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"Der Scharia verpflichtet"

Der syrischen Opposition gelingt es nicht, ihre Reihen zu schließen. Umstritten ist vor allem die Rolle der islamistischen Muslimbrüder. Sie geben sich nach außen demokratisch und offen, leben aber selbst nach den strengen Gesetzen des islamischen Rechts, der Scharia.

Von Jan Kuhlmann |
    Kritiker werfen den Muslimbrüdern vor, sie schürten Spannungen zwischen den Konfessionen im Land und verhinderten so einen Sturz des Regimes. Der stellvertretende Vorsitzende der syrischen Muslimbrüder, Ali Saddredin al-Bayanouni, skizziert seine Vorstellungen Syriens nach einem Sturz von Diktator Bashar al-Assad.

    Ali Saddreddin Al-Bayanouni gehört seit mehr als 40 Jahren zur Führung der syrischen Muslimbrüder, bis 2010 stand er an ihrer Spitze. Al-Bayanouni ist Mitte 70, er trägt Brille und den kurzen Bart eines gläubigen Muslims, die Haare sind ergraut. Nein, sagt Al-Bayanouni, es sei falsch, dass die Muslimbrüder die syrische Opposition dominierten. Die Kritik schiebt er auf säkulare Konkurrenten der Islamisten:

    "Die jetzige Phase erlaubt keine Konkurrenz zwischen den Parteien. Wir müssen alle Hand in Hand arbeiten, um das Regime zu stürzen. Einige Säkulare fürchten den zukünftigen Einfluss der Muslimbrüder. Sie fürchten, dass sie selbst keine Basis unter den Syrern haben. Sie spüren, dass sich die Revolution dem Islam zuneigt. Deswegen versuchen sie, unsere Bewegung zu behindern."

    In Tunesien und Ägypten sind die Islamisten mittlerweile an der Regierung – das führt zu großen Problemen. In Kairo hatte sich Präsident Muhammad Mursi im vergangenen Jahr per Dekret weitreichende Vollmachten gegeben – für die Kritiker der Islamisten der Beweis, dass die Muslimbrüder keine Demokratie wollen. Al-Bayanouni widerspricht:

    "Wir wollen einen modernen, zivilen, demokratischen und pluralistischen Staat. Er gibt allen Syrern nach dem Staatsbürgerprinzip die gleichen Rechte und Pflichten. Er stellt Männer und Frauen gleich. Das ist kein Entgegenkommen von uns, sondern gehört zum Kern unserer islamischen Überzeugung. Der Islam steht für Freiheit, friedliche Koexistenz, Toleranz und Verständigung mit den anderen."

    Starke Vorbehalte gegen die Muslimbrüder sind vor allem unter den religiösen Minderheiten in Syrien zu hören, unter Christen, Alawiten und Drusen. Sie befürchten eine Dominanz des sunnitischen Islam. Viele sehen sogar ihr Leben in Gefahr, sollten Islamisten die Regierung übernehmen. Al-Bayanouni versucht, die Ängste zu zerstreuen:

    "Die Muslimbrüder akzeptieren keine Diskriminierung. Es gibt für uns keine Bürger erster und zweiter Klasse. Ein solches System hat das jetzige Regime geschaffen. Wir akzeptieren keine Ausgrenzung, alle sollen sich beteiligen. Das Staatsbürgerprinzip mit gleichen Rechten und Pflichten für alle ist die beste Lösung für die Probleme der Minderheiten."

    Al-Bayanouni macht für die Befürchtungen der Minderheiten das Assad-Regime verantwortlich – es schüre bewusst Ängste. Tatsächlich hat die Propaganda gegen die Muslimbrüder in Syrien eine lange Tradition. Die Organisation gründete sich Anfang der 1940er-Jahre nach ägyptischem Vorbild. Sie zeigte sich in den ersten Jahrzehnten gemäßigt. In den 70er-Jahren wagte sie immer stärker die Konfrontation mit dem Diktator Hafis al-Assad, dem Vater des heutigen Präsidenten. 1982 standen die Muslimbrüder in der Stadt Hama an der Spitze eines Aufstands gegen Assad – den der Machthaber brutal niederschießen ließ. Das Regime hetze gegen die Islamisten, erzählt die syrische Oppositionelle Sandos Sulaiman aus Berlin. Sie gehört selbst zur Minderheit der Alawiten und ist Mitglied einer säkularen Partei. Sulaiman erinnert sich an ihre Schulzeit in Syrien:

    "Ich hatte früher selbst Angst vor den Muslimbrüdern, weil ich geglaubt habe, was uns das Regime in den Schulen beigebracht hat, dass die Muslimbrüder uns alle töten wollen. Zweimal in der Woche mussten wir morgens, bevor wir in die Klassen gingen, Parolen gegen die Muslimbrüder rufen. Eine lautete: Die Muslimbrüder-Banden haben sich mit anderen gegen das Land verschworen."

    Doch die Vorbehalte gegen die Muslimbrüder sind nicht allein mit der Propaganda zu erklären. Besonders umstritten ist die Frage, welche Rolle die Scharia in Syrien haben soll. Säkulare Kräfte lehnen das islamische Recht ab – sie halten es für unvereinbar mit der Demokratie. Die syrischen Muslimbrüder dagegen bekennen sich zur Scharia, sagt Ali Saddredin Al-Bayanouni:

    "Wir Muslimbrüder sind der Scharia verpflichtet und arbeiten daran, sie umzusetzen – aber durch Dialog und mit demokratischen Mitteln. Wenn die Menschen ein Alkoholverbot per Gesetz wollen, dann ist das ihr Recht. Wenn sie es nicht wollen, bleibt das eine persönliche Angelegenheit. Wir werden keine Gesetze erlassen, die die Menschen zum Gebet oder zur Verschleierung zwingen. Es ist das Recht der Menschen, zu wählen, was sie wollen."

    Al-Bayanouni zeigt sich mit solchen Äußerungen als gemäßigte Stimme unter den Islamisten. Die Führung der Muslimbrüder sitzt jedoch seit Jahrzehnten im Exil, Al-Bayanouni lebt in London. Seit der Niederschlagung des Aufstands 1982 haben die Islamisten in Syrien selbst praktisch keine Organisation mehr. Die Bewegung ist groß und heterogen – welcher Flügel sich nach einem Regimewechsel durchsetzen würde, ist kaum absehbar. Möglicherweise wird die Exilführung an Einfluss verlieren, meint der syrisch-kurdische Oppositionelle Siamend Hajjo aus Berlin:

    "Bisher sind die entscheidenden Personen, die lange Zeit im Ausland gewesen sind. Und sollten sie tatsächlich an die Macht kommen, werden Leute im Land, die jetzt mit ihnen sympathisieren oder vielleicht im Geheimen Mitglieder der Muslimbrüder sind, diese Leute werden wahrscheinlich auch eine wesentliche Rolle spielen. Und die können natürlich radikaler sein. Und deswegen ist es schwer vorherzusagen, wie sie sich entwickeln werden."

    Eine Gefahr besteht dabei: Je brutaler der Konflikt noch wird und je mehr Einfluss die extremistischen Gruppen gewinnen, desto radikaler dürften sich auch die Muslimbrüder entwickeln.


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