie der damalige Innenminister Schäuble hat durchaus daran teilgenommen, hat es vor kurzem bei einer öffentlichen Veranstaltung, bei der ich dabei war, auch zurückgenommen, bedauert und gesagt, hätte man gewusst, was da rausgekommen wäre, man hätte das nicht gemacht.
Der Sport im Deutschlandfunk
Bertolaso: Zum Schluss vielleicht, Herr Gebauer, noch ein Wort von Ihnen zur Deutschlandfunk-Sportredaktion, die ja damals schon diesen Beitrag über Kienbaum, viele andere Themen, die vielleicht nicht so in dieses 1:0, Unentschieden und Tor-Tor-Muster von Sportberichterstattung passen, gemacht hat und die auch heute unter der Leitung von Astrid Rawohl viele neue sportpolitische Fragen, die man damals noch nicht kannte, anpackt. Ist das aus Ihrer Sicht was Besonderes? Ist das überhaupt noch Sport? Ist das schon Politik? Was ist das, was Sie da hören bei uns im Programm?
Gebauer: Das ist ein Mischbereich, in den auch Sport gehört. Es hat ja wenig Zweck, Sport nur als ein sportliches Event oder so zu betrachten. Das kann man, aber dann sieht man nicht, welche ungeheuren Auswirkungen und Verflechtungen der Sport heute hat, insbesondere der Sport, der vom Staat gefördert wird. Und da war nun der Deutschlandfunk als ein Sender, der im Grunde genommen ein staatlich geförderter Sender ist, in der Lage, so etwas wie eine kritische Begleitung der Sportpolitik der Bundesrepublik, der Bundesregierung und der verschiedenen Sportinstitutionen zu machen, immer einerseits mit einem Verständnis für den Spitzensport, aber andererseits auch kritisch auf die Hintergründe schauend und die politischen Implikationen, die so ein Sport eben hat, die Finanzierung und die Rolle von Spitzensportlern und so weiter, das alles immer mit bedenkend. Das ist in Deutschland eigentlich nahezu einzigartig immer gewesen bis heute. Ich würde sagen, da kommt vielleicht noch die „FAZ" mit mit dem Sportchef Anno Hecker, der nun aber auch mit Herbert Fischer-Solms, der diesen Bericht schon sehr früh ...
Bertolaso: ... langjähriger großer Sportredakteur beim Deutschlandfunk...
Gebauer: ... ja, von dem auch sehr stark beeinflusst ist. Und ich glaube, das ist ungeheuer notwendig für die deutsche Sportlandschaft.
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