Archiv


Der Raub der Sabinerinnen

Als Student hat Gymnasialprofessor Gollwitz eine Römertragödie über den "Raub der Sabinerinnen" geschrieben. Das Vergessen hat gnädig seinen Mantel darüber gebreitet. Doch Jugendsünden holen einen häufig ein und so tritt Theaterdirektor Striese eines Tages an Gollwitz heran und überredet ihn, ihm das Stück für eine Aufführung anonym zu überlassen. So die Grundkonstellation, aus der Franz und Paul von Schönthan einen Schwank gemacht haben.

Von Hartmut Krug | 01.01.2007
    Seit das Potsdamer Hans Otto Theater am 22. September sein neues Haus an der Havel eröffnet hat, kann es eine Auslastung von 98 Prozent vermelden. Dieser Publikumsansturm ist nicht nur dem attraktiven neuen Theaterbau geschuldet, sondern auch einer Spielplanpolitik von Intendant Uwe Eric Laufenberg, der für nahezu jede Inszenierung einen ost- oder gesamtdeutschen Star hinzu engagiert. Nach Angelica Domröse, Katja Riemann, Dieter Mann, Desirée Nick und Christine Schorn war Katharina Thalbach wieder an der Reihe, die in Potsdam bereits als Fontanes "Frau Jenny Treibel" für "Ausverkauft"-Schilder sorgt.

    Nur knapp drei Wochen nach ihrer "Hänsel und Gretel"-Inszenierung an der Dresdener Semperoper brachte sie in Potsdam den Schwank der Brüder Franz und Paul von Schönthan "Der Raub der Sabinerinnen auf die Bühne", wobei sie selbst nicht nur die zentrale Rolle des Theaterdirektors Striese, sondern auch noch die seiner Frau spielte. Was am Volkstheater Rostock, wo Katharina Thalbach dieses Stück bereits vor drei Jahren inszenierte, noch wegen eines kurz vor der Premiere erkrankten Darstellers umjubelter Notbehelf war, wurde jetzt zur bewussten Erfolgsspekulation, die voll aufging. Wobei der Kritiker, der bereits die Inszenierung in Rostock gesehen hat, ein wahres Déjà-vu-Erlebnis vermelden muss: die Potsdamer Inszenierung war ein reines Remake der Rostocker. Nicht nur das Bühnenbild von Jenny Schall, das einen düster-repräsentativen bürgerlichen Salon wie aus der Entstehungszeit des 1884 in Stettin aufgeführten Stückes zeigt, sondern die gesamte Inszenierung, bis hin zur kleinsten Geste, hatte die Regisseurin übernommen. Das erstaunliche aber war: dennoch wirkte die Potsdamer Inszenierung völlig anders. Das war nicht mehr wie in Rostock derbes Radautheater der lauten Töne und allzu äußerlichen Gesten. Denn die wirklich vorzüglichen Potsdamer Schauspieler suchten ihre Figuren, die von der Regisseurin nur als uns heute nichts mehr erzählende historische Stereotypen angelegt waren, mit psychologischer Genauigkeit zu unterfüttern. Was dem ersten Teil des Abends allerdings, in dem die Regisseurin die übereinander stürzenden Verwicklungen in der Familie eines Gymnasialprofessors ohne Gespür für timing nur bräsig behäbig ausmalt, fast alle Komik nimmt. Erst nach der Pause konnte man ansatzweise Alfred Kerr verstehen, der über eine Inszenierung 1917 schrieb: "Die Leute lagen unter dem Stuhl. Ich auch." Sicher konnte man nicht erwarten, dass die Regisseurin Katharina Thalbach eine Phänomenologie und Parodie des Schwanks liefern würde, wie es Frank Castorf einmal bei seiner Inszenierung von "Pension Schöller" getan hat. Doch dass sie den Schwank nur als Parade teils abgestandener, teils zeitlos effektsicher Witze bot, wozu ein Kakadu mit ihrer eigenen Stimme und ein Stuhl gehörten, der bei den einen zusammenbrach, bei den anderen nicht, war schon enttäuschend.

    Wenn im Stück der Schauspieldirektor Striese als Verkörperung des leidenschaftlichen und pragmatischen Theaterdirektors das Römerdrama eines Professors auf die Bühne bringt, bedeutete das zur Entstehungszeit des Stückes für den Professor mit diesem Schritt vom sittsamen Wege die Erfüllung einer unziemlichen Sehnsucht. Weshalb eine Katastrophenmechanik in Gang kommt, die allerdings 'natürlich' niemandem wehtut. Am Ende geht alles gut aus, denn nichts wurde ernsthaft in Frage gestellt. Wie man, und hier stimmt das altbackene Wort genau, die "vergnüglichen" Karikaturen der Mann-Frau-Rollenzuweisungen des 19.Jahrhunderts des Stückes mit ihren Sittlichkeits-Geboten und erotischen Verboten für heute interessant machen könnte, beantwortet diese im vorkritischen Biedermanns-Stil daherkommende Inszenierung keinen Augenblick. Dabei schreit gerade die Figur des ans unbedingte Primat des Publikumserfolges glaubenden Theaterdirektors Striese nach einer Aktualisierung, weil er von einem Theater erzählt, das heute bei der Fernsehsoap zu Hause ist.

    Allerdings muss ich gestehen, trotz aller Versimpelung und Hauruck-Komik dieser Inszenierung: wie die tonnendick ausgestopfte Katharina Thalbach als Theaterdirektor über die Bühne tänzelt, mit ihrer Reibeisenstimme die Pointen setzt und die Augen unterm Zwirbelbart blitzen lässt, das hat mich zwar nicht unter den Stuhl befördert, aber doch öfter herzlich lachen lassen. Aber natürlich mit schlechtem Gewissen, oder, um Fritz Kortner zu zitieren, leider "unter meinem Niveau".