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Der russische Komponist Vsevolod Zaderatsky
Musik als Überlebensmöglichkeit

Die Musik des 1891 geborenen russischen Komponisten Vsevolod Petrowitsch Zaderatsky war bislang weitgehend unbekannt. Ein Teil entstand unter großen Entbehrungen in einem sowjetischen Straflager in Sibirien. Der Pianist Jascha Nemtsov hat jetzt in einer Welterstaufführung "24 Präludien und Fugen" von Zaderatsky auf CD eingespielt.

Von Yvonne Petitpierre |
    Der Musiker und Schriftsteller Jascha Nemtsov zu Besuch im Deutschlandradio-Funkhaus in Berlin
    Der Musiker und Schriftsteller Jascha Nemtsov zu Besuch im Deutschlandradio-Funkhaus in Berlin (Deutschlandradio/Maurice Wojach)
    Biografie und künstlerisches Vermächtnis von Vsevolod Petrowitsch Zaderatsky haben in die Musikgeschichtsschreibung noch keinen Eingang gefunden. Als lebenslang politisch unterdrückter und verfolgter Komponist hatte die Musikwelt und Öffentlichkeit nie eine Möglichkeit, seine musikalische Handschrift kennenzulernen. Ein Werk seiner über 300 Romanzen, unzähligen Lieder sowie zwei Opern wurde zu Lebzeiten weder gedruckt noch aufgeführt. Erstmals erklingt seine Musik 1953 auf seiner eigenen Beerdigung.
    Die späte und eher zufällige Entdeckung seiner "24 Präludien und Fugen" ermöglicht erstmals Einblicke in seine, sehr persönliche wie facettenreiche kompositorische Sprache. So wie Johann Sebastian Bach hat auch Zaderatsky hier sämtliche Grundtöne der Tonleiter jeweils ein Präludium und eine Fuge, sowohl in Dur als auch in Moll zugeordnet. Hören Sie jetzt zu Beginn "Präludium und Fuge Nr. 3 in G-Dur" - Jascha Nemtsov, Klavier.
    Präludium Nr. 3 in G-Dur, CD1, Track 5
    Fuge Nr. 3 in G-Dur, CD1, Track 6
    Am 21. Dezember 1891 wird Vsevolod Zaderatsky als Sohn einer Adelsfamilie im russischen Kaiserreich in Riwne, im Nordwesten der Ukraine geboren. Als Klavierlehrer des letzten Zarensohnes Alexeji Romanov in St. Petersburg ab 1915 gerät er für die zaristischen Feinde erstmals in den Fokus der Aufmerksamkeit und die Nähe zum Zarenhaus wird ihm wohl zum lebenslangen Verhängnis.
    Sein Kompositions- und Klavierstudium am St. Petersburger Konservatorium muss er schon kurze Zeit später unterbrechen, als er im Zuge des Ersten Weltkrieges in die kaiserliche Armee einberufen wird. Erst später setzt er seine Studien unter anderem bei Sergei Tanejew und Michail Iwanow fort und macht 1923 seinen Abschluss. Mit Alexander Skrjabin ist er freundschaftlich eng verbunden und entdeckt in ihm ein großes musikalisches Vorbild.
    In den folgenden Jahren bis 1926 konzertiert Zaderatsky noch regelmäßig und komponiert, wobei kein einziges Werk veröffentlicht wird. Er wird erneut verhaftet, ehe er drei Jahre später in Moskau leben darf. Dort schließt er sich wie Alexander Mosolov und Dmitri Schostakowitsch der Gesellschaft für zeitgenössische Musik an, die schließlich 1932 von den Kommunisten verboten wird.
    Dass heute Zaderatskys "24 Präludien und Fugen" für die Musikwelt erstmals zugänglich sind, ist dem Musikwissenschaftler und Interpreten dieser Aufnahme zu verdanken, Jascha Nemtsov. In Berlin wird er beauftragt, für die Zeitschrift "Osteuropa" einen Beitrag über Komponisten im sibirischen Gulag zu schreiben und stößt bei seinen Recherchen auf Vsevolod Zaderatzky. Ihm gelingt ein Kontakt zu dessen gleichnamigen 1935 geborenen Sohn, der in Moskau ebenfalls als Musikwissenschaftler lebt und wesentliche Informationen zu Leben und Werk seines Vaters liefern kann.
    Präludium Nr. 6, B-Moll, CD 1, Track 11
    Jascha Nemtsov, Jahrgang 1963 wird im sibirischen Magadan geboren und wächst in St. Petersburg auf. Am dortigen staatlichen Konservatorium schließt er sein Klavierstudium ab, ehe er 1992 seine internationale Karriere in Deutschland startet. Darüber hinaus arbeitet Nemtsov als Musikwissenschaftler und konzentriert sich dabei auf die Beschäftigung mit jüdischer Musik und seit 2013 unterrichtet er in Weimar an der Hochschule für Musik Franz Liszt, wo er den ersten Lehrstuhl für Jüdische Musik in Europa innehat.
    Die "24 Präludien und Fugen" von Vsevolod Zaderatsky vergleicht Nemtsov mit den gleichnamigen Werken von J. S. Bach und Dimitri Schostakowitsch und spricht von einer "Art persönlichem musikalischem Kosmos". Hörbar wird eine Vielzahl musikalischer Stimmungen, den jeweiligen Tonarten oft ganz entsprechend. Vermittelt werden vor allem musikalische Bilder zwischen Dramatik und Freude. Deutlich erkennbar die stilistischen Parallelen zum barocken Vorbild Bach und dessen "Wohltemperiertem Klavier".
    Die enge Verbindung mit traditionellen Klangwelten bleibt durchgehend erhalten, ebenso die formale Gestaltung in dreiteiliger Anlage. Auch die tonale Konzeption folgt dem klassischen Schema bei Bach und zahlreiche thematische Elemente entspringen unüberhörbar der barocken Affektenlehre.
    Dennoch entwickelt Zaderatsky im Rückgriff auf die Tradition eine sehr persönliche Klangsprache. Harmonisch setzt er immer wieder auf chromatische Momente, die den funktionalen Ablauf durchbrechen und kolorieren. Jascha Nemtsov gestaltet die Partitur sehr transparent und teilweise berührend zart.
    Fuge Nr.12 in G-Moll, CD 1, Track 23
    Was Zaderatskys "Präludien und Fugen" zu einer Besonderheit macht, ist die Tatsache, dass er als erster Komponist im 20. Jahrhundert die Bach’sche Tradition aufgreift, noch bevor 1950 Dimitri Schostakowitsch seinen gleichnamigen Werkzyklus schreibt.
    Entstanden ist der Zyklus zwischen 1937 und 1939, ausgerechnet in der Zeit seiner schlimmsten zehnjährigen Gefangenschaft im sibirischen Gulag. Ein Klavier stand nicht zur Verfügung, lediglich ein paar kleine Telegrammstreifen, karierte Blätter und ein Bleistift konnte sich Zaderatsky bei einem Wärter erbetteln. Einen Radiergummi durfte er nicht benutzen. Zaderatskys Sohn erinnert, dass er "ohne ein Recht auf Fehler" komponieren musste. Zudem war er verurteilt "ohne ein Recht auf Briefwechsel". Unvorstellbar, dass unter diesen grausamen Haftbedingungen und Umständen überhaupt ein solch ausdrucksstarkes, gut zweieinhalbstündiges Klavierwerk entstehen konnte, wohl ein Beleg für die Kraft von Musik als Überlebensmöglichkeit.
    Präludium Nr. 5 in D-Dur, CD 1, Track 09
    Zur Uraufführung kam der Zyklus im Juni 2015, 77 Jahre nach seinem Entstehen bei den 6. Internationalen Schostakowitsch-Tagen in Gohrisch durch Jascha Nemtsov. Kurz zuvor gab es eine Voraufführung in Moskau unter Mitwirkung von sechs Pianisten. Dort ist inzwischen auch das Notenmaterial im Druck erschienen.
    Jascha Nemtsov hat die musikalische Originalität des Werkes unmittelbar fasziniert. Ihn interessiert die musikalische Substanz und betont, dass er diesem Komponisten nicht so viele Jahre widmen würde, wenn er nicht überzeugt wäre, dass es sich hier um Musik von höchster Qualität handelt: "Ich betrachte diesen Komponisten als einen der ganz großen des 20. Jahrhunderts".
    Hören Sie abschließend Jascha Nemtsov mit Präludium und Fuge Nr. 23 in F-Dur.
    Präludium Nr. 23 in F-Dur, CD 2, Track 21
    Fuge Nr. 23 in F-Dur, CD 2, Track 22
    Erschienen ist die Doppel-CD vor Kurzem in der Reihe Profil beim Label Hänssler.

    Vsevolod Zaderatsky: "24 Preludes & Fuges", Jascha Nemtsov, Klavier
    rbb Kulturradio / Profil Edition Hänssler, zwei CD, PH 15028, LC 13287