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Der Putsch, der nie stattfand

Antonio Munoz Molina gehört zu den bedeutendsten spanischen Schriftstellern der jüngeren Generation. Er ist 1956 in Andalusien, in der einstigen, an historischen Zeugnissen reichen maurischen Festungsstadt Ubeda, geboren und kommt aus der Unterschicht, dem sogenannten Volk. Sein Vater ist Gemüsehändler. Für sein Oeuvre - darunter die in deutschen Übersetzungen vorliegenden Romane "Beatus ille", "Der Winter in Lissabon", und "Der polnische Reiter" -, wurde Munoz Molina zweimal mit dem Spanischen Nationalpreis für erzählende Prosa ausgezeichnet, was die große Ausnahme ist. Mit "Der polnische Reiter" gewann er zudem den hochdotierten kommerziellen "Premio Planeta". 1995 wurde er - eingedenk seines Alters wiederum die große Ausnahme -, in die Königlich Spanische Akademie für Sprache und Dichtung gewählt.

Rosemarie Bollinger | 05.08.1998
    Sein Generalthema ist die "Memoria", das Gedächtnis, die Erinnerung. Antonio Munoz Molina schreibt gegen den Zeitgeist; stellt sich der Geschichtslosigkeit entgegen, dem individuellen und kollektiven Verdrängen, dem Vergessen. Der jetzt unter dem deutschen Titel "Der Putsch, der nie stattfand" in der überragenden Übertragung von Willi Zurbrüggen erschienene Roman bildet keine Ausnahme. Obwohl er, gemessen an "Beatus ille", Munoz Molinas Erstling, und "Der polnische Reiter", seinem Opus magnum, die beide auch in den Erzähl- und Kompositionsstrukturen große, komplexe Sprachwerke sind, in diesem Buch eine einfache Geschichte relativ geradlinig erzählt. Das 1994 edierte Original ist hintersinnig, Ton und Inhalt treffend, mit "El dueno del secreto" ("Der Besitzer des Geheimnisses") überschrieben. Das Ganze ist ein melancholisches Divertimento, und der Ich-erzählende Geheimnisbesitzer ein Würstchen. Ein sympathisches Würstchen.

    Hauptschauplatz der Handlung ist Madrid. Die Kernzeit das Jahr 1974; die bleierne Zeit, zwei Jahre bevor die spanische Diktatur im November 1975 mit dem Tod Francos ein sozusagen biologisches Ende fand. Eine Epoche, die der Autor zumeist, aber nicht durchgehend, ironisiert und in einer Weise heraufbeschwört, daß man vollständig vergißt, daß der Held, der ein paar autobiographische Züge abbekommen haben dürfte, die Geschichte zwanzig Jahre danach, 1993/94 auf die Ereignisse zurückblickend, erzählt. Dabei steht der Putsch zum Sturz Francos zwar im Mittelpunkt. Aber als Drama, nicht als fiktives oder historisches Faktum; obwohl in dem mehrfach als Haupt der Verschwörung genannten "General D**" mühelos der sehr verehrte, mittlerweile verstorbene General Diez Alegria wiederzuerkennen ist. Der Besitzer des Geheimnisses, eben des Wissens um die Verschwörung, hält dies Geheimnis wie eine wunderschöne, beängstigend schwere opake Kugel in den Händen. Er weiß, daß es existiert. Viel mehr nicht.

    1974. Er ist achtzehn, und mit seinem kostbarsten Besitz, einer Reiseschreibmaschine, nach Madrid gekommen. Um ein berühmter Journalist zu werden. Der Leser lernt ihn von seiner besten Seite kennen. In einem Augenblick, in dem er sich neidlos, ganz benommen vor Glück, an der im Nachbarland Portugal, stattfindenden Revolution, der "Revolution der Nelken", begeistert; der Tatsache,daß dort das Militär die Demokratie bringt, anstatt sie zu vernichten, wie wenige Monate zuvor, im September 1973, in Chile. Ansonsten geht es ihm nicht besonders gut. Er teilt sich ein Pensionszimmer mit seinem Freund aus dem Dorf, einem verbohrten Maoisten, der Automechaniker ist. Kommt mit dem Studium nicht zurecht. Kein Geld, viel Hunger. Dazu eine böse Charakterschwäche, die er fast sofort dem Leser, nicht aber der richtigen und wichtigsten Romanperson - Ataúlfo Ramiro Retamar - offenbart.

    Die Charakterschwäche besteht in der absoluten Unfähigkeit des Helden, ein Geheimnis für sich zu behalten, die korrespondierende physische ist eine Blasenschwäche. Wer möchte, darf sich der klassischen Frage konfrontieren, was zuerst war: das Huhn oder das Ei. Während durch die Beichte der fatale Ausgang der Geschichte von vorneherein klar ist. Ebenso, daß der Held in den unpassendsten und gefährlichsten Situationen aufs Klo muß: Eine gefährliche erzählerische Gratwanderung, die Munoz Molina, ohne in den Nachttopfhumor abzurutschen, meistert.

    Darin, daß er gleich zu Beginn jene Elemente, mit denen er Spannung erzeugen könnte, sorgfältig vor dem Leser ausbreitet, um sie anschließend beiseite zu schieben und ihn auf andere Weise zu fesseln, liegt das literarische Kunststück dieses Romans. In dem es Höhepunkte gibt, wie zum Beispiel die beklemmende Beschreibung einer brutal zerschlagenen Studentendemonstration; oder durch die Art, wie die Hinrichtung des jungen Anarchisten Pulg Antich aus dem Kontext hervorgehoben wird. Im Herzen des Buchs steht jedoch die sehr differenziert und liebevoll gezeichnete Gestalt des eigentlichen Protagonisten, der zweifellos ein reales Urbild zugrunde liegt. Ataúlfo Ramiro Retamar, der den Ich-Erzähler sporadisch als Schreibkraft engagiert und dessen Idol wird, ist ein offensichtlich gefragter Notar, und ein Bonvivant aus Neigung und/oder zur Tarnung, die er dringend benötigt als Generalsekretär der F.A.I., der seinerzeit clandestinen Föderation Iberischer Anarchisten.

    Es ist nicht zu erklären, wieso. Doch die Gestalt Ataúlfos wirkt, als würfe sie einen Schatten. Einen Schatten, in dem man deutlich Don Quijote wiederzuerkennen glaubt. Während der Ich-Erzähler in derselben diffusen und zugleich klaren Weise nicht Sancho Panza evoziert, sondern - literarisches Pendant zur Portugiesischen Revolution - einen unvergeßbaren Romantypus im Werk des großen, scharfsichtigen, im Jahr 1900 gestorbenen portugiesischen Realisten Eca de Queiroz.