Können so viele Kritiker, Juroren, Leser irren? Norwegen jedenfalls ist offenbar in kollektive Euphorie verfallen über einen Autor, der in sechs Bänden sein eigenes Leben zu Literatur gemacht hat. Karl Ove Knausgard, Jahrgang 1968, also gerade Anfang 40, studierter Kunsthistoriker, in zweiter Ehe verheiratet, drei Kinder, Verfasser von inzwischen acht Büchern: Ein Wundermann, ein norwegischer Proust, der für seine Hexalogie, seinen Lebens-Sechsbänder, große Literaturpreise erhalten hat, monatelang auf der Bestsellerliste stand und heftig diskutiert wurde. Die Begeisterung hat auch den Luchterhand Verlag angesteckt, der unter dem Titel "Sterben" jetzt den ersten Band des Knausgardschen Lebensprojekts auf deutsch vorlegt. Weitere sollen folgen.
Der Originaltitel - "Min Kamp" - war natürlich tabu, und ums Sterben geht es durchaus in diesem Buch. Der da stirbt, ist der Vater des Helden, Erzählers, Autors - alles ist ja eins bei Karl Ove Knausgard. Genau das ist der Reiz seines Unternehmens, die Provokation und auch das Problem. Der Reiz: Dem Leser wird suggeriert, hier werde endlich einmal geradeaus und ungeschönt die volle Wahrheit ausgebreitet, würden noch die letzten Geheimnisse ausgeplaudert, hier dürfe er nun wirklich mal alle Vorhänge wegziehen, hinter alle Kulissen schauen. Der Reiz des Voyeurismus also.
Die Provokation besteht, zumindest wohl für das nordische Publikum, im dargebotenen Stoff, nämlich dem katastrophalen Verhältnis Knausgards zu seinem Vater, einem offenbar kalten, autoritären und egoistischen Charakter, der seine Kinder nicht liebte, sondern kontrollierte, dessen eigenes Leben aber, als diese erwachsen wurden, vor die Hunde ging: Er verlor seine Frau, dann seine neue Freundin, seine Arbeit, seine Wohnung, zog zu seiner alten, schon leicht senilen Mutter und soff sich dort zu Tode.
Die vollgeschissene, vermüllte, stinkende, schimmelnde, faulende Umgebung seiner letzten Jahre, mitsamt einer darin herumirrenden, dementen und vom Alkoholismus angesteckten Großmutter breitet Knausgard in für den Leser quälend langen, für ihn offenbar masochistisch genüsslichen Beschreibungen aus. Dass dies in Skandinavien, einer Region mit einer Tradition des Unter-dem-Deckel-Haltens und deckelhebender Künstler von Strindberg bis Bergmann und Enquist, einen Nerv trifft, ist nachvollziehbar.
Das Problem des Unternehmens ist allerdings, dass aus Stoff nicht von selbst Literatur wird und, um mit Goethe zu sprechen: Getretener Brei wird breit, nicht stark. Knausgard erscheint in seinem Roman als Person in verschiedenen Lebensaltern; als Sechsjähriger, als 16-jähriger, als Dreißig- und als 39-Jähriger. Zwischen diesen Inkarnationen des eigenen Ichs entwickelt sich aber keinerlei Spannung; alle treten mit derselben Direktheit auf, als gäbe es zwischen einem schreibenden und einem geschriebenen Ich keinerlei Unterschied. Weder zieht der erwachsene Autor dem jugendlichen Alter Ego einen zweiten reflektierenden Boden ein, noch vermag die Vergegenwärtigung der Kindheit jenen Zauber zu beschwören, von dem das Werk Marcel Prousts lebt.
Das ist natürlich ein unfairer Vergleich, den ich auch nie ziehen würde, wenn Knausgard dies nicht selbst regelrecht erzwänge: Nicht nur zitiert er den Franzosen als großes Vorbild, dessen Werk er regelrecht verschlungen habe; er spielt auch ganz bewusst auf die Konstruktion von Prousts "Recherche" an.
In der Mitte des Buches fällt ihm, in seinem Arbeitszimmer sitzend, auf, dass die Astlöcher im Holzfußboden sich zum Bild eines Christuskopfes mit Dornenkrone formen. Dies erinnert ihn an einen Moment in seiner Kindheit, als er im Meer ein Gesicht zu sehen glaubte. "Mit den Bildern", schreibt Knausgard nun, "stellte sich auch die Stimmung von damals ein, des Frühlings, der Siedlung, der siebziger Jahre, des Lebens in unserer Familie, wie es sich damals gestaltete." Das ist ein Remake der berühmten Madeleine-Episode, aber die Behauptung wird nicht eingelöst und zeigt schon in der Formulierung selbst, mit dem unbeholfen nachklappernden "wie es sich damals gestaltete", wie blass der Norweger neben dem Franzosen dasteht.
Bemerkenswert in dem Roman "Sterben" sind allenfalls die Passagen, die sich mit den üblichen Nöten eines 16-Jährigen befassen. Sowas liest man ja immer gern, vor allem wenn die eigenen Pubertäts-Nöte entsprechend weit zurückliegen, als da sind: Wer bin ich eigentlich; was ist mein Status in der Clique; wie komme ich an Mädchen ran?
Knausgard kann mit etlichen schönen Detailbeobachtungen aufwarten, vor allem, was die feinen Unterschiede zwischen Peer-Groups und innerhalb von Peer-Groups angeht. Höhepunkt - oder vielmehr ein recht flachgewalzter Höhenzug - der Jugendgeschichte ist die Silvesterparty beim Jahreswechsel 1984/85, bei der fast die gesamte Energie des Helden dabei draufgeht, möglichst viel Bier zu kaufen und zum Ort des geplanten Besäufnisses zu bringen; beides war damals für einen 16-Jährigen streng verboten und der Vater, der sich zwar für seinen Sohn nicht die Bohne interessierte, hatte, wie Knausgard schreibt, "wenn es um Regelverstöße ging, einen sechsten Sinn". Es gelingt dem Jungen aber, die Biertüten an allen Aufpassern vorbeizuschleusen und sich den Inhalt recht hastig hinter die Binde zu gießen. Berauscht ist allerdings nur der Held, vielleicht auch der Autor; der Leser bleibt literarisch auf dem Trockenen.
Karl Ove Knausgard: "Sterben". Roman. Aus dem Norwegischen von Paul Berf. Luchterhand, München 2011. 576 Seiten, 22,99 Euro.
Der Originaltitel - "Min Kamp" - war natürlich tabu, und ums Sterben geht es durchaus in diesem Buch. Der da stirbt, ist der Vater des Helden, Erzählers, Autors - alles ist ja eins bei Karl Ove Knausgard. Genau das ist der Reiz seines Unternehmens, die Provokation und auch das Problem. Der Reiz: Dem Leser wird suggeriert, hier werde endlich einmal geradeaus und ungeschönt die volle Wahrheit ausgebreitet, würden noch die letzten Geheimnisse ausgeplaudert, hier dürfe er nun wirklich mal alle Vorhänge wegziehen, hinter alle Kulissen schauen. Der Reiz des Voyeurismus also.
Die Provokation besteht, zumindest wohl für das nordische Publikum, im dargebotenen Stoff, nämlich dem katastrophalen Verhältnis Knausgards zu seinem Vater, einem offenbar kalten, autoritären und egoistischen Charakter, der seine Kinder nicht liebte, sondern kontrollierte, dessen eigenes Leben aber, als diese erwachsen wurden, vor die Hunde ging: Er verlor seine Frau, dann seine neue Freundin, seine Arbeit, seine Wohnung, zog zu seiner alten, schon leicht senilen Mutter und soff sich dort zu Tode.
Die vollgeschissene, vermüllte, stinkende, schimmelnde, faulende Umgebung seiner letzten Jahre, mitsamt einer darin herumirrenden, dementen und vom Alkoholismus angesteckten Großmutter breitet Knausgard in für den Leser quälend langen, für ihn offenbar masochistisch genüsslichen Beschreibungen aus. Dass dies in Skandinavien, einer Region mit einer Tradition des Unter-dem-Deckel-Haltens und deckelhebender Künstler von Strindberg bis Bergmann und Enquist, einen Nerv trifft, ist nachvollziehbar.
Das Problem des Unternehmens ist allerdings, dass aus Stoff nicht von selbst Literatur wird und, um mit Goethe zu sprechen: Getretener Brei wird breit, nicht stark. Knausgard erscheint in seinem Roman als Person in verschiedenen Lebensaltern; als Sechsjähriger, als 16-jähriger, als Dreißig- und als 39-Jähriger. Zwischen diesen Inkarnationen des eigenen Ichs entwickelt sich aber keinerlei Spannung; alle treten mit derselben Direktheit auf, als gäbe es zwischen einem schreibenden und einem geschriebenen Ich keinerlei Unterschied. Weder zieht der erwachsene Autor dem jugendlichen Alter Ego einen zweiten reflektierenden Boden ein, noch vermag die Vergegenwärtigung der Kindheit jenen Zauber zu beschwören, von dem das Werk Marcel Prousts lebt.
Das ist natürlich ein unfairer Vergleich, den ich auch nie ziehen würde, wenn Knausgard dies nicht selbst regelrecht erzwänge: Nicht nur zitiert er den Franzosen als großes Vorbild, dessen Werk er regelrecht verschlungen habe; er spielt auch ganz bewusst auf die Konstruktion von Prousts "Recherche" an.
In der Mitte des Buches fällt ihm, in seinem Arbeitszimmer sitzend, auf, dass die Astlöcher im Holzfußboden sich zum Bild eines Christuskopfes mit Dornenkrone formen. Dies erinnert ihn an einen Moment in seiner Kindheit, als er im Meer ein Gesicht zu sehen glaubte. "Mit den Bildern", schreibt Knausgard nun, "stellte sich auch die Stimmung von damals ein, des Frühlings, der Siedlung, der siebziger Jahre, des Lebens in unserer Familie, wie es sich damals gestaltete." Das ist ein Remake der berühmten Madeleine-Episode, aber die Behauptung wird nicht eingelöst und zeigt schon in der Formulierung selbst, mit dem unbeholfen nachklappernden "wie es sich damals gestaltete", wie blass der Norweger neben dem Franzosen dasteht.
Bemerkenswert in dem Roman "Sterben" sind allenfalls die Passagen, die sich mit den üblichen Nöten eines 16-Jährigen befassen. Sowas liest man ja immer gern, vor allem wenn die eigenen Pubertäts-Nöte entsprechend weit zurückliegen, als da sind: Wer bin ich eigentlich; was ist mein Status in der Clique; wie komme ich an Mädchen ran?
Knausgard kann mit etlichen schönen Detailbeobachtungen aufwarten, vor allem, was die feinen Unterschiede zwischen Peer-Groups und innerhalb von Peer-Groups angeht. Höhepunkt - oder vielmehr ein recht flachgewalzter Höhenzug - der Jugendgeschichte ist die Silvesterparty beim Jahreswechsel 1984/85, bei der fast die gesamte Energie des Helden dabei draufgeht, möglichst viel Bier zu kaufen und zum Ort des geplanten Besäufnisses zu bringen; beides war damals für einen 16-Jährigen streng verboten und der Vater, der sich zwar für seinen Sohn nicht die Bohne interessierte, hatte, wie Knausgard schreibt, "wenn es um Regelverstöße ging, einen sechsten Sinn". Es gelingt dem Jungen aber, die Biertüten an allen Aufpassern vorbeizuschleusen und sich den Inhalt recht hastig hinter die Binde zu gießen. Berauscht ist allerdings nur der Held, vielleicht auch der Autor; der Leser bleibt literarisch auf dem Trockenen.
Karl Ove Knausgard: "Sterben". Roman. Aus dem Norwegischen von Paul Berf. Luchterhand, München 2011. 576 Seiten, 22,99 Euro.