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Der Sammler der Augenblicke

Metropoltheater-Chef Jochen Schölch hat gestern zusammen mit dem Maler und Autor Quint Buchholz dessen Bilderbuch "Der Sammler der Augenblicke" für sein Haus eingerichtet.

Von Rosemarie Bölts |
    Was für eine heile Welt! Da erzählt ein Mann mittleren Alters, wie er als kleiner Junge seine Nachmittage im Atelier des Malers verbrachte, der ein Jahr lang im selben Mietshaus wohnte. Er erzählt, sehr genau und schnörkellos, dass er täglich erst auf dem Holzfußboden vor, dann in dem "großen, roten Sessel" die spannenden Bücher verschlungen hat, die das Zimmer füllten. Und dass "Max", der Maler, lange ein großes Geheimnis um seine Bilder machte, weil, wie er dem Jungen erklärt hatte, "zu jedem Bild ein eigener, unsichtbarer Weg führt, den der Maler erst selber finden muss":

    "Und wenn er nicht weitermalen konnte, hat Max gesungen. Er stand in seiner verknitterten, schwarzen Leinenjacke am Fenster im Atelier und sang. Zwischen den Häusern auf der anderen Straßenseite konnte man das Meer sehen. Weit draußen, am Ende der Hafenmauer, begann der Scheinwerfer des Leuchtturms zu blinken. Man sah die Fähre, wenn sie zum letzten Mal vom Festland herüberkam. Sie zog eine dünne Rauchfahne über den Himmel, und eine Schar Möwen folgte ihr."

    Was für eine Zumutung! Da monologisiert der inzwischen erwachsene Junge über die vielen "Augen-Blicke", die sich in seiner Rückschau aneinander reihen. Schlimmer noch, die monologische Erzählung wechselt ab mit der endlos scheinenden, stummen Betrachtung der gemalten, fast naiv anmutenden Bilder des Autors und Malers Quint Buchholz, die in bewegten Videoinstallationen auf eine riesengroße Leinwand projiziert werden. Es passiert hier nichts, was man in einem Theaterstück erwartet. Das ist für manche Zuschauer wohl schwer auszuhalten, wie das ständige, laute Knacken eines Theaterstuhls hören lässt. Statt Handlung nur bildhafte Erinnerung. Statt theatraler Dynamik in kontroversen Dialogen antizyklische Entschleunigung mit spielerischer Akkordeonbegleitung. Statt Zoff, Rache, Trauma, oder was sich sonst noch Turbulentes auf Theaterbühnen abspielt, einfach nur: Kindheitsglück. Dafür blüht die Fantasie:

    "Ich ging durch rätselhafte Türen. Ich wandelte durch nächtliche Straßen. Ich stapfte neben Hühnern durch verschneite Landschaften. Lief mit den Clowns über Wiesen, und mit Pinguinen durch die Stadt. Mal war ich der König, mal das kleine Mädchen, wenn ich im Boot mit dem Löwen über die See fuhr."

    Schauspieler Gerd Lohmeyer ist die Idealbesetzung des erwachsenen Ich-Erzählers. Er packt die Schatzkiste der gesammelten Augenblicke so minimalistisch grandios aus, wie man es von ihm zum Beispiel in seiner Rolle als phänomenale "Lucie Cabrol", und wie man es überhaupt vom kleinen Münchner Metropoltheater mit seiner minimalistischen Ausstattung gewohnt ist. Vor der Leinwand verwandelt er sich in den - namenlosen - Jungen, indem er vor dem aufgeklappten Überseekoffer, vollgestellt mit Büchern, hockt - und schon sitzt er in der Bibliothek des Malers. Manchmal verschwindet Lohmeyer in der Bildleinwand, um zum Beispiel als lebendig gewordener "König" aus dem Boot mit dem Löwen wieder herauszutreten, die Leinwand wie eine Königsrobe locker um die Schultern gelegt.

    Man könnte zu dieser Inszenierung auch sagen: Als die Bilder des "Sammlers der Augenblicke", des preisgekrönten Illustrators, Malers und Kinderbuchautors Quint Buchholz laufen lernten. Welcher Mut des Regisseurs und Theaterchefs Jochen Schölch gehört dazu, ein durch und durch poetisches, stilles und in seiner malerischen Intensität magisches Bilderbuch in diesen Zeiten auf die Bühne zu bringen, eineinhalb Stunden lang, ohne Pause!
    Am Ende ist man wie benommen vor soviel heiler Welt. Ehe man sich aus der wehmütigen Seligkeit wieder in das Grauen und die Hektik des Alltags, draußen, begibt.