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Thomas Hürlimann: „Der Rote Diamant“
Mitreißende literarische Schatzsuche

Philosophische Abenteuergeschichte und Bildungsroman in einem: Thomas Hürlimann erzählt in seinem herausragenden Buch „Der Rote Diamant“ vom Aufwachsen in einem Schweizer Klosterinternat und von Mythen, die stärker sind als die historischen Fakten.

Von Christoph Schröder |
Der Schriftsteller Thomas Hürlimann und das Buchcover "Der rote Diamant"
Ob Thomas Hürlimann im berühmten Schweizer Kloster Einsiedeln, das er als Schüler besuchte, einen Schatz gefunden hat, ist nicht belegt. Sein Roman "Der rote Diamant" vermischt auch sonst Autobiographisches mit wild Fingiertem. (Buchcover S. Fischer Verlag / Autorenportrait picture alliance / dpa | Urs Flueeler)
Im Spätsommer des Jahres 1963 wird der elfjährige Arthur Goldau von seiner Mutter als Neuankömmling in der Klosterschule der so imposanten wie düsteren Abtei Maria zum Schnee in den Schweizer Bergen abgeliefert. Trotz der Jahreszeit schneit es. Die Atmosphäre ist von einer bedrückenden, schmucklosen Leere. Ein Eindruck, der sich bei Arthur in den folgenden Jahren, die er dort verbringt, noch verstärken wird.

Skurrile Charaktere, scharf konturiert

In einem engen Raum warten Mutter und Sohn darauf, empfangen zu werden. Die beiden blicken aus dem Fenster in die Dunkelheit, als plötzlich eine imposante Gestalt vor ihnen steht, als sei sie aus dem Boden gewachsen: Ein blonder Hüne, nach Weihrauch duftend und nach Ziegen stinkend, gekleidet in die Kutte und die obligatorischen Sandalen der Mönche. An seinen riesenhaften Füßen fehlen mehrere Zehen. Man wird noch erfahren, woher diese Verstümmelung stammt. Das ist Bruder Frieder, der Präfekt des Klosters, über den in der Klostergemeinschaft die wildesten Gerüchte umgehen:
„Ursprünglich war er im Fleischteil der Küche tätig gewesen und hatte als Schlachter, wie die Küchengesellen schaudernd erzählten, manchen alten Ochsen mit dem Beil erschlagen. Wie er dann zu seinem Amt als Präfekt gekommen war, würde wohl immer ein Geheimnis bleiben. Er selbst behauptete, der Abt habe ihn ernannt, doch das wäre ein veritables Wunder gewesen – der Fürstabt befand sich seit Jahr und Tag im Zustand der Erloschenheit.“
Bruder Frieder, der Präfekt, ist nur eine der vielen scharf gezeichneten, zum Teil monströsen, zum Teil nur skurrilen Charaktere, die Thomas Hürlimanns neuen Roman bevölkern. Zu ihnen gehören auch der greise, demente Abt, dem sein Kammerdiener stundenlang die Trivialromane der „Jerry Cotton“-Serie vorliest. Aber auch das ist, wie sich später zeigen wird, nicht nur ein schrulliger Einfall, sondern ein wichtiges Detail, das Hürlimann in die überaus raffiniert gebaute Mechanik seines Romans integriert hat.

Exakt durchgearbeitete Motivketten

Hürlimann, der selbst in den 1960er-Jahren Schüler am berühmten Kloster Einsiedeln in der Nordschweiz war, vermischt Fiktion und autobiografisch Erlebtes zu einem furiosen, spannenden und buchstäblich brillanten Buch, das in seinen Motivketten exakt durchgearbeitet ist. Einer der Erzählstränge ist die Schilderung des Alltags im Kloster: der Kargheit, der Brutalität im Umgang mit den Heranwachsenden.
Hürlimann gelingen dabei immer wieder erschütternde Passagen. Der zweite Handlungsbogen wird durch Arhurs Beobachtungen eines Mitschülers angestoßen. Dieser leicht hinkende Junge, dem Arthur bald den Spitznamen „Viper“ gibt, erfüllt die Forderungen der Patres nach Unauffälligkeit, Entindividualisierung und Mittelmäßigkeit so perfekt, dass Arthur ihn im Auge behält:
„Seine Gewöhnlichkeit war eine perfekte Tarnung. Er nutzte seine Intelligenz, um sie zu verbergen – biblisch gesagt: Sein Licht brannte ausschließlich unter dem Scheffel.“

Der Rubin der Kleopatra

"Viper" ist auf der Suche nach einem Schatz. Der Rubin, der dem Roman seinen Titel gibt, soll angeblich bereits von Kleopatra getragen worden sein und sich zuletzt im Besitz des letzten Habsburger Kaisers Karl I. befunden haben. Bei dessen Restaurationsversuch im Jahr 1921 sei der Stein, so das Gerücht, über ein Bordell im ungarischen Ödonburg von einer obskuren Schauspieltruppe zurück in die Schweiz und ins Kloster Maria Schnee geschmuggelt worden.
Dass Zita von Bourbon-Parma dem Kloster Jahr für Jahr einen Besuch abstattet – auch die Schilderung dieser Besuche sind Glanzstücke des Romans – ist für "Viper" und Arthur der Beweis dafür, dass der Edelstein sich noch immer im Kloster befinden muss: „Am Hochfest von Mariä Unbefleckter Empfängnis war der Rote Diamant auf Lohengrins Schild in die Schweiz eingereist und im späteren Nachmittag im letzten kakanischen Stift untergetaucht. Aber wer hatte ihn hier empfangen? Wie erreichte er sein Versteck? Wo war er?“
Streckenweise ist „Der Rote Diamant“ ein spannender, philosophisch aufgeladener Abenteuerroman. Die komplexe Architektur des Klosters mit seinen geheimen Zu- und Aufgängen sind in das Suchspiel nach dem Stein ebenso eingebunden wie die religiösen Rituale im Kloster und die komplizierte Technik, mit der die heilige Schwarze Madonna, das Wahrzeichen der Abtei, gesichert wird.
Alles hängt in diesem Buch miteinander zusammen, und man kann nicht genug bewundern, wie Hürlimann hier den Überblick behält. Mythen sind innerhalb der Klostermauern lebendiger als die historische Wahrheit oder die Gegenwart. Beide aber branden mit Macht an das geschlossene, sich im Verfall befindliche Klostersystem an, nicht zuletzt als ferne Melodie: „The times, they are changing.“

Atemberaubend intelligente Literatur

Nach einem spektakulären Showdown lässt Hürlimann im Schlusskapitel seinen Protagonisten Arthur in einem Zeitsprung von mehreren Jahrzehnten nach Maria Schnee zurückkehren. In dem mittlerweile aufgelassenen und verfallenen Bau scheinen noch immer die Geister der Vergangenheit zu hausen:
„Schon kamen sie wieder, die klappernden Holzpantinen. Ich war sicher, dass das Klappern einem Traum entsprang, nicht der Realität - außer mir war niemand in diesem Gespensterreich. Niemand. Kein Mensch. Kein ehemaliger Pater, kein ehemaliger Zögling, und schlagartig setzten die Geräusche aus. Stille. Totenstille.“
Auch der sinistre "Viper" bekommt zum Abschluss noch einen bemerkenswerten Auftritt, bevor Hürlimann seinen Ich-Erzähler auf Reisen schickt - nach Rom, in den Vatikan. Es ist die letzte, folgerichtige Wendung in einem Buch, das man so schnell nicht vergessen wird: „Der Rote Diamant“ ist ein geradezu atemberaubend guter, hochintelligenter Roman, geschrieben von einem so reifen wie lebenserfahrenen Autor.
Thomas Hürlimann: „Der Rote Diamant“
Fischer Verlag, Frankfurt am Main
318 Seiten, 24 Euro