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"Der Prozess" als Schreibprozess

Es ist einer der berühmtesten Romane der Moderne: Der "Prozess" von Franz Kafka. Das erhaltene Manuskript widerlegt jede Vorstellung, dass ein Roman linear entsteht. Im Deutschen Literaturarchiv wird es nun erstmals Blatt für Blatt ausgestellt.

Von Christian Gampert |
    Franz Kafka hat den "Process" nicht wirklich wie einen Roman konzipiert, und wahrscheinlich hat Kafka auch nie wie ein Schriftsteller gearbeitet. Das Schreiben war ihm Existenzform, er wohnte im Schreiben – und das ist etwas ganz anderes als die uns bekannten strategiegesteuerten Formen literarischer Produktion.

    Auf solche Gedanken kommt man unschwer, wenn man die jetzt im "Marbacher Literaturmuseum der Moderne" ausgestellte vollständige Handschrift von Kafkas "Process" betrachtet. Das Manuskript ist auf mehrere Quarthefte verteilt, in denen Kafka freilich auch noch ganz anderes notiert hat – Anfänge anderer Erzählungen, Ideen, es gibt auch tagebuchartige Einträge. An mehreren Kapiteln arbeitet Kafka offenbar gleichzeitig, er dreht die Quarthefte auch mal um und schreibt quasi auf dem Kopf weiter, sodass zwei verschiedene Texte aufeinander zulaufen. Von außen könnte man sagen, das sei ein rechtes Durcheinander, aber es gibt natürlich eine innere Ordnung, nach der einer das so und genauso zu Papier bringen wollte und müsste. Man sollte sich aber hüten, das alles nur psychoanalytisch zu deuten – natürlich ist das auch puppenspielhaft verkleidetes Seelenleben, aber es hat hohen Kunstanspruch, es ist literarisches Probierhandeln; und jeder, der schreibt, weiß, dass der erste spontane Entwurf oft der beste ist - oder er ist eben nichts und gehört verworfen. Oder stark redigiert.

    In diesem Zwiespalt befand sich offenbar auch Kafka: Ihm war nicht klar, ob dieser in vielen nebeneinander existierenden Kapiteln sich quasi statisch aufladende Roman nun genial oder einfach gar nichts war. Natürlich spiegelt das auch etwas über Kafkas Selbstwahrnehmung. Rund sechs Monate hat er an dem Process-Fragment gearbeitet, interessanterweise setzt die Produktion fast auf den Tag mit Beginn des Ersten Weltkriegs ein: während draußen der reale Krieg mit seinen neuen Waffentechnologien tobte, die Granateneinschläge traumatisierten eine ganze Generation, führte Kafka einen Krieg gegen sich selbst, der leise und bizarr daherkam und, ihm selber weitgehend wohl unbewusst, die Situation der verwalteten Moderne auf den Punkt brachte.

    Wir können also einen Schreibprozess beobachten, in allen Details, mit wichtigen Veränderungen, Streichungen, Korrekturen, vom ersten Satz "Jemand musste Josef K. verläumdet haben" (mit ä-u) bis zum finalen "und es war, als sollte die Scham ihn überleben". Das Schreiben ist der Prozess, den Kafka gegen sich selber führte. Aber nicht nur dieses Gekritzel, wie Kafka es nannte, ist angesichts heutiger digitaler Datenmengen ein fast rührend altmodischer Kampf eines Einzelnen mit sich, dem Papier und der Übermacht der strafenden Welt; wichtiger noch ist, und das zeigt die Ausstellung, was danach passierte: Kafka schnitt die Seiten aus den Quartheften heraus und bündelte einzelne Sinnabschnitte mit Umschlägen und Deckblättern zu insgesamt 16 Konvoluten. Dabei kamen manch andere Entwürfe unter die Räder, sie blieben Randnotiz oder wurden zum Einwickeln gebraucht. Aber immerhin unternahm der Jurist Kafka, bevor er alles verbrennen wollte, noch einen Versuch, das Ganze zu ordnen.

    Max Brod, der sich Kafkas Selbstvernichtungswünschen widersetzte, hat den Roman bekanntlich 1925 ediert und dabei seine eigene Ordnung vorgegeben, die lange als maßgeblich galt. Diese verschiedenen Stadien – Quartheft, Konvolut, erste Veröffentlichung – sind in der Ausstellung durch Paginierungen unter den Blättern kenntlich gemacht. Außerdem wird schon im Vorraum auf verschiedene Editionen hingewiesen, vor allem liegt die von Roland Reuß und Peter Staengle herausgegebene historisch-kritische Ausgabe des Stroemfeld-Verlags aus. Handverlesene Gegenwartsautoren untersuchen im Katalog Textstellen und ihr Verhältnis zu Kafka – so stellt Wilhelm Genazino die Frage, "warum sich so viele Leser in Kafkas Fremdheit heimisch fühlen". David Wellbery will "Kafkas Prosa als Musik empfinden lernen". Anselm Kiefer steuert eine kohlegeschwärzte Fotografie mit einem zangenartigen Metallobjekt bei; sie zeigt einen betonierten Orkus, den Weg ins Nirgendwo. Bei allen möglichen Anordnungen, die man mit Kafkas Kapiteln vornehmen kann, wird in dieser Ausstellung eines klar: Alles existiert nebeneinander. Dieser Roman hat keine Dramaturgie – und wahrscheinlich hat auch die Moderne keine. Und vielleicht ist genau das ihr Drama.