Christoph Heinemann: Die nationale Volksarmee durfte nicht mitmachen, sehr zum Leitwesen von Walter Ulbricht und den anderen Machthabern in der DDR, die besonders nervös auf die Vorgänge in der Tschechoslowakei blickten. Die sowjetische Führung hielt es für keine gute Idee, dass rund 20 Jahre nach Ende des Krieges Soldaten in deutschen Uniformen die Freiheitsbewegung in der CSSR unterdrücken würden. Das besorgten die anderen sogenannten Brudervölker. Vor 50 Jahren beendeten eine halbe Million Soldaten aus der Sowjetunion, aus Polen, Ungarn und Bulgarien den Prager Frühling und das Experiment des KP-Chefs Alexander Dubček. Heute trägt ein Platz in Bratislava seinen Namen. Zu dessen Unterstützern gehörten unter vielen anderen die Schriftsteller Václav Havel und Pavel Kohout. Professor Martin Schulze Wessel lehrt Geschichte Ost- und Südosteuropas an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehört die tschechische Geschichte. Ich habe ihn vor dieser Sendung gefragt, was die Reformer wollten.
Martin Schulze Wessel: Das ist gar nicht so einfach zu sagen. Die Reformer sind, als der Machtwechsel im Januar 1968 stattfand, nicht mit einem Masterplan an die Öffentlichkeit getreten, sondern die Reform hat sich als ein Komplex ganz verschiedener Maßnahmen im Laufe des Jahres 1968 entwickelt. Ein wichtiger Teil waren die Wirtschaftsreformen, ein anderer Aspekt waren die Reformen im Bereich von Staat und Recht, und ganz wesentlich war die Aufhebung der Zensur, also die Einführung von Meinungsfreiheit.
Heinemann: Ging es auch darum, den Sozialismus abzuschaffen?
Schulze Wessel: Nein, eindeutig nein. Die Reformer waren ja Kommunisten, das heißt, es ging nicht um eine antikommunistische Bewegung oder gar einen Aufstand, sondern um eine Reform, die im Herzen der Partei begann und die sich auch in einem Parteidokument, im sogenannten Aktionsprogramm der kommunistischen Partei der Tschechoslowakei im April 1968 zuerst niederschlug.
"In der Tschechoslowakei gab es viel Sympathien für die Kommunistische Partei"
Heinemann: Das Ende ist bekannt, warum klappte Sozialismus mit menschlichem Antlitz nicht?
Schulze Wessel: Kommunismus mit menschlichem Antlitz oder Sozialismus mit menschlichem Antlitz ist ja eine sehr vage und schillernde Formel – was war damit eigentlich gemeint? Es war eine Formel, die deutlich machte, dass man einen Schnitt wollte zu der alten stalinistischen Zeit, zu dem dogmatischen Sozialismus. Implizit wurde damit auch angedeutet, dass es um einen Unterschied zur Sowjetunion gehen sollte, zum sowjetischen Modell des Kommunismus. Es klappte letztlich nicht, weil in der Sowjetunion und in der Tschechoslowakei unterschiedliche Vorstellungen über verschiedene Modelle von Sozialismus bestanden. Aus Moskauer Sicht war es unverzichtbar, dass die Kommunistische Partei ihre führende Rolle behauptete, und das notfalls auch mit undemokratischen Mitteln.
Heinemann: Nun gab es ja Vorgänger – worin unterschied sich der Prager Frühling vom Volksaufstand in Ungarn 1956 und dem in der DDR drei Jahre zuvor?
Schulze Wessel: Gerade in Ungarn, aber auch in Polen war die Ausgangssituation eine ganz andere. Es gab eine Spaltung der Gesellschaft vor der Machtübernahme der Kommunisten, also eine starke antikommunistische Öffentlichkeit auch, die dann überwältigt wurde durch die kommunistische Machtübernahme. Demgegenüber gab es in der Tschechoslowakei viel Sympathien für die Kommunistische Partei. Die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei war die einzige KP, die in Wahlen als Sieger hervorging - das unterschied sie im Übrigen auch von den Kommunisten in der DDR.
"Der Prager Frühling war kein Aufstand"
Heinemann: Und im Ablauf?
Schulze Wessel: Naja, der Prager Frühling war kein Aufstand, das ist eigentlich der Unterschied. Die ungarische Entwicklung führte ja zu einer bewaffneten Auseinandersetzung, in der sich zwei Lager gegenüberstanden. Der Prager Frühling führte dazu, dass das Volk im Laufe der Zeit eigentlich immer mehr geeint hinter den Reformen stand und am Ende nur eine äußere Intervention das Ende der Reformen besiegelte.
Heinemann: Die Kommunisten in der Slowakei waren weiter als die in Prag, also reformorientierter. War der Prager Frühling eigentlich eher ein Pressburger Frühling, ein Frühling von Bratislava?
Schulze Wessel: Ja, das wird in jüngerer Zeit öfter diskutiert. Ich meine, dass man diese Frage eher für 1963 so stellen könnte. 1963 war es in der Tat so, dass in Pressburg oder in Bratislava größere kulturelle Freiheit herrschte als in Prag. Im Prager Frühling selbst, also 1968, war es so, dass die Kräfte in Bratislava eine Föderalisierung wollten, aber nicht konsequente Demokraten waren, wie die Reformer in Prag es mehr und mehr wurden. Also ich würde nach wie vor dabei bleiben, den Prager Frühling zu einem Prager Frühling zu erklären, weil die Hauptbühne eben doch in Prag war und die Tschechen vor allen Dingen die Demokratisierung als vorrangiges Ziel verfolgten, während die Slowaken die Föderalisierung der Tschechoslowakei als vorrangiges Ziel verfolgten. Wenn ich sage die Slowaken, dann sind damit die politisch maßgeblichen Kräfte in der Partei gemeint.
"Die Reformen kamen ja aus der Partei selbst"
Heinemann: Wie haben sich die Dissidenten organisiert?
Schulze Wessel: In der Zeit kann man eigentlich nicht von Dissidenten sprechen. Also die Reformen kamen ja aus der Partei selbst, und es wurden dann immer größere Teile der Bevölkerung mitgezogen. Das Bemerkenswerte war, dass Kulturschaffende, also Literaten oder Künstler, die der Partei manchmal distanziert - auch nicht durchweg, aber teilweise distanziert - gegenüberstanden, dass die mit dem Machtantritt von Dubcek so nach zwei, drei, vier, fünf Wochen den Eindruck hatten, diesmal ist es ernst gemeint, diesmal gibt es eine Chance der Demokratisierung, der politischen Reform, und sich dann anschlossen. Dieses Phänomen des Dissidenten ist eigentlich etwas, was mit dem Scheitern des Prager Frühlings entstanden ist. Da war es dann so, dass sich autonomes Denken eigentlich nur noch in scharfer Opposition zur Kommunistischen Partei entfalten konnte.
Heinemann: Wie wirkte sich die Niederschlagung des Prager Frühlings auf Westeuropa aus?
Schulze Wessel: Ja, es war eine grundstürzende Zäsur, kann man sagen. Mit der Niederschlagung des Prager Frühlings hatte der Kommunismus seine Utopie verloren. Die Verheißung des Prager Frühlings war ja in der Tat, dass ein Sozialismus mit menschlichem Antlitz möglich sei, also die Zusammenführung von Demokratie und Sozialismus, die Überbrückung der Gegensätze zwischen Planwirtschaft und Kapitalismus. Das war mit der Niederschlagung des Prager Frühlings als Option ausgeräumt, und damit verlor natürlich der Kommunismus im westlichen Europa sehr viel an Attraktivität, und das war vor allen Dingen in Frankreich und in Italien folgenreich, wo es ja starke kommunistische Parteien gab.
"In der Perestroika sind seit 1986 ganz ähnliche Dinge probiert worden"
Heinemann: Stand der Prager Frühling beim Sturz der sozialistischen Regime 1989 Pate?
Schulze Wessel: Nicht direkt. Also er stand Pate bei der Perestroika Michail Gorbatschows. Man kann sagen, dass in der Perestroika seit 1986 ganz ähnliche Dinge probiert worden sind wie im Prager Frühling. Also auch in der Perestroika ging es zunächst einmal um eine Wirtschaftsreform, auch in der Perestroika war das Ziel einer diffus gesehenen Demokratisierung wichtig, und auch in der Perestroika bemächtigte sich am Ende die Öffentlichkeit des Reformprojektes. Also da gibt es große Parallelen, und natürlich kann man sagen, dass die Perestroika neben der polnischen Solidarnosc-Bewegung dann eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung im Jahre 1989 geschaffen hat, und daher hängt dann in der Tat der Prager Frühling mit 1989 zusammen.
Heinemann: 2015, das heißt vor drei Jahren, sendete das russische Staatsfernsehen eine Dokumentation, in der der Prager Frühling als Putschversuch verurteilter ehemaliger Nazis, SS-Leute und Kollaborateure dargestellt wurde. Herrscht in Russland bis heute der Standpunkt von 1968 vor?
Schulze Wessel: Na ja, das war eine Fernsehsendung, die aber durchaus die offizielle Sichtweise auf den Prager Frühling widerspiegelt, die im Übrigen genau der Position entspricht, die das sogenannte Normalisierungsregime, also das tschechoslowakische Regime nach 1968 eingenommen hat. In dieser Haltung gegenüber dem Prager Frühling spiegelt sich die Angst vor der Ansteckung durch Freiheit wider, und eine ähnliche Situation hat man ja im Grunde heute in der Ukraine, im ukrainisch-russischen Verhältnis. Dass Russland so entschieden gegen die Ukraine vorgeht, hat seinen tiefsten Grund darin, dass man eine Demokratiebewegung auch in Russland befürchtet.
"Politik kann mit Beteiligung der Bürger tatsächlich gestaltet werden"
Heinemann: Demokratisierungsfurcht, insofern ist 1968 bis heute aktuell in Russland?
Schulze Wessel: Ja, sehr wohl. Der Prager Frühling hat viele aktuelle Aspekte. Dieser Aspekt eben über die Verbindung zur Ukraine ist ein Aspekt, weshalb uns der Prager Frühling heute interessieren sollte. Ein anderer Aspekt ist die große Gestaltbarkeit von Politik, die uns im Prager Frühling entgegentritt. Heute ist Ostmitteleuropa ja eher durch populistische Regime gekennzeichnet, die für sich in Anspruch nehmen, dass es eine Notwendigkeit zu einer ganz bestimmten, eben populistischen Politik gibt. Die Erinnerung an den Prager Frühling macht deutlich, dass Politik in verschiedene Richtungen gestaltbar ist, dass es immer Alternativen gibt und Politik eben mit Beteiligung der Bürger tatsächlich gestaltet werden kann.
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